Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Innenpolitische und gesellschaftliche Herausforderungen in Saudi-Arabien | Saudi-Arabien | bpb.de

Saudi-Arabien Editorial Das Haus Saud und die Wahhabiyya Innenpolitische und gesellschaftliche Herausforderungen Frauen in Saudi-Arabien Saudi-Arabiens Arbeitsmarkt Status und Aussichten der saudi-arabischen Wirtschaft Saudi-Arabiens Rolle im Nahen Osten Saudi-Arabien als Partner deutscher Politik Karten

Innenpolitische und gesellschaftliche Herausforderungen in Saudi-Arabien

Ulrike Freitag Nushin Atmaca

/ 16 Minuten zu lesen

Während der ersten Jahre seiner Herrschaft galt der seit 1995 zunächst als Regent und ab 2005 als König regierende Abdallah Ibn Abd al-Aziz Al Saud vielen Intellektuellen in Saudi-Arabien als Reformer. Bald nahmen jedoch interne und externe Beobachterinnen und Beobachter eine Stagnation des Landes wahr sowie vor allem in den vergangenen Jahren eine Zunahme der Repression. In diesem Beitrag werden zunächst die Reformen skizziert, die auch in der westlichen Öffentlichkeit das Bild des Königs prägten. Weiterhin wird auf die Reformblockade eingegangen, die infolge des "Arabischen Frühlings" eingetreten ist, bevor abschließend eine Analyse der Herausforderungen erfolgt, vor denen das Königshaus heute steht.

Abdallah Ibn Abd al-Aziz – der Reformkönig?

Saudi-Arabien ist eine absolute Monarchie, deren Wohlstand vor allem auf dem Export von Rohöl gründet. Mehrere Faktoren schränken die Macht des Königs jedoch ein: das 1992 erlassene Gesetz über "Die grundlegende Regelung der Herrschaftsweise", welches den Koran und die Überlieferung des Propheten Muhammad (Sunna) zur Verfassung erklärte, die Macht des konservativen religiösen Establishments, einflussreiche Mitglieder der Königsfamilie sowie die Rücksichtnahme auf das, was als gesellschaftliche Mehrheitsmeinung wahrgenommen wird.

Bereits vor dem 11. September 2001, besonders aber danach, gab es auch in Saudi-Arabien islamistische Terrorangriffe, welche die Legitimität des Regimes infrage stellten. Zugleich forderten liberale Kräfte eine Öffnung des Landes und mehr Mitsprache. Bei seinem Versuch, diesen Forderungen vorsichtig nachzukommen, konnte sich Abdallah auf eine Allianz unterschiedlicher, Veränderung fordernder Kräfte stützen. In ihrem Zentrum stand eine informelle Koalition aus liberalen islamischen Reformern, Frauenaktivistinnen und säkularen Kräften. Sie veröffentlichten an den König gerichtete Petitionen, welche von der Existenz einer Gruppe selbstbewusster Intellektueller zeugten, die sich zunehmend als Vertreter einer saudischen Zivilgesellschaft verstanden. Unterstützt wurden sie von jungen, oft im Ausland ausgebildeten Hochschulabsolventinnen und -absolventen. Im Gegensatz zu ihren Eltern konnten diese nicht mehr auf gutbezahlte Positionen im Staatsdienst zählen, sondern mussten sich um weniger attraktive Stellen in der Privatwirtschaft bemühen. Die Wirtschafts- und Finanzkrise der späten 1990er Jahre hat insofern zur Politisierung eines Teils dieser Generation beigetragen.

