In Saudi-Arabien müssen sich Frauen verschleiern. Ob Muslima oder nicht, Einheimische oder Ausländerin – Frauen sind dazu aufgefordert, außerhalb des Privaten die ‘abaya, ein schwarzes Ganzkörpergewand, zu tragen.
Was verrät dieses komplexe und widersprüchliche Bild über die Situation saudischer Frauen in Saudi-Arabien?
Ein Leben lang unmündig
Spricht man mit Frauen in Saudi-Arabien über ihre Ansichten zu ‘abaya und Verschleierung, so verweisen sie auf die relative Bedeutungslosigkeit von Kleidungsvorschriften im Vergleich zu anderen geltenden und die Geschlechterordnung betreffenden Gesetzen. Die saudische Gesellschaftsordnung wurde 1992 in einer Grundgesetzverordnung beschrieben, welche den Koran und die Prophetentradition (Sunna) als Verfassung und die Scharia als Rechtsrahmen des Landes proklamiert.
Befürworter des bestehenden Vormundschaftssystems verweisen darauf, dass dieses Frauen beschütze – ähnlich dem Sorgerecht in Deutschland, das als höchstes Prinzip das Wohl von Schutzbedürftigen verfolge. Seine Gegner kritisieren, dass saudische Frauen nur mit der Zustimmung ihres Vormunds eine Fülle von Grundrechten wahrnehmen können. Beispielsweise braucht eine Frau das Einverständnis ihres mahram, um einen eigenen Personalausweis zu beantragen, höhere Bildungseinrichtungen zu besuchen sowie für eine Vielzahl medizinischer Eingriffe. Frauen können ohne seine Unterschrift keine Verträge abschließen, zum Beispiel keinen Miet-, Arbeits- oder Handyvertrag. Nur mit seiner schriftlichen Zustimmung dürfen sie verreisen. Die Ungleichheit vor dem Gesetz, die das Vormundschaftssystem besiegelt, benachteiligt saudische Frauen im Erb- und Wirtschaftsrecht, in Scheidungsprozessen und in Sorgerechtsprozessen um ihre Kinder.
Diese lebenslange Entmündigung wird durch die wörtliche Auslegung eines unter muslimischen Gelehrten höchst umstrittenen Koranverses gerechtfertigt, der besagt: "Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie (von Natur vor diesen) ausgezeichnet hat."
Kulturgut Frau
Die rechtliche Bindung der Frau an ihren mahram gehört zu den Maßnahmen einer symbolischen Geschlechterpolitik, die sich bewusst "islamisch" geriert, jedoch vielmehr als ein wirkungsmächtiges Instrument der Herrschaftssicherung des Königshauses angesehen werden muss.
Dass die saudische Regierung durch eine gezielt "islamische" Regierungspraxis unter maßgeblicher Einbindung von religiösen Gelehrten Legitimität erfährt, geht auf eine historische Allianz zwischen politischer Führung und religiöser Doktrin im 18. Jahrhundert zurück.
Die politisch verordnete Segregation der Geschlechter und die Bindung der Frau an ihren mahram wirken sozialen Veränderungen entgegen und fangen eine häufig damit einhergehende gesellschaftliche Verunsicherung ab, indem sie ein als "traditionell" und "islamisch" inszeniertes Familienbild verordnen. Beispielsweise rechtfertigte in den 1960er Jahren König Faisal gegenüber Kritikern im Land die Einführung der Schulbildung für Mädchen im Königreich damit, dass sie Mädchen ermögliche, bessere Hausfrauen und Mütter zu sein, da ihre Bildung letztlich den Kindern der saudischen Nation zugutekomme. Die Inszenierung der "traditionellen" saudischen Familie, in der die saudische Frau auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter reduziert wird, verkennt die historische Tatsache, dass Frauen vor der Erdölrevolution unter anderem aufgrund der ökonomischen Notwendigkeit auch außerhalb des familiären Haushalts arbeiteten.
Ähnlich ausgelagert erfolgt die Überwachung der Geschlechterordnung und damit verbundener Normen wie das angemessene Verschleiern durch eine Sittenpolizei (hay’a), auch Religionspolizei genannt. Dabei handelt es sich komplementär zur zivilen Polizei um eine Art moralisches Organ, dessen Vorsitzender den Rang eines Kabinettsministers bekleidet. Aufgrund ihrer häufigen Übergriffe fördert sie gerade unter jungen Frauen eine Atmosphäre der Angst und Unsicherheit im öffentlichen Raum. Obwohl die tatsächliche Wirkungsmacht der Sittenpolizisten begrenzt ist und regional sehr unterschiedlich ausfällt, ist sie ein bedeutungsstarkes Symbol für die "islamische" Staatsführung der saudischen Regierung.
