Die Rede von der Mittelschicht ist, ob man es will oder nicht, immer hoch politisch. Wer Mittelschicht sagt, hat dabei meist ein positiv aufgeladenes Bild vor Augen: die integrierte Gesellschaft, ein Modell sozialen Ausgleichs, eine wichtige Trägergruppe gesellschaftlicher Entwicklung und eine spezifische und die Gesellschaft stabilisierende Form der Lebensführung. Den sogenannten Oberschichten hingegen werden selten unabdingbare gesellschaftliche Funktionen zugeschrieben, und sie müssen sich ob ihres Reichtums und ihrer privilegierten Stellung oft an mittelschichttypischen Leitbildern messen lassen. Die sogenannten Unterschichten hingegen möchte man gerne vermeiden; ihnen sollte der Weg in die Mittelschichten offen stehen.
Den Mittelschichten wurde nicht immer eine rosige Zukunft vorhergesagt, wobei Marx als der prominenteste Pessimist gelten kann. Er glaubte, die Mittelschicht würde durch den Klassenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit zerrieben werden. Vor diesem Hintergrund gelten der rasante Aufstieg und die Expansion der Mittelschichten als Indizien für die gesellschaftliche Kapazität, die breite Masse der Gesellschaft an den Wohlstandsgewinnen teilhaben zu lassen. Sie sind der lebende Gegenbeweis, dass der Kapitalismus nicht notwendigerweise zur Verelendung der Massen und zur Bereicherung einiger Weniger führen muss. Stand in der Frühphase der Industrialisierung also die "Lage der arbeitenden Klasse" im Fokus der Aufmerksamkeit, so ist es nun die "Lage der Mittelschicht".
Hierzulande ist die Mittelschicht zur "Chiffre für die aufstiegsorientierte und durchlässige Nachkriegsgesellschaft" geworden. Der von Helmut Schelsky geprägte Begriff der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" gilt vielen sogar als Signum dafür, in einer von der Mitte dominierten Gesellschaft angekommen zu sein. Mit der wachsenden Bedeutung mittlerer Soziallagen, so heißt es bei Schelsky, verbreite sich ein Sozialbewusstsein jenseits der gesellschaftlichen Grundspannung zwischen Oben und Unten und das Gefühl, man könne "in seinem Lebenszuschnitt an den materiellen und geistigen Gütern des Zivilisationskomforts teilnehmen". Letztlich ist es die Verschränkung von marktwirtschaftlicher Verfassung, demokratischer Teilhabe und staatlicher Daseinsvorsorge, die dazu führte, dass eine "Mehrheitsklasse" derer entstand, die erwarten durften, an den Segnungen des wirtschaftlichen Wachstums teilzuhaben. In allen westeuropäischen Gesellschaften sind heute die mittleren sozialen Lagen quantitativ bedeutsamer als die Ränder, und es gibt eine soziale und kulturelle Dominanz von Wertvorstellungen, die in den Fraktionen der Mittelschicht ausgebildet und gepflegt werden. Dies nicht nur, weil es ihnen gelang, die eigene sozioökonomische Position zu stabilisieren und auszubauen, sondern auch, weil sie die Architektur wichtiger Institutionen entscheidend beeinflussten, weil ihr Muster der Lebensführung eine Leitfunktion übernahm und weil sie Träger gesellschaftlicher Reform- und Wandlungsprozesse waren.
Vielfach wird davon ausgegangen, dass eine von breiten mittleren Lagen und eher geringen Klassenunterschieden geprägte Gesellschaft auch andere vorteilhafte Merkmale auf sich vereint – im Hinblick auf die rechtsstaatliche Entwicklung, Wirtschaftswachstum, allgemeines Bildungsniveau, die Entwicklung öffentlicher Infrastrukturen, die Qualität demokratischer Institutionen und das Niveau politischer Partizipation. In der modernisierungstheoretischen Lesart ist die Mittelschicht ein wichtiges Korrelat solcherlei wünschenswerter gesellschaftlicher Charakteristika, Fortschritt und Modernität eingeschlossen. Einige Ökonomen beobachten dementsprechend einen Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Mittelschichtsgröße, wobei die Mittelschicht nicht nur Folge von Wachstum ist, sondern dieses auch hervorrufen und stabilisieren kann, beispielsweise durch Konsum, Humankapitalinvestitionen und Arbeitsmotivation. Auch in der Diskussion um Modernisierung und Demokratisierung wird der Mittelschicht eine wichtige, wenn nicht gar die zentrale Rolle zugeschrieben. Einer klassischen These von Seymour M. Lipset zufolge verbreitert sich durch ökonomisches Wachstum die Gruppe derjenigen, die zur Mittelschicht hinzugerechnet werden können. Die Sozialstruktur wird von einer Pyramide zu einer Raute oder einer Zwiebel. Mit dem Wachstum der Mittelschicht ist eine Steigerung des allgemeinen Bildungsniveaus verbunden, was wiederum zu positiven Effekten auf die Demokratieentwicklung führe, denn je gebildeter die Bevölkerung, desto größer die Kompetenz für politische Beteiligung und ihre Anspruchshaltung gegenüber demokratischen Elementen der Politik. Auch sah er die Mittelschicht als relativ tolerant, moderat in ihren politischen Ideologien und relativ immun gegenüber demagogischen Verführungen.