Abdallah setzte daraufhin einen vorsichtigen Reformprozess in Gang. Gesellschaftspolitisch bedeutend ist das 2003 ins Leben gerufene "Nationale Dialogforum". Es sollte eine Kultur der internen Debatte über strittige soziokulturelle Fragen und der Toleranz gegenüber anderen Auffassungen schaffen. Dies schloss die behutsame Öffnung gegenüber marginalisierten religiösen Gruppen wie etwa Schiiten und Sufis ein. Die Empfehlungen der vom Staat eingeladenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden dem Monarchen übermittelt. Gleichzeitig vermittelten regionale und lokale Foren sowie die Presse die besprochenen Themen, über Seminare verbreitete sich auch der Dialogansatz. Damit einher ging eine gewisse Liberalisierung der Medien, beflügelt von dem Wissen um die Schwierigkeit einer umfassenden Kontrolle der neuen elektronischen Medien. 2005 ließ König Abdallah erstmals Gemeinderäte wählen. Damals waren Frauen noch von der Wahl ausgeschlossen und die Hälfte der Sitze wurde an ernannte Räte vergeben. Für die 2015 stattfindenden Wahlen sollen Frauen jedoch sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht erhalten. Zudem wurden im Justizsektor umfassende Reformen eingeleitet: Dies betrifft unter anderem die geplante Kodifizierung des islamischen Rechts zur Verbesserung der Rechtssicherheit. Auch eine Reformierung des Gerichtswesens hat mit dem Ziel begonnen, Verfahrensabläufe transparenter und schneller zu machen. Ferner wurden im August 2014 neue Familiengerichte eröffnet, ein Oberster Gerichtshof ist geplant. Der tertiäre Bildungssektor wurde im vergangenen Jahrzehnt massiv ausgebaut. Inzwischen sind mehr saudische Frauen als Männer an den Hochschulen eingeschrieben. Die Zahl der im Ausland Studierenden stieg zwischen 2005 und 2011 von 15728 auf 107065 rasant an. Das staatliche Schulwesen hingegen verbesserte sich kaum, auch wenn die Ernennung einer stellvertretenden Bildungsministerin 2009 ein wichtiges Signal dafür war, dass Mädchenbildung eine staatliche Priorität ist.

All diese Reformen wurden von oben eingeleitet, wenn auch unter erheblichem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Druck. Saudische Intellektuelle sehen sie allerdings eher als unumgängliche Modernisierungsmaßnahmen und Ventil für diesen Druck denn als Schritte hin zu einer Veränderung der grundsätzlichen Herrschaftsverhältnisse.

Saudische Reaktion auf den "Arabischen Frühling"

Als der "Arabische Frühling" 2011 die Region erfasste, drohten die Aufstände auch auf Saudi-Arabien überzugreifen. Schon im Januar 2011 versammelten sich in Riad und auch andernorts kleinere Gruppen vor Regierungsgebäuden, um durch schweigenden Protest auf die oft schlechten Lebensbedingungen hinzuweisen. Über Facebook verbreitete Aufrufe zu größeren Demonstrationen und, angelehnt an die Beispiele aus anderen arabischen Ländern, zur Organisation eines "Tages des Zorns", stießen nur auf geringe Resonanz – allerdings war eine umso intensivere Präsenz der Sicherheitskräfte an möglichen Versammlungsorten zu beobachten.

Eine Ausnahme bildete die Ostprovinz. Ist dort ohnehin aufgrund des hohen schiitischen Bevölkerungsanteils eine stärkere Opposition vorhanden, erhitzte nun die saudische Intervention gegen den schiitisch dominierten Aufstand in Bahrain Mitte Februar zusätzlich die Gemüter. Petitionen zirkulierten in den sozialen Netzwerken und wurden auch dem König präsentiert. Die vielleicht bemerkenswerteste legten Jugendliche am 5. März 2011 vor. Sie forderten nicht nur das Ende von Armut und Arbeitslosigkeit sowie die Subventionierung von Gütern des Grundbedarfs, sondern auch das Ende von Korruption und Frauendiskriminierung sowie gleiche Bürgerrechte für alle Saudis. Das staatliche Bildungssystem sollte verbessert werden, Gewalt in allen Bereichen ein Ende finden, die Religionspolizei abgeschafft und freie kulturelle Entfaltung ermöglicht werden. Letztlich sollte eine konstitutionelle Monarchie geschaffen und alle politischen Gefangenen freigelassen werden, um die Teilhabe aller an der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung des Landes zu ermöglichen.

Das Establishment reagierte mit Zuckerbrot und Peitsche: Einerseits warnte ein Rechtsgutachten des Rates der hochrangigen Gelehrten am 6. März 2011, dass Reformen nicht durch illegale Demonstrationen erzwungen werden dürften, womit das harte polizeiliche Durchgreifen gegen tatsächliche und vermeintliche Unruhestifter gerechtfertigt wurde. Andererseits konkretisierte der König am 18. März zuvor angekündigte Sozialmaßnahmen. Mit 93 Milliarden Dollar sollten Arbeitslose unterstützt, höhere staatliche Löhne gezahlt und neue Arbeitsplätze geschaffen werden, insbesondere im Sicherheitsbereich und in den religiösen Einrichtungen. Staatliche Stipendien sollten erhöht, Schulden erlassen und erschwingliche Wohnungen gebaut werden. Auch wurde wenige Tage später angekündigt, die seit 2009 verschobenen Gemeinderatswahlen im Herbst 2011 durchzuführen, was am 29. September desselben Jahres auch geschah.