Staatliche Reformen im Kontext politischer Instabilität
Besonders in Zeiten großer gesellschaftlicher Veränderung und politischer Instabilität dient Geschlechterpolitik der saudischen Regierungsführung als ein wichtiges Instrument. Als Reaktion auf die heftige Kritik an der Verwestlichung der Königsfamilie und des saudischen Alltags, die 1979 in der Besetzung der Großen Moschee in Mekka gipfelte, verschärfte die Regierung ihre Geschlechterpolitik sichtbar, unter anderem indem sie Ausländerinnen verpflichtete, ihre Körper zu verschleiern. Ebenso reagierte König Fahd auf die Kritik am proamerikanischen Kurs der saudischen Regierung während der Golfkrise 1990 unter anderem mit einem demonstrativen Autofahrverbot für Frauen. Andererseits gab sich die Regierung unter dem internationalen Druck in Folge des 11. September 2001 prowestlich und dem "Kampf gegen den internationalen Terrorismus" zugewandt, indem sie gezielt in einen Reformdiskurs investierte, dessen Aushängeschild die Ausweitung der gesellschaftlichen Teilhabe von Frauen ist. Ähnlich reagierte das saudische Herrscherhaus auf den als Bedrohung empfundenen sogenannten Arabischen Frühling und präsentierte sich als "liberale" und "reformorientierte" Monarchie, indem es Frauen in den Schura-Rat, eine beratende Versammlung ohne (legislative) Machtbefugnisse, ernannte und ihnen die Beteiligung an den Gemeinderatswahlen 2015 in Aussicht stellte.
König Abdallah, seit 1995 de facto Herrscher über Saudi-Arabien, erscheint im Rahmen des Reformdiskurses der Regierung als liberaler Reformer und Emanzipator saudischer Frauen. Entgegen seinem Ruf sind die tatsächlichen Reformschritte, die im Namen des 91-jährigen, seit Jahren schwerkranken Königs angestoßen wurden, bislang größtenteils rein symbolischer Natur. Durch Initiativen wie eine Sitzung im Nationalen Dialogforum zu den Rechten und Pflichten der Frau 2004 hat sich das Regime des "Themas Frau" bemächtigt und diktiert die Leitlinien der Diskussionskultur. Im Rahmen von Reformmaßnahmen ernennt es bestimmte Frauen in auffallend sichtbare, symbolische Positionen, deren Funktion es ist, die Gesamtheit saudischer Frauen zu repräsentieren, ohne sie tatsächlich mit ausführenden Machtbefugnissen auszustatten. Diese "Vorzeigefrauen"
Innersaudische Diskurslinien in der Frauenfrage
Die saudische Regierung erlaubt zwar, die Frauenfrage zu diskutieren, zugleich setzt sie jedoch die Grenzen des Sagbaren, indem sie die Institutionen kontrolliert, in denen sie verhandelt werden darf, etwa die Presse, das Internet und die von ihr geschaffenen Menschenrechtsorganisationen.
Wenngleich der in Saudi-Arabien häufig verwendete Begriff "Frauenfrage" aus einem Diskurs stammt, der im 19. Jahrhundert in Europa maßgeblich von feministischen Bewegungen geprägt wurde, distanzieren sich saudische, insbesondere islamistische Akteure in der Regel von einer Bezeichnung als "feministisch", weil sie mit der ungewollten Übernahme westlicher Werte gleichgesetzt wird. Normativer Referenzpunkt in der Frauenfrage ist vielmehr der Islam.
Graswurzelinitiativen wie der Protest autofahrender Frauen kratzen am vorhandenen gesellschaftlichen Rollenbild der idealtypischen saudischen Frau als unmündiger Hausfrau. Ähnlich bemerkenswerte Initiativen mit weitreichenden Folgen sind beispielsweise die Forderung der seit 2005 zugelassenen Jurastudentinnen, als rechtmäßige Anwältinnen zugelassen zu werden; eine 2010 an den König gerichtete Petition für die Aufnahme von Studentinnen an der prestigeträchtigen König Fahd Universität, die Frauen für die Arbeit im Erdölsektor befähigen würde; private Frauenuniversitäten, die Frauen zu Ingenieurinnen und Architektinnen ausbilden – Bereiche, die bis vor kurzem Männern vorbehalten waren; und schließlich Frauen, die durch ihr Erscheinen bei Stadtverwaltungssitzungen in Jidda 2013 mehr weibliche Teilhabe an politischen Prozessen forderten.