Definitionsangebote
Vor diesem Hintergrund lohnt es sich zu fragen, was eigentlich die Mittelschicht beziehungsweise die Mittelschichten kennzeichnet. Auf diese Frage sind einfache Antworten allerdings nicht zur Hand, da es keine allgemein geteilte Definition der Mittelschicht gibt, sondern sehr unterschiedliche Annäherungen. Eine bei Ökonomen weit verbreitete Abgrenzung der Mittelschicht bezieht sich auf das Einkommen und rechnet alle Personen mit einem äquivalenzgewichteten Haushaltseinkommen zwischen 70 und 150 Prozent des mittleren Einkommens (Medianeinkommen) dazu. Die Gewichtung wird vorgenommen, um eine Vergleichbarkeit zwischen unterschiedlichen Haushalten herzustellen. Der Median ist der Wert der Einkommensverteilung, der die gesamte Bevölkerung in eine obere und eine untere Hälfte teilt. Entsprechend einer solchen Abgrenzung kann man in Deutschland etwa 58 Prozent (etwa 47,3 Millionen Menschen) der Bevölkerung zur Mittelschicht zählen, wobei man im engeren Sinne eher von der Einkommensmittelschicht sprechen sollte.
Die einkommensfokussierte Sicht lässt aber vieles außen vor, was man zur Beschreibung der Mittelschicht als sozialstrukturelle Großgruppe benötigt. Die dort vorgenommenen Abgrenzungen sowohl nach oben wie auch nach unten sind künstlich und nicht zwingend mit den tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten der Gruppen verknüpft, die auch durch Lebensweise, familiäre Herkunft und Unterstützungsnetzwerke, soziale und berufliche Positionierung oder, wie bei Studenten, auch zukünftige Lebenschancen bestimmt werden. Deshalb ist es angeraten, es nicht bei dieser engen definitorischen Bestimmung zu belassen und weitere Merkmale zur Beschreibung der Mittelschicht hinzuzuziehen.
In wichtigen soziologischen Großtheorien nimmt die Mittelschicht keine sehr prominente Rolle ein. Marx kennzeichnete das Kleinbürgertum zwar als eigene Klasse, sah es aber nicht als Fixstern zukünftiger gesellschaftlicher Entwicklungen. In dem von ihm prognostizierten Zweiklassenkapitalismus wird ein Großteil der kleinen Handwerker und Händler proletarisiert, nur ein kleiner Teil schafft es, in die Klasse der Kapitalisten aufzusteigen. Neomarxistische Analysen haben zwar der Mittelschicht auch in der kapitalistischen Sozialstruktur ihren Platz eingeräumt, weil Bildung und Qualifizierung, die Aufwertung von Tätigkeiten und die Entstehung mittlerer Positionen in der Wirtschaft gerade keine Klassenpolarisierung stattfinden ließen, aber eine Schlüsselrolle für die gesellschaftliche Entwicklungsdynamik mochten sie ihr nicht zugestehen. Man verstand sie letztlich als "widersprüchliche Klassenlage" oder Mischform, womit zwar eine vielfältigere Ausprägung sozialstruktureller Positionierungen anerkannt wurde, ohne aber eigenständige Merkmale und Konstitutionsprinzipien hinreichend herauszuarbeiten. Mit Weberschen Klassenkonzepten lässt sich demgegenüber schon besser argumentieren, dass wir es hier mit einer spezifischen Klassenlage zu tun haben. Max Weber fragt nach einer gemeinsamen ursächlichen Komponente der Lebensführung. Klassen sind bei ihm keine Gemeinschaften, sondern zuallererst bestimmte Marktlagen, die die Lebenschancen determinieren. So gesehen wäre für die Bestimmung von Mittelschichten relevant, auf welche Weise sie auf den Markt treten und ihre Erwerbschancen geltend machen. Hier spielen Bildung und Qualifikation, also im weitesten Sinne das akkumulierte Humankapital, eine wichtige Rolle.
