Viele Beobachter sehen den Ursprung der Ukraine-Krise in der explosiven Entwicklung auf dem Kiewer Majdan im Winter 2013/14. Diese habe zum Regimewechsel in der Ukraine geführt, zur russischen Übernahme der Krim und letztlich durch die Kampfhandlungen in der Ostukraine zur anhaltenden Destabilisierung des Landes. Eine Abspaltung des Ostens, sogar sein Anschluss an Putins "Neues Russland", könne angesichts der militärischen Einflussnahme Russlands nicht mehr ausgeschlossen werden.
Dieses Bild vom russischen Präsidenten Wladimir Putin als rücksichtslosem Aggressor, der möglicherweise weitere Teile Europas erobern könnte, entbehrt nicht der Plausibilität. Aber reicht sie aus, um das russische Verhalten in der Ukraine-Krise vollständig zu erklären? Oder gibt es tiefer liegende Gründe, die Russlands Abkehr vom Westen und die neue imperiale Versuchung erklären? Haben Europa und die USA zu dieser Entwicklung beigetragen? Haben sie gar durch eigenes Fehlverhalten Russland zu Entscheidungen provoziert, die Putin bei einer anderen westlichen Russland- und Ukrainepolitik vielleicht unterlassen hätte?
Ursachen und Entwicklung der West-Ost-Spannungen
Die Zeitenwende um 1990 führte zu einer polarisierenden Machtverschiebung in Europa. Der Westen betrieb als logische Folge des Sieges über den Kommunismus eine Politik der Erweiterung von Europäischer Union und NATO, die sich allein schon aufgrund der dadurch vorangetriebenen Demokratisierung Osteuropas zu legitimieren schien. Selbst wenn von den Verantwortlichen in Washington, London, Paris und Bonn 1989/90 auf triumphierende Äußerungen verzichtet wurde,
Kein Wunder, dass die Erweiterung von EU und NATO aus russischer Sicht ebenfalls als imperial und Bedrohung der eigenen Interessen interpretiert wurde. Wann immer westliche Länder nach 1990 Moskau Zusammenarbeit anboten, ließen sie Russland im gleichen Atemzug spüren, dass sich Kritik an demokratiefördernder Politik per se verbiete. Diese Arroganz hat russisches Entgegenkommen nicht erleichtert, zumal bekannt ist, dass (ehemalige) Großmächte nach dem Verlust von Einfluss und Prestige alles daran setzen, möglichst bald wieder an vergangene Größe anzuknüpfen.
In dieser Phase ungewisser Entwicklung nahm der Westen zu wenig Rücksicht auf die außenpolitischen Befindlichkeiten und Sicherheitsinteressen Russlands, wie spätestens die Kosovo-Intervention und der Krieg der NATO gegen Serbien zeigten. Russland mahnte dann auch vergeblich an, das Anpassungsabkommen zum Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (A-KSE) von 1999 zu ratifizieren. Auch die Kündigung des ABM-Vertrages, der 1972 von den USA und der Sowjetunion zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen geschlossen worden war, durch die USA im Jahr 2002 vertiefte russische Sicherheitsbedenken. Entsprechend ging die neue russische Militärdoktrin von 2005 von mehr Unsicherheit aus. So warnte Putin 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz, dass er eine weitere Ausdehnung des Einflusses der USA, der EU oder der NATO in Richtung Russland nicht hinnehmen werde. Doch der Westen überging die Warnungen und setzte seine Politik der Erweiterung von NATO und EU nach Osten bis an die Grenzen Russlands fort.
Seit dem Ende der Sowjetunion hat die EU die Zahl ihrer Mitglieder mehr als verdoppelt. Ihre Wirtschaftskraft wurde zur größten der Welt, während Russland nur mühsam auf die Beine kam. Den Kooperationsangeboten des Westens stand Putin zunehmend zwiespältig gegenüber. Einerseits erhoffte er sich dadurch Modernisierung, andererseits befürchtete er Überfremdung, kapitalistische Ausbeutung und vor allem, dass der demokratische Bazillus sich auch in Russland festsetzen würde. Die alten ideologischen Denkmuster wirkten nach, neue Machtinstinkte waren erwacht. So war es nur konsequent, dass er zusehends demokratische Reformansätze kappte; "Revision" wurde zum Schlüsselbegriff seiner Politik. Zwar erkannte der russische Präsident, dass der Fortbestand der NATO unvermeidbar war. Doch eine Öffnung oder Erweiterung des Nordatlantikpaktes nach Osten widersprach russischen Sicherheitsinteressen völlig.