Auch wenn es weiterhin insbesondere unter Schiiten und in der Ostprovinz, aber auch zugunsten der Freilassung politischer Gefangener oder zur Erhöhung von Löhnen Proteste gab und gibt, gelang es dem Staat, mithilfe dieser Maßnahmen die Situation zu kontrollieren. Dazu gehört auch, dass die Zensur seit 2011 wieder verschärft wurde und Festnahmen aufgrund politischer Meinungsäußerungen oder Aktivitäten an der Tagesordnung sind. Insofern lässt sich von einer Reformblockade sprechen. Diese wird verstärkt durch die im Königshaus herrschende Uneinigkeit bezüglich einer Öffnung des Landes und der Durchsetzung innenpolitischer Reformen. Auch die virulente Frage des Übergangs der Macht auf die nächste Prinzengeneration schränkt den Handlungsspielraum von König und Regierung ein.

Die weiteren internen Herausforderungen Saudi-Arabiens bestehen in erster Linie darin, drei zentrale Punkte auszubalancieren: die Forderungen liberaler und religiöser Akteure nach mehr politischen und individuellen Rechten, die Verteidigung und Durchsetzung islamischer Werte und Normen, wie sowohl vom religiösen Establishment als auch von islamischen Aktivisten gefordert, sowie die Bewahrung der "saudischen Identität", wie sie traditionelle und konservative Kreise anmahnen.

Forderungen nach Liberalisierung und Rechtsstaatlichkeit

Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene – 70 Prozent der Bevölkerung ist jünger als 30 – äußern ihre Kritik an der Führung und den Lebensumständen im Königreich über die sozialen Medien. Der virtuelle Protest findet seinen Ausdruck zudem in Twitterkampagnen: Ein Beispiel dafür ist das Hashtag #Mosambik (arabisch: ), welches saudische Aktivistinnen und Aktivisten als Decknamen für Saudi-Arabien nutzen und so Kritik an der Königsfamilie, ihrer Politik sowie der Gesellschaft formulieren. Viele Twitternutzerinnen und -nutzer folgen der Diskussion. Dies spricht dafür, dass es nicht nur Interesse an, sondern auch ein echtes Bedürfnis nach Veränderung gibt, dem sich die Königsfamilie jedoch aus Angst vor dem eigenen Machtverlust sowie aufgrund der Kritik der islamistischen Szene widersetzt. Die Härte, mit der die Führung Aktivisten bestraft, scheint kompromisslos: So wurden zwei Mitglieder der "Vereinigung für politische und zivile Rechte in Saudi-Arabien", die Menschenrechtsverletzungen im Land dokumentiert und publik macht, zu langen Haftstrafen verurteilt. Ihnen wurde vorgeworfen, Aufruhr gegen den Herrscher zu schüren – möglicherweise als Antwort auf die Arbeit der Organisation, deren Klagen sich vor allem gegen den mittlerweile verstorbenen damaligen Innenminister und Kronprinzen Nayif richteten. Allerdings halten sich manche liberale Kritiker zunehmend zurück, nicht nur aufgrund der Repressionen, mit denen das Regime ihnen in der Vergangenheit antwortete, sondern auch, um nicht durch eine Schwächung des Königshauses das Erstarken salafistischer Bewegungen zu begünstigen.

Islamistische Kritik

Die Allianz der herrschenden Familie Al Saud mit Teilen der wahhabitischen Gelehrtenschaft bildet eine tragende Säule der saudischen Machtkonstellation, aber auch ihren gewissermaßen natürlichen Schwachpunkt: Wer von sich behauptet, die islamische Lehre in ihrer reinen Form durchzusetzen, wird zumindest von einigen gesellschaftlichen Gruppierungen an diesem Anspruch gemessen. Oft werfen islamistische Kritiker dem Königshaus und der Regierung vor, die Religion der Politik unterzuordnen und damit eine zu pragmatische Herangehensweise an die Gestaltung des politischen Alltagsgeschäfts zu pflegen. Zudem wird der korrupte und ausschweifende Lebensstil mancher Mitglieder der Königsfamilie sowie der saudischen Oberschicht kritisiert.