Gemäß gängigen Schichtungstheorien sind soziale Schichten durch eine Reihe von objektiven Lagemerkmalen wie Beruf, Bildung und Einkommen, aber auch subjektive Charakteristika definiert. Allerdings gibt es auch hier keinen Konsens über die genaue Abgrenzung der Mittelschicht. Einerseits gibt es Autoren, die den Begriff der Mittelschicht vor allem für die qualifizierten und höher qualifizierten und in der Regel nicht-manuellen Erwerbstätigen im Dienstleistungsbereich reservieren, was Arbeiter und Personen in produzierenden und manuellen Tätigkeiten ausschließt. Andere Autoren gehen von einer umfassenderen Bestimmung der Mittelschicht aus, die auch Facharbeiter und qualifizierte Angestellte in der Industrie – also die "arbeitnehmerische Mitte" – einschließt, was angesichts der starken Rolle der deutschen Facharbeiterschaft auch gerechtfertigt erscheint.
Nähert man sich den Mittelschichten verstärkt mithilfe von auf Lebenswelt und Kultur ausgerichteten Konzepten, dann treten Mentalitäten, Orientierungen und Werte in den Vordergrund. Was kann man nun sagen, wenn man die Mittelschicht primär durch die kulturalistische Brille betrachtet? Die Kultur der Mittelschicht speist sich historisch aus der bürgerlichen Kultur, die für Werte wie Respektabilität, Pflichterfüllung, Familiensinn, Ordnung und Stabilität und kulturelles Interesse steht. Prägend sind bestimmte Vorstellungen des privaten und öffentlichen Lebens, in denen Selbstständigkeit, methodische Lebensführung, allgemeine und fachliche Bildung sowie Leistungsorientierung ihren festen Platz haben. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam es vor allem über den Konsum, die Massenkultur, den Wertewandel und die Demokratisierung der Gesellschaft zu einer grundlegenden Veränderung der Rolle der bürgerlichen Kultur. Erstens breiteten sich die bürgerlichen Wertvorstellungen weiter aus und drangen auch in die Ober- und Unterschichten ein. Zweitens kam es zu einer "Entbürgerlichung" der gesellschaftlichen Mitte, indem neue Werte hinzutraten und die alten relativierten. Neue Geschlechtermodelle, postmoderne Werte und die Ökologiebewegung sind in der Mittelschicht entstanden, zugleich haben neue Formen von Individualismus, Flexibilität und Wettbewerblichkeit in der Mittelschicht Fuß gefasst. Heutzutage ist die Mittelschicht keine kulturell homogene Fraktion; vielmehr gibt es ein Nebeneinander unterschiedlicher Fraktionen und Milieus mit je eigenen Lebensstilen, Werten und Lebensweisen.
Fragt man nach dem Zusammenspiel von Sozialstruktur und Kultur, dann ergibt sich ein mittelschichttypischer Nexus zwischen der Ausstattung mit Ressourcen und einem spezifischen Lebensführungsmodus. Gemein ist den heutigen Fraktionen der Mittelschichten, dass sie über eine bestimmte mittlere Ausstattung an kulturellem und ökonomischem Kapital verfügen, also etwas zu gewinnen, aber auch etwas zu verlieren haben, was sie dazu anhält, mit diesen Kapitalien achtsam umzugehen und sie immer wieder zu erneuern und zu investieren. Das Bestreben, durch soziale Praktiken den eigenen Status mindestens zu erhalten, wenn nicht zu verbessern, lässt sich auch als "investive Statusarbeit" beschreiben. Typisch für dieses Lebensführungsmodell sind auch ein Leistungsethos und der Planungsimperativ, der sich in den unterschiedlichen Lebensbereichen und in der biografischen Orientierung wiederfinden lässt.