Im Westen war zu Beginn der 1990er Jahre zunächst von einer Erweiterung der NATO nicht die Rede. Die republikanische US-Regierung unter George Bush senior (1989–1993) stand solchen Ansinnen noch zurückhaltend gegenüber. Erst unter der liberal-internationalistisch ausgerichteten Regierung Bill Clintons (1993–2001) wurde die Erweiterung konkretisiert.
Putin ließ deshalb in einem Gespräch mit US-Präsident George W. Bush durchblicken, dass "die Ukraine, sollte sie in die NATO aufgenommen werden, aufhören werde, zu bestehen".
Russland und die Ukraine-Krise
Als im Winter 2013/14 die Proteste in Kiew dem Kreml signalisierten, dass in der Ukraine westlich-demokratische Kräfte an Einfluss gewinnen und nicht nur große Teile der ukrainischen Bevölkerung, sondern auch die herrschende Klasse der Oligarchen ihre Zukunft in Abkehr zu Russland suchen werde,
NATO-Osterweiterung, EU-Osterweiterung, Raketenabwehr sowie wachsende Bedrohung der eigenen autoritären Macht durch westlichen Einfluss förderten Putins autoritäre und antiwestliche Haltung. Als politische Alternative zum Westen initiierte er die "gelenkte Demokratie" und entwarf eine Vision vom "Neuen Russland" und von der "Eurasischen Union". Man kann bedauern, dass Putin vielfach Macht vor Recht setzt. Aber der Westen war naiv, wenn er glaubte, dass ein russischer Präsident tatenlos zusehen würde, wie in Kiew eine Regierung unterstützt wird, die die Einbindung der Ukraine in westliche Strukturen vorantreibt. Hinzu kommt, dass die Ukrainepolitik der EU weitgehend ohne Absprache mit Russland und ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen Verflechtungen der Ukraine betrieben wurde. Das Ziel der EU, die europäische Stabilitätszone um die Ukraine zu erweitern, wirkte auf Russland als geopolitisches Konkurrenzmodell zur russischen Zollunion. Nach der Entmachtung des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch im Februar 2014 sah sich Putin gezwungen, den weiteren Verlust von Macht und Einfluss zu stoppen. Durch die Annexion der Krim übernahm er wieder das Gesetz des Handelns, um eine weitere Ausdehnung der neuen westlichen Einflusszone zu verhindern.
Die moralische, rechtliche und politische Verurteilung von Putins aggressivem Verhalten ist verständlich. Aber moralische Entrüstung ist kein Ersatz für eine selbstkritische Bestandsaufnahme westlicher Europa- und Russlandpolitik. Internationale Politik, auch die europäische, folgt letztlich nicht moralisierenden Aufwallungen, sondern in der Regel den ehernen Gesetzen von Macht, Prestige, Einfluss und Interesse. Doch diese Lehren wurden im idealistischen Überschwang der 1990er Jahre vom Westen sträflich missachtet. Dabei war auch das Verständnis für die Ängste und Frustrationen der gedemütigten Russen verloren gegangen. In ihrem naiven Liberalismus verstiegen sich die Westeuropäer sogar in die Annahme, dass autoritäre Führer wie Putin über kurz oder lang selbst die Segnungen westlich-demokratischer Zivilisationskultur übernehmen würden. Doch Putin ist kein Jelzin und schon gar kein Gorbatschow, sondern ein autoritärer Herrscher, der aus seiner geistigen und politischen Distanz und zunehmenden Verachtung zu allem Westlichen keinen Hehl mehr macht.