Frauen äußern sich vornehmlich zu sogenannten Frauenthemen und Frauenrechten. Das gilt auch für den Bereich Kunst und Kultur, wo sich saudische Frauen in Literatur, Film und Malerei kritisch mit ihrem Leben im Königreich auseinandersetzen und Tabus und Missstände wie sexuelle Selbstbestimmtheit und häusliche Gewalt, die Abhängigkeit vom mahram und wirtschaftliche Existenzangst thematisieren. Umgekehrt diskutieren auch Männer über die Frauenfrage, und sei es, um ihre Solidarität zu bekunden. Aufgrund der ihnen auferlegten strukturellen Zwänge sind insbesondere Frauen von der schleichenden Verarmung betroffen, die zunehmend in der saudischen Gesellschaft um sich greift. Hohe Arbeitslosenzahlen bei stetig hohen Geburtenraten erlauben jungen saudischen Familien längst nicht mehr, auf das Einkommen von Frauen zu verzichten. Frauen drängen auf den Arbeitsmarkt und ergreifen Anstellungen, die noch vor kurzem undenkbar waren, etwa als Verkäuferinnen oder Journalistinnen.
Weibliche (Frei-)Räume und Mobilität
Die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt können zu einer Neuaushandlung von gesellschaftlichen Normen führen: Zum Beispiel haben sie Debatten darüber angestoßen, ob das Aufeinandertreffen von nichtverwandten Männern und Frauen (ikhtilat) nur dann unrechtmäßig sei, wenn eine Frau allein auf einen Mann in einem geschlossenen Raum (khulwa) trifft. Wie in keinem anderen Land ist der saudische Alltag durch eine Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum geprägt. Die rechtlich verordnete und gesellschaftlich sanktionierte Geschlechtertrennung wird aufgrund der Annahme durchgesetzt, dass das Aufeinandertreffen von Männern und Frauen, die in keinem direkten familiären Verhältnis zueinander stehen, zu Schande (‘ib) und Sittenverfall beitrage.
Bei der Geschlechtertrennung handelt es sich jedoch nicht um eine Aufteilung der Gesellschaft in einen männlich-öffentlichen Raum einerseits und einen weiblich-privat-häuslichen Raum andererseits. Es wäre ein Fehlschluss zu glauben, Frauen seien vom gesellschaftlichen Leben gänzlich ausgeschlossen. Vielmehr zeichnet sich die städtische Lebenswelt Saudi-Arabiens zunehmend durch die Existenz paralleler öffentlicher Räume aus: zum einen ein männlich dominierter öffentlicher Raum, der von saudischen Männern und Ausländern frequentiert wird, zum anderen ein häufig verschlossener, aber nichtsdestotrotz öffentlicher Raum saudischer Frauen, in dem nichtverwandte Saudi-Araberinnen aufeinandertreffen und zueinander in Beziehung treten.
Die Bereiche des öffentlichen Lebens, die ausschließlich Frauen vorbehalten sind,
Dass trotz dieser verschiedenen Entwicklungen häufig der Eindruck entsteht, Frauen könnten in Saudi-Arabien nur bedingt am gesellschaftlichen Leben teilhaben, mag unter anderem an ihrer eingeschränkten Mobilität liegen. Saudi-Arabien hat kaum öffentliche Verkehrsmittel – und wo es diese gibt, ist Frauen deren Nutzung untersagt.
Kann ökonomischer Zwang Freiheit schaffen?
In den Metropolen des Landes zeichnet sich eine Veränderung des gesellschaftlichen Rollenbilds der idealtypischen saudischen Frau ab.
Die Rolle des saudischen Staates bleibt höchst ambivalent. Wenngleich sich dieser hinsichtlich der bestehenden Gesellschaftsordnung reformorientiert inszeniert, waren die tatsächlichen Reformen bislang kosmetischer Natur. Der Furor, der sich im Internet vor allem über Twitter in Saudi-Arabien entlädt und die Religionsgelehrten des Regimes scharf für die Gängelung von Frauen kritisiert,