Rückblick: Aufstieg und Expansion der Mittelschicht
Wenn man nun historisch auf die Formierung der Mittelschicht schaut, dann lässt sich feststellen, dass wir es nicht nur mit einer einfachen Ausdehnung, sondern auch mit einem profunden sozialstrukturellen Wandel zu tun haben. Mit dem Ableben der ständisch geprägten Gesellschaft und dem Aufkommen einer vor allem städtisch geprägten Gruppe der Bürger, die sich einerseits vom Adel und andererseits von den besitzlosen Unterschichten abhob, entstand die sozialstrukturelle Kategorie des Bürgertums, die sich wiederum in das Wirtschaftsbürgertum und das Bildungsbürgertum teilte. Das Wirtschaftsbürgertum umfasste die Gruppen der Handwerker, Kaufleute und Gewerbetreibenden, die schon im Mittelalter einen eigenen Stand gebildet hatten und stark durch Strukturen korporativer Zugehörigkeit abgesichert wurden. Das Bildungsbürgertum bestand hingegen aus akademisch gebildeten Personen, Beamten und den freien Berufen und war weniger über den Besitz an Produktionsmitteln und wirtschaftliche Aktivitäten geprägt als durch Bildung und kulturelle wie politische Definitionsmacht. Diese beiden Gruppen, das Bildungsbürgertum und das Wirtschaftsbürgertum, würden wir heute als obere Mittelschicht oder sogar Oberschicht klassifizieren.
Mit der Expansion der Mittelschicht seit dem späten 19. Jahrhundert wurde ihr ursprünglicher Kern marginalisiert, neue Professionen, Gruppen von Angestellten und qualifizierten Beschäftigten sowie weitere "gebildete Klassen" traten hinzu. Ihr quantitatives Wachstum verdankten sie Prozessen der Modernisierung, Industrialisierung und Bürokratisierung, die einen berufsstrukturellen Wandel auslösten und die Nachfrage nach technisch geschultem und gebildetem Personal erhöhten. Was Lebensführung und Alltagsorganisation anging, waren die Angestellten eher an bürgerlichen Gruppen denn am proletarischen Lebensstil orientiert, auch wenn Angestelltenarbeit vielfach von Routinetätigkeiten bestimmt war und sich Existenzunsicherheiten hielten. Das Wachsen des Dienstleistungssektors, die Zunahme an Schriftlichkeit, komplexer werdende organisatorische Abläufe und die immer größere Bedeutung der Staatstätigkeiten trugen das ihre dazu bei, immer weitere Aufgabenprofile und typische Beschäftigungen auszuprägen. Die neue Zwischenschicht der "Weder-Kapitalisten-noch-Proletarier" wuchs auch im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts immer weiter, während sich die klassische Arbeiterschaft zahlenmäßig auf dem Rückzug befand.
Die Periode nach dem Zweiten Weltkrieg war für die meisten westeuropäischen Länder eine des Ausnahmewachstums, verursacht durch nachholende Entwicklungen gegenüber den USA, die Herausbildung der "sozialen Marktwirtschaft" und die Reorganisation der Weltwirtschaft durch das Bretton-Woods-System. So betrug das durchschnittliche jährliche Wachstum der westeuropäischen Volkswirtschaften in den 1960er Jahren zwischen fünf und sieben Prozent. Dieses kam nicht nur kleinen Gruppen an der Spitze der Hierarchie zugute, sondern strahlte auf die gesamte Gesellschaft aus. In der spezifischen Konstellation des Westeuropas der Nachkriegszeit verschoben sich auch soziale Kräfteverhältnisse zugunsten der Arbeitnehmer und ihrer Interessenorganisationen, und Kapitalinteressen wurden eingehegt. So gründete sich der keynesianisch geprägte "mid-century social compromise" auf eine relativ ausgeprägte Wachstumsperiode, die Etablierung der Institutionen wohlfahrtsstaatlicher Solidarität und die Paktierung der unterschiedlichen Interessen von Kapital und Arbeit. Vor allem in dieser Zeit verschoben sich auch die ursprünglich markanten Bruchlinien zwischen Angestellten und Arbeitern, weil sich einerseits die Sonderstellung der Angestellten in arbeits- und sozialrechtlicher Hinsicht abschwächte, andererseits auch die qualifizierte Facharbeiterschaft Statusgewinne verzeichnen konnte. Im Hinblick auf Lohn- und Einkommensunterschiede, Konsummuster, soziale Sicherheit, Selbstverständnis und Lebensstil ist der Graben zwischen dem Facharbeiter- und dem Angestelltenmilieu heute kaum noch erkennbar. Spätestens ab Mitte der 1980er Jahre konnte man allerdings faktisch in fast allen westeuropäischen Ländern deutlich mehr als 50 Prozent der Bevölkerung in der Mittelschicht verorten.
