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Russlands unkonventioneller Krieg in der Ukraine Zum Wandel kollektiver Gewalt

Hans-Georg Ehrhart

/ 15 Minuten zu lesen

Die Annexion der Krim und die verdeckte militärische Unterstützung der Separatisten in der Ukraine durch Russland sind Ausdruck "irregulärer" Kriegführung. Die Folgen für Europa sind kaum absehbar.

Die Annexion der Krim und die offene politische und verdeckte militärische Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine durch Russland haben den Westen überrascht. Trotz der Erfahrungen aus dem Georgienkrieg 2008 und des Wissens um Moskaus geopolitische Interessen in Europa tut sich der Westen schwer, auf diese Herausforderung angemessen zu reagieren. Dafür gibt es viele Gründe. Einer davon scheint die von Beobachtern konstatierte angeblich "völlig neue Art der Kriegführung" zu sein. Die Politik ist unsicher, wie sie damit umgehen und wie sie das Phänomen benennen soll. US-Präsident Barack Obama spricht von einem "feindlichen Eindringen" (incursion), andere nennen es "Aggression" oder "Invasion". Die NATO spricht von "hybrider Kriegführung", der russische Generalstabschef Waleri Gerassimow von "nichtlinearem Krieg". Das russische Vorgehen müsste eigentlich unter den US-amerikanischen Fachbegriffen "unkonventioneller Krieg" und "irregulärer Krieg" firmieren und ist so neu nicht. Die Erscheinungsformen dieser Kriege sind vielfältig und unterliegen einem steten Wandel. Mit dem Ukraine-Konflikt stehen diese Formen kollektiver Gewalt, die kaum absehbare Folgen für Europa haben, wieder auf der Tagesordnung.

Unkonventioneller und irregulärer Krieg

Im Kern handelt es sich bei einem unkonventionellen Krieg um einen verdeckten und in unklaren Gefechtslinien verlaufenden Gewaltkonflikt. Er wird von einem Staat durch die gezielte Unterstützung einer Aufstandsbewegung in einem anderen Staat betrieben, um dessen Regierung zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen oder sie zu stürzen. Der betroffene Staat betreibt dann Aufstandsbekämpfung, wobei die Aufständischen in der Regel als "Terroristen" bezeichnet werden, um sie zu stigmatisieren und ihrem Anliegen jegliche Legitimität abzusprechen. Der unkonventionell operierende Staat wiederum unterstützt die Aufständischen, wobei er dies meist möglichst verdeckt tut.

Bereits die Römer setzten das Mittel unkonventioneller Kriegführung erfolgreich ein, als sie im Zweiten Punischen Krieg Karthago durch das Schüren von Aufständen zu schwächen versuchten. König Ludwig XVI. von Frankreich unterstützte die amerikanischen Kolonisten mit Waffen, Geld und Ausbildung in ihrem Unabhängigkeitskampf gegen England. Während des Ersten Weltkrieges förderte England den Kampf arabischer Stämme gegen das Osmanische Reich. Die Beispiele für unkonventionelle Kriegführung durch Aufstandsunterstützung sind Legion. Wurde diese Form der Kriegführung früher meist im Rahmen regulärer Kriege angewandt, so galt es während des Ost-West-Konflikts, Letztere wegen einer möglichen nuklearen Eskalation zu vermeiden. Also verlegten sich die Protagonisten auf Subversion und Stellvertreterkriege in Entwicklungsländern. Das Ende des Ost-West-Konflikts sollte eigentlich, so die Charta von Paris 1990, in Europa ein "neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit" einläuten. Neben dieser positiven Entwicklung erlebten aber auch Formen unkonventioneller Kriegführung in Europa eine erste Renaissance. Die verdeckte militärische Unterstützung Kroatiens sowie der sogenannten albanischen Befreiungsarmee UÇK im Kosovo während der Balkankriege der 1990er Jahre durch die USA gehört ebenso dazu wie etwa die verdeckten Operationen Frankreichs und des Vereinigten Königreichs mit Spezialkräften im Libyenkrieg 2011. Deren Auftrag lautete: Versorgung der Aufständischen mit Aufklärung, Ausrüstung, Ausbildung und Führungsunterstützung.