Infolge der Festnahmen ihrer prominentesten Vertreter in den 1990er Jahren spaltete sich die oppositionelle Bewegung des "islamischen Erwachens" in unterschiedliche Strömungen, die den Staat teils tolerieren, teils aber bekämpfen wollten. Durch den "Arabischen Frühling" und die Wahl islamistischer Parteien in Tunesien und Ägypten erhielt sie jedoch neuen Aufwind. Die saudische Führung reagierte mit Repressionen, wie im Fall von Salman al-Auda, einem der führenden Köpfe der damaligen Bewegung: Seine harsche Kritik an der Regierung hatte ihn in den 1990er Jahren zwar für einige Jahre ins Gefängnis gebracht, nach seiner Freilassung stellte er jedoch direkte Attacken auf die Königsfamilie ein und rief seine Anhänger zu einem "Weg der Mitte" jenseits von Extremismus und Gewalt auf. Zum "Arabischen Frühling" äußerte er sich wiederum positiv, woraufhin die Regierung einige seiner Fernsehshows einstellte und ihn mit einem Ausreiseverbot belegte. Seine Publikation "Fragen zur Revolution" wurde verboten.

Während die Reaktion der saudischen Führung auf islamistische Kritik weitgehend die gleiche bleibt, verändern sich die Forderungen der Islamisten: Manche von ihnen adaptierten den globalen Menschenrechtsdiskurs und treten nun nicht mehr nur mit formaler Kritik an einer als unislamisch empfundenen Herrschaftsweise in Erscheinung, sondern auch mit konkreten Forderungen nach politischer Partizipation und Achtung grundlegender Rechte. Diese beantwortet die Regierung vor allem mit dem Hinweis auf den authentisch-islamischen Charakter des saudischen Staates und der Diskreditierung des politischen Anspruchs islamistischer Gruppierungen sowie der Propagierung eines quietistischen Religionsverständnisses. Dies erscheint als Versuch, sich nicht nur der islamistischen Kritik zu erwehren, sondern auch der Ansicht vorzubeugen, die nach 2011 gewählten islamistischen Regierungen in Tunesien und zeitweilig in Ägypten als Alternativen zum saudischen Modell zu verstehen. Dabei richtet sich islamistische Kritik nicht nur gegen den Führungsstil der Königsfamilie, sondern auch gegen die fehlende "Moral" der Gesellschaft. Dies zeigt der Fall von Hamza Kashgari: Der junge Journalist äußerte sich im Februar 2012 auf Twitter kritisch-fragend zur Person des Propheten Muhammad und zur Beziehung der Gläubigen zu ihm. Daraufhin forderten einige saudische Gelehrte und Teile der saudischen Gesellschaft seine Hinrichtung als Strafe für seine als blasphemisch empfundenen Äußerungen. Zwar gab es auch Stimmen, die für mehr Toleranz und Religionsfreiheit eintraten, Kashgari wurde jedoch festgenommen und erst im Oktober 2013 kommentarlos und ohne jegliche gerichtliche Verurteilung aus dem Gefängnis entlassen. Die Wut und Vehemenz, mit der Kashgaris Hinrichtung gefordert wurde, offenbaren den sozialen Sprengstoff im Streit um die "richtige" islamische (Lebens-)Führung. Das Verhalten der saudischen Autoritäten, die Kashgari zwar festgenommen hatten, ihn aber nicht vor Gericht stellten, deutet den Versuch an, Konflikte dieser Art vorbeiziehen zu lassen und dabei durch Zugeständnisse sowohl an die Liberalen als auch an die Islamisten den Forderungen beider Seiten gerecht zu werden.