Dazu trug auch die Abmilderung von Vermögens- und Einkommensungleichheiten bei. Die berühmte Kuznets-Kurve ging zunächst von einer Verschärfung der Einkommensungleichheit zu Beginn der Industrialisierung mit großen Akkumulationsgewinnen für einige Wenige aus, die sich dann in Richtung Einkommensnivellierung umkehren sollte. Insbesondere der zweite Teil der Entwicklung ist durch Daten recht gut belegt: So zeigt der Historiker Hartmut Kaelble für Dänemark, Westdeutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, Norwegen, Österreich und die Schweiz eine deutliche Abmilderung der Ungleichheiten bis in die 1970er Jahre hinein. In diesen Ländern schrumpfte der Anteil der obersten zehn Prozent der Einkommensbezieher am Gesamteinkommen erheblich, was im Umkehrschluss heißt, dass die unteren und mittleren Einkommensbezieher ihren Anteil am Kuchen vergrößern konnten. Die größte Einkommensmittelschicht finden wir heute in den skandinavischen Ländern. Deutschland, die Niederlande und die Schweiz liegen im Mittelfeld, Großbritannien und die südeuropäischen Länder nehmen hintere Plätze ein. Einen Trend in Richtung Nivellierung gab es auch bei der Vermögensverteilung: Hier schrumpfte der Anteil der obersten ein Prozent oder der obersten fünf Prozent am Gesamtvermögen (das aber insgesamt anstieg) von Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre zum Teil dramatisch. Ein Beispiel: In Schweden und Frankreich lag der Anteil der reichsten ein Prozent der Vermögensbesitzer am Gesamtvermögen vor hundert Jahren noch bei etwa 50 Prozent, während es dann in den 1970er Jahren nur noch 21 beziehungsweise 26 Prozent waren.
Krise der Mittelschicht?
Dieses Mittelschichtmodell hat über lange Zeit große Strahlkraft entwickelt, gerade weil es Teilhabe, Aufstiegsmöglichkeiten und Sicherheit versprach. Allerdings weisen neuere Untersuchungen auf Grundlage der einkommensbezogenen Mittelschichtsdefinition in eine andere Richtung. Erstens sind die realen Einkommenszuwächse im mittleren Einkommensbereich in den vergangenen 20 Jahren eher moderat bis gering ausgefallen. Zweitens hat sich der Einkommensanteil der so definierten Einkommensmitte im Vergleich der 2000er Jahre zur Mitte der 1980er Jahre verringert, während die oberen Einkommensbezieher ihren Einkommensanteil stark vergrößern konnten. Beobachtbar ist also, dass sich die Verteilung des Einkommenskuchens zugunsten der hohen Einkommen verschiebt und sich zudem der Abstand zwischen Mitte und Oben vergrößert. Drittens lässt sich ein "Schrumpfen" der Einkommensmitte konstatieren, das unmittelbar mit der Einkommensspreizung zu tun hat: Je größer die Einkommensungleichheit, desto kleiner ist die Einkommensmittelschicht. Wenn also die Größe der Einkommensmittelschicht und Ungleichheit sehr hoch korrelieren, dann bedeutet die wachsende Ungleichheit in den OECD-Ländern auch, dass die Mittelschicht zumindest statistisch schrumpft, wie dies für den deutschen Fall immer wieder mit großer und mitunter zu dramatisierender medialer Resonanz berichtet wurde. Feststellbar sind zudem eine relative Zunahme der Kapitaleinkommen im Verhältnis zu den Erwerbseinkommen und eine wachsende Vermögenskonzentration.