Nach US-amerikanischem Verständnis ist unkonventionelle Kriegführung eine Form des irregulären Krieges, wie etwa Aufstands- oder Terrorismusbekämpfung, Stabilisierungs- oder Informationsoperationen. Irreguläre Kriegführung ist gemäß einer Direktive des US-Verteidigungsministeriums strategisch so wichtig wie die traditionelle Kriegführung. Sie zielt darauf ab, irregulären Bedrohungen durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure zu begegnen. Indirekte und asymmetrische Ansätze werden bevorzugt, aber das ganze Spektrum der Einflussmöglichkeiten genutzt: offene und verdeckte, militärische und zivile, diplomatische und wirtschaftliche, informationelle und propagandistische. Aber auch unkonventionelle Kriegführung geht von einem gesamtstaatlichen Ansatz aus, also vom Zusammenwirken verschiedener Ressorts.

Diese ganze Bandbreite unkonventioneller und irregulärer Kriegführung nutzte Moskau in der Ukraine. Die Annexion der Krim wurde durch ein groß angelegtes Ablenkungsmanöver eingeleitet, bei dem ohne vorherige Ankündigung große Teile der Armee in Alarmbereitschaft versetzt wurden und mehr als 150000 Soldaten eine Militärübung abhielten. Während Beobachter gebannt auf den westlichen und den zentralen Wehrbezirk schauten, verstärkte Moskau die in Sewastopol stationierten 10000 Soldaten bis Ende März 2014 um weitere 22000 Soldaten, darunter Spezialkräfte der Geheimdienste und des neu gegründeten Streitkräftekommandos für Sonderoperationen. Maskierte, aber diszipliniert und bestimmt auftretende Männer in Kampfanzügen ohne Hoheitsabzeichen – die "grünen Männchen" – waren immer dann präsent, wenn lokale prorussische Kräfte Gebäude des ukrainischen Staates besetzten. Die propagandistische Begleitmusik spielte das Lied von der autonomen Volksbewegung, die den Anschluss an Russland wolle, um der faschistischen Bedrohung aus Kiew zu entgehen. Den vermeintlich legalisierenden Schlusspunkt setzten ein kurzfristig abgehaltenes Referendum und der formale Beitritt der Krim zu Russland am 18. März 2014.

In der Ost- und Südostukraine gestaltete sich das Vorgehen Russlands ähnlich. Im Unterschied zur Annexion der Krim eskalierte der Konflikt hier jedoch zum Bürgerkrieg, der bis Ende September 2014 rund 3600 Menschenleben forderte. Die "grünen Männchen" agierten im Zusammenspiel mit lokalen bewaffneten Aufständischen hauptsächlich in den Gebietskörperschaften Donezk und Luhansk, wobei dieses Mal auch russische Freiwillige und Kämpfer aus dem Kaukasus, insbesondere dem russischen Geheimdienst GRU unterstellte tschetschenische Gruppen, mitwirkten. In der russischen Propaganda handelt es sich um Freiwillige, die für die "Selbstbestimmung der Russen" und gegen die "Faschisten" aus Kiew kämpfen.