Traditionsbewusste Gesellschaft

Trotz des häufigen Wunsches nach Reformen aus islamistischen und liberalen Kreisen ist zu konstatieren, dass die saudische Gesellschaft auf die Bewahrung ihrer Traditionen Wert legt. Traditionelle Wert- und Normvorstellungen bilden nach allgemeiner Auffassung den Kern der saudischen Identität. Dabei zeigt sich eine enge Verknüpfung zwischen Tradition und Religion, denn viele Ansichten, die als religiöse Prinzipien gekennzeichnet werden, resultieren aus der Tradition. Dies trifft auch auf das Auftreten saudischer Frauen in der Öffentlichkeit zu, wie ein Beispiel aus jüngerer Zeit zeigt: Eine junge Saudi filmte, wie sie während einer Einkaufstour von der Religionspolizei wegen ihres Nagellacks beinahe der Shoppingmall verwiesen wurde, und veröffentlichte das Video auf Youtube. In einem der daraufhin hochgeladenen Antwortvideos betont ein junger Saudi, dass der traditionelle Schutz der saudischen Frauen aufgrund ihrer hohen gesellschaftlichen Achtung das Eingreifen der Religionspolizei rechtfertige. So schlägt er den Bogen zwischen traditionellen Normvorstellungen und ihrer religiös verbrämten Durchsetzung.

Zwar scheint "saudische Identität" ein ähnlich emotional aufgeladenes Feld zu sein wie Religion, allerdings scheinen sich die konservativen Teile der Gesellschaft gleichzeitig auch in den wichtigsten regimetreuen Gruppen wiederzufinden: Stämme, die in den saudischen Staat eingebunden wurden und so von ihm profitieren konnten, sowie die städtische Mittelschicht der älteren Generationen, deren Mitglieder bis heute einflussreiche Posten bekleiden. Der saudischen Führung dürfte daher daran gelegen sein, diese Gruppen nicht durch überhastete und ambitionierte gesellschaftliche Reformen und Weichenstellungen zu verlieren. Stattdessen versucht sie, die Bedürfnisse der Liberalen, der Islamisten und der Konservativen auszubalancieren, wie auch der erwähnte Fall Kashgari zeigt. Dadurch reduziert sich der Spielraum für Reformen erheblich.

Bedrohung durch den "Islamischen Staat"

Neben den innenpolitischen Herausforderungen ist die beschriebene Stagnation eng verknüpft mit den regionalen Entwicklungen der vergangenen Jahre und Monate. Der Siegeszug des "Islamischen Staates" (IS) ist ein Phänomen, das Saudi-Arabien auf unterschiedlichen Ebenen bewegt. Kritische Intellektuelle weisen darauf hin, dass der IS genau das Religionsverständnis realisiere, welches der saudische Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern vermittelt. Gleichzeitig ließ der IS jedoch verlautbaren, er habe die Eroberung Mekkas und Medinas zum Ziel und stellt so die Legitimität der Herrschaft der Al Saud infrage. Meinungsumfragen, die hohe Sympathiewerte für den IS innerhalb der saudischen Bevölkerung feststellen, beunruhigen das Regime. Aufgrund fehlender Entfaltungsmöglichkeiten und Perspektiven in einem Land, in dem offizielle religiöse Institutionen an Macht verloren haben, scheinen besonders Jugendliche für die Propaganda des IS empfänglich zu sein. Mindestens 2500 Saudis sollen bereits an der Seite der Organisation kämpfen. Dennoch ist die Reaktion der saudischen Salafisten auf den Erfolg des IS nicht einheitlich, auch Kritik wird laut. Um den IS und damit islamistischen Extremismus im Königreich zu schwächen, leiteten Politik und Behörden verschiedene Maßnahmen ein: Die Truppen an der saudisch-irakischen Grenze wurden verstärkt und seit Ende August 88 Personen, darunter 80 Saudis, als IS-Unterstützer festgenommen. Zudem wurde ein bereits seit einigen Jahren diskutiertes Anti-Terror-Gesetz erlassen und der oberste saudische Mufti verurteilte den IS mit deutlichen Worten. Um darüber hinaus eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema einzuleiten, soll sich das Nationale Dialogforum in diesem Jahr auf Anregung des Königs mit Extremismus befassen. Zusätzlich initiierte der saudische Staat eine Kampagne gegen den IS in Print und Fernsehen.

Trotz dieses scheinbar entschlossenen Vorgehens befindet sich die saudische Führung in einem Dilemma: Ähnlich den islamistischen Regierungen, die die Wahlen in den postrevolutionären Staaten des "Arabischen Frühlings" gewannen, stellt auch der IS eine Bedrohung für das saudische Alleinstellungsmerkmal dar – die Bewahrung und Durchsetzung als authentisch-islamisch propagierter Werte. Dadurch wird der Spielraum für eine Öffnung des Landes geringer, die durch die verschärften Sicherheitsmaßnahmen ohnehin erschwert wird. Aber nicht nur sunnitische Extremisten, auch der schiitische Bevölkerungsteil des Königreichs wird mit der harten Hand der saudischen Führung konfrontiert.