Betrachtet man die Mittelschichtindikatoren Bildung und Beruf, so ergibt sich ein etwas anderes Bild. Man sieht in allen westeuropäischen Ländern eine starke Anhebung des allgemeinen Bildungsniveaus und einen Rückgang des Anteils von Personen ohne schulischen oder berufsqualifizierenden Abschluss. Schon allein aufgrund des demografischen Wandels verringert sich der Anteil der Personen ohne oder mit geringer schulischer oder beruflicher Ausbildung, während der Trend zur Höherqualifizierung anhält. Nimmt man die Kombination aus Realschulabschluss und Berufsausbildung als untere Grenze, so zeigt sich für die Bundesrepublik, dass sich die Gruppe derer mit mittlerer und höherer Bildung von 1984 auf 2010 fast verdoppelt hat. Nach oben verschoben hat sich auch die Berufsstruktur mit einer Abnahme einfacher industrieller Tätigkeiten und einem Zuwachs an qualifizierten und höher qualifizierten Tätigkeiten, die als "typisch Mittelschicht" bezeichnet werden können. Fügt man nun alle drei Kriterien, also Einkommen, Bildung und Beruf zusammen, dann unterteilt sich die deutsche Sozialstruktur wie folgt: Zur Mittelschicht gehören etwas mehr als 60 Prozent der Bevölkerung, 6 Prozent kann man als Oberschicht und 32 Prozent als Unterschicht klassifizieren. Bis zur Jahrtausendwende gab es eine klare Expansion der sozialstrukturell bestimmten Mittelschicht, seitdem Stagnation beziehungsweise Sättigung. Die frühere Dynamik des Wachstums der Mittelschicht, die vor allem durch Zugänge aus den unteren Schichten zustande kam, ist zum Erliegen gekommen. Auch wenn es durch den berufsstrukturellen Wandel weiterhin eine generelle Höherbewegung gibt, nehmen die Chancen, von der Unterschicht in die Mittelschicht aufzusteigen, in den jüngeren Kohorten wieder ab, was sich durch Mobilitätsanalysen zeigen lässt. Zugleich verstärken sich die internen Differenzierungen in der Mittelschicht mit größeren sozialen Risiken und nur wenig Einkommenszuwächsen in der unteren Mittelschicht, also den einfachen Facharbeitern und Angestellten, und deutlich besseren Erwerbschancen bei den hoch Qualifizierten.
Für andere westliche Länder haben wir ähnliche Befunde, aber mit stärker negativen Entwicklungen von Stagnation bis hin zum sozioökonomischen Absacken der Mittelschicht. Neben Schrumpfung und ungünstiger Einkommensentwicklung im Vergleich zu den Oberschichten ist vor allem die strukturelle und auch viele Mittelschichtfamilien betreffende Arbeitslosigkeit ein sehr großes Problem. Hier gilt vor allem für junge Menschen, dass berufsqualifizierende oder hochschulische Bildungsabschüsse nicht automatisch den Weg in die Mittelschicht weisen. Diese Gruppen treffen auf neue Unsicherheiten am Arbeitsmarkt, und viele von ihnen können weder im Hinblick auf Beschäftigungssicherheit noch auf die Einkommensentwicklung an die vorhergehenden Kohorten anknüpfen. Vor allem für die südeuropäischen Krisenländer kann man mit Fug und Recht von einer lost generation sprechen.
Diese Befunde sind auch Anlass für die Frage, ob das bislang erfolgreiche Wachstums- und Teilhabemodell langfristig unter Druck gerät und die Mittelschicht an Boden verliert. Einiges deutet darauf hin, dass sie sich nicht mehr unisono als Gruppe in einer komfortablen und materiell abgesicherten Lebenslage beschreiben lässt. Es sind aber nicht nur Verteilungs- und Wohlstandsfragen, die sich hier stellen. Es lässt sich beobachten, dass es zahlreiche Irritationen gibt, die die Mittelschicht zweifeln lassen, ob ihr Modell der Lebensführung kulturell dominant bleibt und hinreichend gesellschaftliche Erträge abwirft. Zudem stellen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, wohlfahrtsstaatliche Restrukturierung, veränderte partnerschaftliche Aushandlungsprozesse, neue Unsicherheiten und soziale Risiken, forcierter Statuswettbewerb und alternative Modelle sozialen Erfolges Herausforderungen dar, die den Mittelschichten fortwährend Anpassungsleistungen abverlangen. Gegenwärtig ist unklar, auf welche Formen des gesellschaftlichen Ausgleichs, welche Ordnungsvorstellungen und welche institutionellen Arrangements sich die bislang erfolgreichen Praktiken der investiven Lebensführung verlässlich beziehen können und wie sich die "Lage der Mittelschicht" sowohl hierzulande wie auch in der gesamten westlichen Welt verändert.