Tatsächlich erhalten die Separatisten von Russland Führungsunterstützung und Ausrüstung, allerdings hat Moskau die beiden von den Separatisten deklarierten autonomen Volksrepubliken bislang nicht anerkannt. Nachdem die Aufständischen unter militärischen Druck der Ukraine gekommen waren, antwortete Moskau mit grenznahen Militärmanövern, um eine Drohkulisse aufzubauen, vermehrten Waffenlieferungen, um die Separatisten zu stärken, sowie mit unilateraler humanitärer Hilfe, um vom eigentlichen Geschehen abzulenken und Pluspunkte an der heimischen Propagandafront einzufahren. Zudem wurde eine weitere Front im Südosten der Ukraine eröffnet, um die Separatisten im Osten zu entlasten, sich einen Zugang zum Asowschen Meer zu verschaffen und vielleicht sogar eine Option für eine Landbrücke zur Krim zu ermöglichen. Wie viele russische Soldaten daran mitwirkten, bleibt dem Wesen des unkonventionellen Krieges entsprechend unklar. Während die NATO von 1000 spricht, gibt sich Moskau trotz zunehmender Indizien als neutraler Akteur.

Militärdoktrin und Militärreform

Unkonventionelle Kriegführung gehört nicht zum gängigen Repertoire der Bundeswehr, und irreguläre Kriegführung ist für die Bundesregierung bislang kein Thema. In den USA und in Russland denkt man jedoch anders. Hier wie dort wird unkonventionelle Kriegführung konzeptioniert, gelehrt, geplant und – wenn zur Erreichung eines strategischen Ziels als notwendig erachtet – auch praktiziert. So ist in US-amerikanischen Militärhandbüchern zu lesen, dass heikle Operationen im Rahmen unkonventioneller Kriegführung im 21. Jahrhundert relevanter sind denn je und dass sich die US-Streitkräfte in absehbarer Zukunft vor allem in irregulären Kriegen engagieren werden. Die neue russische Militärdoktrin bewegt sich auf einem abstrakteren Niveau, benennt aber als Charakteristika gegenwärtiger militärischer Konflikte unter anderem die Verbindung von militärischen und nichtmilitärischen Mitteln sowie die gestiegene Bedeutung des Informationskrieges, um politische Ziele entweder ohne Militäreinsatz zu erreichen oder diesen vorzubereiten.

Die Analyse der westlichen zivil-militärischen Aktivitäten in Libyen und Syrien sowie während der "farbigen Revolutionen" in Georgien 2003 und in der Ukraine 2004 führte zu der Feststellung, dass die Grenzen zwischen Krieg und Frieden undeutlicher geworden sind und sich die Regeln des Krieges geändert haben. Die von Generalstabschef Gerassimow daraus abgeleiteten Erkenntnisse lauten: größere Bedeutung nichtmilitärischer Mittel, größere Rolle asymmetrischer Aktionen, Verwendung von Präzisionswaffen, Nutzung von Spezialkräften und internen Oppositionskräften sowie die zentrale Bedeutung von Informationsoperationen. Gegen solche partiell neue Formen des Krieges will sich Russland einerseits schützen. Andererseits wendet es sie in der Ukraine erstmals in modernisierter Form an.

Aufbau und Ausbildung illegaler bewaffneter Gruppen auf seinem Territorium oder dem seiner Verbündeten stuft die Doktrin ebenso als militärische Bedrohung ein wie provokative Militärmanöver in Nachbarstaaten. Zu den legitimen Aufgaben der Streitkräfte zählt neben der Abwehr einer Aggression und Maßnahmen zur Friedenserhaltung auch der Schutz russischer Staatsbürger vor bewaffneten Angriffen außerhalb des Landes. Präsident Wladimir Putin präzisierte diesen Passus der Militärstrategie, indem er in seiner programmatischen Rede vor der russischen Botschafterkonferenz am 1. Juli 2014 mit Bezug auf "unsere Landsleute" in der Ukraine sagte: "Wenn ich von Russen oder russischsprachigen Bürgern spreche, beziehe ich mich auf die Menschen, die sich selbst als Teil der großen russischen Gemeinschaft verstehen. Sie müssen nicht unbedingt ethnische Russen sein, aber sie sehen sich selbst als Russen."