Dazu hätte es nicht unbedingt kommen müssen. Gab es einen Zeitpunkt, zu dem Umkehr oder neue Verständigung möglich gewesen wäre? Darüber werden sich die Historiker in den kommenden Jahrzehnten noch streiten. Unstrittig ist jedoch, dass die Mehrheit der demokratischen Politiker im Westen in eine "Liberalismusfalle" gestolpert ist, als sie auch mit Blick auf Russland in den 1990er Jahren glaubte, dass auf Sturz und Niedergang autoritärer Regime nur Demokratie folgen könne. Schon nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches 1917 setzte der demokratische Westen auf den liberalen Politiker Alexander Kerensky, als dieser für einige Monate die Hoffnung auf eine demokratisch-parlamentarische Entwicklung Russlands personifizierte. Doch auch die Hoffnungen in den Kerensky der 1990er Jahre, Boris Jelzin, wurden enttäuscht; er wurde von Putin kalt entmachtet.
Putin ist nicht Lenin. Doch der Westen hat sich auch bei Jelzin verrechnet – genauso, wie er fälschlicherweise an eine "Umkehr" von Putin glaubte. Viel zu lange hat man in Brüssel, in Washington und in anderen europäischen Hauptstädten einer "strategischen Partnerschaft" oder einem weltfremden reset der Beziehungen mit Moskau das Wort geredet, obwohl Putin schon längst die Politik des Westens durchkreuzte. Im Falle Syriens gerierte er sich etwa geschickt als Verteidiger des Völkerrechts, und durch das Asyl, das er dem Whistleblower Edward Snowden gewährt, kann er sich erfolgreich als Ankläger der Geheimdienstpraktiken der USA und ihrer Verbündeten präsentieren. Schon Putins rücksichtslose Verteidigung eigener Interessen in Syrien (etwa durch die Verhinderung von UN-Sanktionen gegen das Assad-Regime) hätte dem Westen, besonders den USA, eine Warnung sein müssen.
Im Zuge der Ukraine-Krise dämmert den demokratisch-liberalen Politikern inzwischen, dass "die strategische Partnerschaft" mit Russland schon länger auf Missverständnissen beruht. Demokratische und autoritäre Politiker leben offensichtlich in unterschiedlichen politischen Welten und handeln nach unterschiedlichen Maßstäben. Das ist nicht neu, sondern war bekannter Alltag der West-Ost-Entspannungsdiplomatie. Nur machte man sich damals keine Illusionen über den diktatorischen Charakter des Sowjetsystems. Neu ist seit den 1990er Jahren, dass man im Westen glaubt, dass autoritäre Herrscher von ihrem Glauben abfallen und zu Demokraten mutieren. Es ist nicht Putin, der "in einer anderen Welt"
Unter Missachtung von Völkerrecht und den Prinzipien guter Nachbarschaft handelt Putin im Falle der Ukraine ganz nach der Logik von Macht, Interesse und Prestige. Das mag den liberalen Idealisten, die das Banner von Integration, Gewaltlosigkeit und Demokratie schwingen, nicht gefallen. Aber ihre Naivität entpuppt sich als eklatante Schwäche, die Putin geschickt auszunutzen weiß.
Die Misserfolge der westlichen "humanitären Interventionen" bei der weltweiten Verbreitung von Demokratie ermuntern Putin zusätzlich, den Westen in der Ukraine-Krise in seine Schranken zu weisen. Nach der völligen Überdehnung der Kräfte durch Interventionen vom Balkan bis Somalia, vom Irak bis Afghanistan, von Libyen bis Syrien ist der Westen erschöpft und kriegsmüde.
Ukraine-Krise als diplomatischer Testfall
Idealtypisch gesehen, könnten in solchen Verhandlungen folgende Entwicklungen und Szenarien ausgelotet werden:
Die Ukraine wird als souveräner Staat in der altbekannten Form und den alten Grenzen unter Einschluss der Krim wieder hergestellt. Dieses Modell ist vermutlich passé. Russland kann und wird die Krim nicht zurückgeben.
Es kommt zur Wiederherstellung der territorialen Integrität einer neutralen Ukraine, wobei die Krim bei Russland verbleibt. Dieses Modell ist vermutlich nur realisierbar, wenn Regierung und Parlament in Kiew auf eine NATO-Mitgliedschaft verzichten und von einer einseitigen Westorientierung und Assoziierung mit der EU wieder Abstand nehmen. Eine neutrale Ukraine könnte als Brücke zwischen West und Ost konstruktive Beziehungen zwischen den westlichen Demokratien und dem autoritären Russland fördern.