Angst vor dem schiitischen Halbmond

Grund für den Konflikt zwischen Schiiten und dem saudischen Staat ist bis heute in erster Linie die inzwischen zwar abgeschwächte, aber dennoch vorhandene Auffassung einiger wahhabitischer Gelehrter, dass Schiiten Apostaten seien. Verschärft wird die Situation dadurch, dass die Regierung ein Erstarken der regionalen schiitischen Akteure fürchtet und annimmt, die saudischen Schiiten stünden jenen näher als dem eigenen Staat. Daher verstärkten die seit 2011 auftretenden Proteste in der schiitisch geprägten Ostprovinz die Angst vor einem "schiitischen Halbmond". Die offizielle Lesart, die diese Proteste ausschließlich als Beleg für das regionale Erstarken der Schiiten wertet, führt jedoch dazu, dass auf die innenpolitischen Forderungen der saudischen Schiiten nicht eingegangen wird. Dazu gehören die Einführung einer konstitutionellen Monarchie und das Ende der anhaltenden Diskriminierung. Stattdessen antworten die Autoritäten mit Repressionen. Damit verstärken sie die Unzufriedenheit und radikalisieren führende schiitische Köpfe. Zeichen der Entspannung auf offizieller Seite deuten sich nicht an, im Gegenteil: Möglicherweise als Abschreckung vor weiteren Demonstrationen verhängten Gerichte in den vergangenen zwölf Monaten lange Haftstrafen sowie Todesurteile gegen sieben Protestteilnehmer. Diesen wurde unter anderem vorgeworfen, der Regierung des Königreichs geschadet und dem Herrscher die "Gefolgschaft aufgekündigt" zu haben. Obwohl sechs der Verurteilten ihre in Gefangenschaft abgelegten Geständnisse mit der Begründung zurückzogen, diese seien unter Folter beziehungsweise zweifelhaften Haftbedingungen zustande gekommen, hatte dies keinen Einfluss auf das Urteil. Vielmehr soll es wohl nationale und regionale Akteure davor warnen, das Königshaus und seine Politik infrage zu stellen.

Fazit

Im Winter 2013 und Frühjahr 2014 erließen König und Innenminister mehrere Gesetze und Dekrete, welche einen "rechtlichen Rahmen für die Kriminalisierung nahezu aller Arten dissidenten Gedankenguts oder seines Ausdrucks als Terrorismus" schufen. Das Gesetz untersagt die Finanzierung ausländischer terroristischer Organisationen – neben al-Qaida und dem IS auch die Muslimbrüder – sowie die Teilnahme an kriegerischen Aktivitäten im Ausland. Das Dekret des Innenministeriums wird deutlicher: Auch atheistisches Gedankengut oder Kritik am Königshaus stehen nun unter Strafe. Dies gilt für alle Versuche, "den nationalen Zusammenhalt" zu erschüttern, etwa durch "Sit-ins, Proteste, Treffen oder jegliche Form kollektiver Stellungnahmen". Nun sind Gesetze zur Überprüfung sozialer Medien geplant, welche die Bekämpfung von "Ehebruch, Homosexualität und Atheismus" zum Ziel haben. Dies zeigt wohl weniger die Furcht vor den moralischen als vor den virtuellen Herausforderungen islamischer wie säkularer Kritiker in einem Land, in dem wenig andere Foren der Meinungsäußerung existieren. Die Herrscherfamilie versucht damit nicht, die Interessen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen zusammenzuführen, sondern setzt auf klassische Instrumente der Macht, um sich eben diese zu sichern. Den konservativen und traditionsbewussten Teil der saudischen Gesellschaft mag sie dabei hinter sich wissen, dennoch ist fraglich, ob es dem gerontokratischen Königshaus dauerhaft gelingen kann, seine junge und nach Öffnung strebende Bevölkerung am kurzen Zügel zu halten.

Dr. phil., geb. 1962; Professorin für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin; Direktorin des Zentrum Moderner Orient, Kirchweg 33, 14129 Berlin. E-Mail Link: ulrike.freitag@zmo.de

M.A., geb. 1984; Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Assistentin der Direktion am Zentrum Moderner Orient. E-Mail Link: nushin.atmaca@zmo.de