Russland hat zwar auch Erfahrung in verdeckter Kriegführung, war aber technologisch und doktrinär weniger darauf vorbereitet als die USA. Nach den negativen Erfahrungen des partiell mit unkonventionellen Mitteln geführten Krieges gegen Georgien 2008 leitete Moskau eine umfassende Militärreform ein, deren Ziel darin bestand, kleinere Einheiten zu schaffen, die leichter, flexibler und vernetzter in lokalen oder regionalen Konflikten operieren können. Reformen kosten aber Geld. Darum erhöhte Russland seinen Verteidigungshaushalt zwischen 2008 und 2013 von 61 Milliarden auf 85 Milliarden US-Dollar. Das bis 2020 laufende Zehnjahresprogramm für Rüstungsmodernisierung sieht Rüstungsausgaben von 700 Milliarden US-Dollar vor.

Mittlerweile wurden die über 200 Divisionen in 85 Brigaden umstrukturiert, die Militärbezirke von sechs auf vier zugeschnitten und die Landstreitkräfte von 400000 auf 270000 reduziert. Unangetastet blieben zunächst die luftbeweglichen Einsatzkräfte, die weiterhin aus vier Divisionen und einer Brigade bestehen. Dazu gehören auch die Spezialkräfte, die für besondere Aufgaben – also auch für verdeckte Operationen wie auf der Krim – zuständig sind. Diese Kräfte sind nicht dem Generalstab unterstellt, sondern dem militärischen Geheimdienst GRU, der die verdeckten Operationen in der Ukraine leitet. Wie diese Spezialkräfte mit dem neu eingerichteten Streitkräftekommando für Sonderoperationen interagieren, ist unklar.

Politisch-strategische Ziele

Unkonventionelle und irreguläre Kriegführung dienen in der Regel ebenso einem politisch-strategischen Ziel wie diplomatische und andere Maßnahmen. Im Falle des Gewaltkonflikts in der Ukraine verfolgen Russland und der Westen völlig unterschiedliche politisch-strategische Vorstellungen. Moskau denkt in der Logik des politischen Realismus, der auf Kategorien wie Macht, Einfluss und Gleichgewicht setzt. Es will die Ukraine so weit wie möglich im russischen Einflussbereich behalten und damit ihre Annäherung an die NATO verhindern. Die NATO-Erweiterung und die Verlagerung militärischer Infrastruktur an die Grenzen Russlands beschreibt es in seiner Militärstrategie als "größte externe militärische Gefahr". Zudem will Moskau das Projekt der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) umsetzen, die ohne die Ukraine signifikant weniger Gewicht hätte. Auch wenn die Mitgliedschaft Kiews in der EAWU momentan illusorisch ist, will Russland doch seinen Einfluss über den Osten des Landes wahren, vielleicht in der Hoffnung, dass sich die Lage in der ganzen Ukraine aufgrund der zu erwartenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verwerfungen langfristig zu seinen Gunsten ändert. Bis dahin könnte es die Bildung eines "Neurussland" genannten quasistaatlichen Gebildes unterstützen, ohne jedoch die formale Teilung der Ukraine voranzutreiben.

Russland geht es nicht nur um die Ukraine, sondern um seine Stellung in der Welt und um seine nationale Sicherheit. Sein Ringen um Status und vor allem sein Widerstand gegen eine von den USA dominierte Weltordnung findet durchaus die Unterstützung Chinas und anderer Mächte. In Europa sollten aus russischer Sicht zwei Zentren zu einer multipolaren Welt beitragen: Die EU und eine von Russland geführte EAWU einschließlich der Ukraine, Moldaus und Georgiens. Überwölbt würde das Ganze durch eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur. Der zweite Aspekt, die nationale Sicherheit, erfordert nach russischem geopolitischem Denken die Einbindung des "nahen Auslands", weil sie ein Mindestmaß an strategischer Tiefe gewährleistet und aufgrund der jahrzehntelangen ökonomischen und ethnischen Verflechtung notwendig erscheint. Russland hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass es ein Übergehen seiner Sicherheitsinteressen nicht einfach hinnehmen wird. Die Reaktion im Georgien-Konflikt 2008 war eine eindeutige Warnung. Man mag diese Haltung als altes Denken abtun. Es leitet aber die gegenwärtige politische Führung.