Heraufkunft globaler Mittelschichten?
Bei allen kritischen Betrachtungen der Veränderungen der westlichen Mittelschichten sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass wir es im Weltmaßstab mit emerging middle classes oder neuen global middle classes zu tun haben. Leben wir nicht eher in einem "coming middle-class century", wenn man sich das Wachstum der Mittelschicht insgesamt anschaut? In der Tat gibt es hier eine große Dynamik, die mit wirtschaftlichen Wachstumsprozessen in Verbindung steht. Die Diskussion um die globale Mittelschicht fokussiert aber vor allem auf das Einkommen, weniger auf die oben angesprochenen sozialstrukturellen oder kulturellen Komponenten der Definition der Mittelschicht. In einem einflussreichen Artikel wählten die Wirtschaftswissenschaftler Branko Milanovic und Shlomo Yitzhaki die durchschnittlichen Einkommen von Brasilien und Italien als mittelschichtrelevante Einkommensgrenzen, was die Zugehörigkeit zur globalen Mittelschicht auf diejenigen begrenzt, die zwischen 12 und 50 US-Dollar am Tag (in Preisen von 2000) verdienen. Andere Autoren rechnen Menschen schon ab zwei US-Dollar am Tag zur Mittelschicht und machen damit die für Entwicklungsländer oft angewandte Armutsschwelle zur Eintrittsgrenze. Die von dem Ökonomen Martin Ravallion angegebene Obergrenze (also dort, wo die Mittelschicht aufhört) liegt mit 13 US-Dollar am Tag gerade einmal bei der Armutsschwelle der USA. Global gesehen lässt sich anhand dieser Abgrenzungen ein deutlicher Zuwachs des Anteils der Menschen konstatieren, die der Mittelschicht zugerechnet werden können (vor allem durch die Wirtschaftsdynamik in Ländern wie China, Indien und Brasilien); gleichzeitig gehört danach die große Mehrheit der Menschen in den Kernländern der OECD zur globalen Oberschicht, nicht zur globalen Mittelschicht.
Jenseits dieser eher ökonomischen Beschreibung gibt es allenfalls erste, unvollständige Analysen, die sich mit den Mustern der Lebensführung, Fragen der Verankerung der Mittelschicht in wichtigen gesellschaftlichen Basisinstitutionen, sozialen Praktiken oder der politischen Teilhabe beschäftigen. Auffallend ist zunächst, dass sich Konsumstile verändern, sich das Niveau materieller Aspirationen nach oben verschiebt und sich Bildungsinvestitionen steigern, weit weniger, dass konsequent demokratische Entwicklungsprozesse gestützt oder wohlfahrtsstaatliche Solidaritätsarrangements westlichen Zuschnitts eingefordert werden. In einigen Ländern ist die Mittelschicht bislang nicht zur Triebkraft der Demokratisierung geworden und weist eher eine Orientierung auf Stabilität im Sinne ihrer engeren ökonomischen Interessen auf. In anderen Ländern spielt die Mittelschicht beim Kampf gegen Korruption und für Rechtsstaatlichkeit eine Rolle (wie in Brasilien), allerdings ohne dass sich daraus eine stabile gesellschaftliche Form entwickelt hätte. Diese Prozesse sind aber keinesfalls abgeschlossen, sodass eine endgültige Bewertung nicht vorgenommen werden kann.
Darüber hinaus lässt sich durchaus eine Verbindung zwischen der Herausbildung globaler Mittelschichten und der Krise der westlichen Mittelschichten herstellen: Globalisierung und die Entfesselung von Marktkräften haben in wenig entwickelten Regionen dieser Welt Wachstum freigesetzt, aber gleichzeitig die Besitzstände der bislang privilegierten westlichen Mittelschichtgesellschaften angegriffen. Wenn man den Daten des Weltbankökonomen Branko Milanovic Glauben schenkt, sind die Globalisierungsgewinner vor allem die Mittelschichten Asiens und die Reichen dieser Welt. Die westlichen Mittelschichten hingegen verlieren und konkurrieren zunehmend mit den aufstrebenden Mittelschichten. Sowohl für die westlichen wie auch für die globalen Mittelschichten stellt sich damit die Herausforderung, ob es ihnen gelingt, auch globale Märkte einzuhegen und sozialen Ausgleich herzustellen und somit ihre eigene ökonomische und politische Position langfristig zu sichern.