Eine föderative Ukraine mit vergrößerter Autonomie für den Osten ist ebenfalls denkbar, sofern sie neutralen Charakter hat und darüber hinaus den russischen Minderheiten und Russland selbst erhöhten Einfluss zubilligt.
Spitzt sich die Konfrontation zu – geht also die russische Intervention weiter, während der Westen die Sanktionen gegen Russland verschärft und Kiew weiterhin ermuntert, sich ausschließlich nach Westen auszurichten –, dann könnte das dritte Modell nicht ausgehandelte, sondern erzwungene Wirklichkeit werden: Russland könnte hart reagieren und die Teilung in eine westorientierte Westukraine und eine russlandorientierte Ostukraine vorantreiben. Die von den Separatisten ausgerufenen "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk würden dann vermutlich früher oder später der Russischen Föderation beitreten.
Nicht auszuschließen ist auch, dass darüber hinaus Russland seine Unterstützung für die Separatisten auch auf die Westukraine ausdehnt, um die gesamte Ukraine zu destabilisieren und möglicherweise sogar dem russischen Herrschaftsbereich einzuverleiben. In diesem Falle droht eine Eskalation zum Stellvertreterkrieg Russlands und der USA in der Ukraine.
Im Kern geht es heute um die Frage, ob die Ukraine Bestandteil des Westens wird oder ob sie eine von allen Seiten akzeptierte neutrale Brücke zwischen Ost- und Westeuropa werden kann – oder ob Putin inzwischen eine Teilung der Ukraine oder gar die dauerhafte Destabilisierung des gesamten Landes anstrebt. Derzeit erscheint es unwahrscheinlich, dass der Westen seine Maximalpositionen aufgibt oder dass Russland unter dem Druck westlicher Sanktionen die Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine einstellt.
Der russische Präsident steht vor der Wahl, entweder seine geostrategischen Gewinne durch eine Annexion der Ostukraine zu erweitern oder auf Druck des Westens eine Lösung mit neutraler Ukraine zuzulassen. Noch sieht es so aus, als glaube er, durch Konfrontation mehr gewinnen zu können als durch Kooperation. Doch darf die machtpolitische Entschlossenheit Putins nicht mit Stärke verwechselt werden. Russland ist schwach. Seine Wirtschaftsstruktur ist marode, und auch das autoritäre politische System ist nicht frei von Brüchen. Putin muss die Wirtschaft modernisieren, und das geht nur mit externer Hilfe. So könnten die westlichen Sanktionen letztlich doch Wirkung zeigen und ihn vielleicht zum Einlenken zwingen, auch wenn die Chancen hierfür nicht überschätzt werden dürfen. Für Putin hat die Ukraine deutlich höhere Priorität als für die USA und Europa,
Deutschlands Rolle
Im Konflikt um die Ukraine scheinen die Deutschen hin- und hergerissen zu sein: Einerseits schätzen sie den Wert der Westintegration für Sicherheit und Wohlfahrt, andererseits hat Deutschlands Rolle als "Brücke zwischen Ost und West" ebenso wie die tief verwurzelte Tradition deutsch-russischer Zusammenarbeit und "Seelenverwandtschaft" wieder an Bedeutung gewonnen.
Die deutsche Politik mit Blick auf Moskau und Kiew gleicht vor diesem Hintergrund einer schwierigen Gratwanderung. Auch in Kiew gibt es kaum "lupenreine Demokraten" als Partner. Das politische System der Ukraine ist korrupt und ineffizient. Die Eliten und Institutionen sind autoritär, weshalb zu befürchten ist, dass westliche Hilfe nutzlos versickert. Umso mehr hofft man nicht nur in Berlin, dass in der Ukraine durch die Wahlen im Oktober 2014 und durch Reformen das halbautoritäre Modell korrupter Clanwirtschaft abgelöst wird. Doch Skepsis ist angebracht. Schon 2006 mahnte Außenminister Frank-Walter Steinmeier: "Jede Regierung in der Ukraine hat die Verantwortung für möglichst konfliktfreie Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland. Im Dreieck EU–Russland–Ukraine müssen die drei Seiten möglichst gleich lang sein. Gestörte Beziehungen zwischen zwei dieser drei Partner destabilisieren die Region. (…) Alle drei Seiten müssen aufhören, in traditionellen Einflusssphären und in Kategorien geopolitischer Rivalität zu denken."