Der Westen denkt wiederum eher in den Logik des Liberalismus, der auf Kategorien wie Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit setzt. Das strategische Ziel des Westens ist Selbstbestimmung für die Ukraine und ihre Einbindung in den Westen. Was das genau heißt, ist umstritten. Eine Mitgliedschaft in der EU dürfte mittelfristig schon aus rein technischen Gründen nicht möglich sein. Gleichwohl hat Brüssel mit seinem Projekt der "Östlichen Partnerschaft" einen politisch-strategischen Weg eingeschlagen, der zumindest langfristig auf die Mitgliedschaft der Ukraine hinausläuft. Das entspräche auch dem Grundsatz, dass jeder europäische Staat, der die Werte der EU vertritt und materiell beitrittsfähig ist, prinzipiell Mitglied der EU werden kann. Das 2009 lancierte Projekt war auch eine Reaktion auf den Krieg in Georgien; Russland antwortete mit dem Projekt der EAWU. Das am 27. Juni 2014 in Brüssel unterzeichnete Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, Georgien und Moldau war der nächste Schritt in einem Wettlauf konkurrierender Integrationskonzepte.

Eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO steht bislang nicht auf der politischen Agenda, aber doch eine Annäherung, die auf eine De-facto-Mitgliedschaft hinauslaufen würde. Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 haben der französische Präsident Nicolas Sarkozy und Bundeskanzlerin Angela Merkel das Ansinnen von US-Präsident George W. Bush zwar verhindert, die Ukraine und Georgien in das Programm für eine künftige NATO-Mitgliedschaft aufzunehmen. Aber beiden Ländern wurde zugesagt, dass diese Tür offen bleibt, was Putin als militärische Bedrohung einstufte. Die Ukraine ist seit 1994 Mitglied der "Partnerschaft für den Frieden", die unter anderem das militärische Zusammenwirken in Manövern übt, seit 1997 existiert zudem die NATO-Ukraine-Kommission. Die grundsätzliche Offenheit für einen Beitritt bestätigte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen im Februar 2014 nach der russischen Annexion der Krim. Zudem sprachen die USA der Ukraine den Status eines major non-NATO-ally zu, der umfangreiche militärische und wirtschaftliche Unterstützung ermöglicht.

Die auf dem Gipfel in Wales im September 2014 beschlossenen Maßnahmen sollen das Sicherheitsgefühl der östlichen Mitglieder stärken, etwa indem die NATO ihre Präsenz in der Region erhöht, die strukturellen Voraussetzungen dafür verbessert und eine schnelle Eingreiftruppe aus Land-, Luft-, See- und Spezialkräften aufstellt. Das Bündnis will sich auch gegen hybride – also unkonventionelle und irreguläre – Kriegführung besser wappnen. Einerseits soll die Abschreckung verstärkt und die Geltung der Beistandsverpflichtung bekräftigt werden, andererseits soll ein Bruch der NATO-Russland-Akte vermieden werden.

Folgen für Europa: Was tun?

Unstrittig dürfte sein, dass die Protagonisten den Gewaltkonflikt früher oder später politisch lösen müssen. Das Problem ist, dass sie dafür auf einen gemeinsamen Nenner kommen müssten. Je länger das dauert, umso höher werden die Kosten für alle ausfallen. Angesichts der sich ausschließenden politisch-strategischen Ziele laufen beide Seiten Gefahr, gänzlich in eine Logik des Nullsummendenkens abzudriften, die Europa wieder zu teilen droht. Erschwerend kommt hinzu, dass zumindest Washington und Moskau der Ansicht zu sein scheinen, die Zeit arbeite für sie. Eine über die Bündnisverteidigung hinausgehende militärische Option hat der Westen sinnvollerweise ausgeschlossen. Durch weitere Wirtschaftssanktionen oder Gegenmaßnahmen der NATO würde sich die Eskalationsspirale wahrscheinlich weiter drehen. Warum sollte Moskau dann einlenken?