Im Übrigen liegt die völkerrechtliche Verantwortung zur Beilegung der Krise in erster Linie bei den USA, Russland, dem Vereinigten Königreich und der Ukraine. Sie haben sich 1994 im Budapester Memorandum für die Einhaltung von Frieden und Stabilität einer souveränen Ukraine verbürgt. Dafür gab die Ukraine die sowjetischen Atomwaffen an Russland zurück – ein schlechter Tausch, wie sich schon damals andeutete.
Wie schon in der Euro-Krise hat sich Bundeskanzlerin Angela Merkels Abneigung vor außenpolitischen Schnellschüssen vorerst auch in der Ukraine-Krise bewährt. Zusammen mit Steinmeier versucht sie eine weitere Eskalation zu verhindern, Putin in die Pflicht zu nehmen und den Westen auf eine gemeinsame und maßvolle Sanktionspolitik einzuschwören. Das ist nicht einfach angesichts der desolaten Verfassung des Westens. Europa ächzt unter der Euro-Krise, die Partner sind in mehreren Schlüsselfragen tief zerstritten, und in Washington werden in der Ukraine-Krise alte konfrontative Reflexe gegenüber Moskau wiederbelebt.
Die Sisyphus-Diplomatie Deutschlands bleibt angesichts der imperialen Entschlossenheit von Wladimir Putin, der Zerstrittenheit des Westens und der Unkalkulierbarkeit der Ereignisse in der Ukraine also mit großen Widrigkeiten konfrontiert. Berlin wird zu mehr Sanktionen gedrängt und dabei als engster Wirtschaftspartner Russlands erhebliche Kosten in Kauf nehmen müssen.
Fazit
Die Geschichte kennt genügend Beispiele dafür, dass Mächte, die zur Verteidigung ihrer geostrategischen Interessen zu großen Opfern bereit sind, schließlich obsiegen. Andererseits zeigt die Geschichte der Wirtschaftssanktionen, dass sie – geschlossen und konsequent angewandt – verheerende Folgen nach sich ziehen können. Soft power gemessen an good governance und zivilisatorischer Attraktivität bleiben im postmodernen Selbstverständnis richtungsweisend. Aber ohne die Fähigkeit und Entschlossenheit, auch hard power zur Stärkung der Diplomatie zu nutzen oder gar im Extremfall anzuwenden, bleibt Selbstbehauptung in Konflikten wie der Ukraine-Krise illusorisch.
Falls die Krise gar zu einer Teilung der Ukraine führen sollte, wären weitere Konflikte im postsowjetischen Raum, etwa in Moldau und Transnistrien oder in Aserbaidschan und Bergkarabach, nicht auszuschließen, denn auch dort fehlt dem Westen gegenüber Russland die Eskalationsdominanz.
Personen machen Geschichte, im Guten wie im Schlechten. Dem autoritären Realismus Wladimir Putins steht im Westen derzeit keine ebenbürtige Persönlichkeit gegenüber, die einen demokratisch fundierten Realismus in der Außenpolitik personifiziert und interessenbezogen eine Lösung der Krise sucht, die auch die Interessen Russlands berücksichtigt. Russland darf nicht weiter in die Enge getrieben werden. Glaubt denn im Westen ernsthaft jemand, dass nach wirksamen Sanktionen ein wirtschaftlich geschwächtes Russland und ein gedemütigter Präsident Putin zu mehr Zugeständnissen bereit wären? Zu einem Ausgleich, der für die Verbesserung der Beziehungen unabdingbar ist, tragen Sanktionen wohl kaum bei. Es bedarf wenig realpolitischer Fantasie, um zu erkennen, dass Europa sich keinen neuen Kalten Krieg leisten kann. Eine auf Neutralität ausgerichtete Verhandlungslösung in der Ukraine-Krise tut deshalb not. Der Westen braucht Russland als strategischen Partner in Europa, im Kampf gegen den Terrorismus, als Partner im gesamten Krisenbogen des Nahen Ostens, aber auch zur Bewältigung weiterer globaler Probleme.
"Erkenne die Lage und rechne mit Deinen Defekten. Gehe von Deinen Beständen aus, nicht von Deinen Parolen!"