Gefördert wird diese negative Entwicklung durch alte und neue Formen unkonventioneller und irregulärer Kriegführung. Die Unterstützung der Reform der ukrainischen Sicherheitsorgane durch die NATO und die EU, die Lieferung militärischer Ausrüstung durch die USA und andere Staaten sowie die Gegenmaßnahmen der NATO dürften aus russischer Sicht ebenso dazu gehören wie aus westlicher Sicht die verdeckte russische Militärunterstützung der Separatisten und die Ausweitung des Konflikts auf die Südostukraine.

Die Folgen für Europa sind schwer abzusehen. Vielleicht haben jene recht, die 25 Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine neue Eiszeit zwischen dem Westen und Russland oder gar eine direkte militärische Konfrontation befürchten. Möglich ist aber auch eine lange Periode gleichzeitiger Konfrontation und Kooperation, die nicht zum heißen Konflikt führt, aber verdeckte Maßnahmen nicht ausschließt. Beide Optionen verheißen mehr Instabilität und sind wegen ihres inhärenten Eskalationspotenzials gefährlich. Für eine stabilere Regelung müssten die Hauptprotagonisten etwas tun, wozu sie noch nicht bereit sind: ihre jeweiligen politisch-strategischen Ziele und die eingesetzten Mittel infrage stellen.

Zu einer stabilen Lösung gehören vor allem Gewaltverzicht, Empathie und gemeinsame Verantwortung für die Sicherheitsgestaltung. Die wesentlichen Antriebskräfte dafür wären das Interesse an regionaler Stabilität und ökonomischen Vorteilen. Am Anfang stünde ein stabiler Waffenstillstand, gefolgt von vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen (VSBM) sowie Verhandlungen über die Regelung des Ukraine-Konflikts. Eine solche Regelung müsste sich auf einen Kompromiss stützen, der auf politischer Selbstbestimmung, territorialer Integrität und Bündnisfreiheit einerseits sowie wirtschaftlicher Unterstützung und Verflechtung andererseits basiert. Die Ukraine würde aufhören, Streitobjekt zu sein, und könnte trotz Westorientierung eine Brücken- oder Mittlerfunktion einnehmen. Die NATO-Staaten und Russland müssten die im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bereits existierenden Rüstungskontroll- und VSBM-Abkommen weiter entwickeln, sodass diese auch auf interne Konflikte und Operationen von irregulären Kräften anwendbar wären. Ziel sollte eine überprüfbare Konvention über das Verbot unkonventioneller und irregulärer Kriege sein.

Vielleicht ist die Entscheidung der EU, das Zollabkommen mit der Ukraine auf Eis zu legen und mit Russland in einen trilateralen Dialog darüber zu treten, ebenso ein erster Schritt in Richtung der skizzierten Konfliktlösung wie die Verabschiedung eines Gesetzes durch Kiew, das den beiden Donbass-Regionen eine zeitlich befristete Autonomie gewährt. Dieser politische Prozess dürfte zwar angesichts des bereits eingetretenen Schadens nicht zum Status quo ante führen. Er könnte aber zumindest den jetzigen unkonventionellen und irregulären Krieg beilegen und künftige Kriege in Europa – konventionelle, unkonventionelle, reguläre und irreguläre – verhindern.

Dr. phil., geb. 1955; Mitglied der Geschäftsleitung des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und Leiter des Zentrums für Europäische Friedens- und Sicherheitsstudien am IFSH, Birkenweg 28, 22880 Wedel. ehrhart@ifsh.de