Wird ein Kunstwerk zu Exilkunst, weil der Künstler im Exil lebt? Wie beeinflussen Exil und Migration den künstlerischen Prozess? Kann die Erfahrung erzwungener Entortung künstlerisches Schaffen anregen? Welche Gemeinsamkeiten und welche Differenzen gibt es zwischen historisch unterschiedlichen Exilsituationen?
Mit Fragen wie diesen befasst sich die virtuelle Ausstellung "Künste im Exil", die seit Herbst 2013 online ist.
"Künste im Exil" widmet sich den Künsten unter den Bedingungen des Exils. Der Beitrag stellt das kuratorische Konzept der virtuellen Ausstellung vor und verortet dieses im Zusammenhang aktueller Debatten um die Ausweitung des Exilbegriffs.
Künste
Der Plural "Künste" ist bewusst gewählt, mit ihm sind zwei zentrale Aussagen verbunden: Erstens können Künstlerinnen und Künstler jeder Kunstsparte in den Fokus von Verfolgungsmaßnahmen und politischer Repression rücken und gewaltsamen Übergriffen ausgesetzt sein, sodass sie sich ins Exil flüchten. Zweitens wirkt sich das Exil auf jede Kunstform unterschiedlich aus, weil unterschiedliche Kunstformen jeweils auch unterschiedliche Produktionsbedingungen, ästhetische Aussagemöglichkeiten, Rezeptionsformen und ein unterschiedliches Publikum bedeuten. Für einen Fotografen stellt sich die Situation des Exils anders dar als für eine Schriftstellerin, für einen Tänzer anders als für eine Theaterschauspielerin. Zieht man nun auch noch die Bedeutung der verschiedenen Exilländer und -orte in Betracht, dann wird deutlich, dass man nicht von einer Exilkunst sprechen kann, sondern dass der Blick auf Künste unter den Bedingungen des Exils vielfältige Faktoren erfassen muss.
Einem Kunstwerk kann man nicht ansehen, dass es im Exil entstanden ist. Man kann zwar erkennen, ob es sich mit dem Thema Exil befasst – aber die thematische Auseinandersetzung lässt wiederum keinen Rückschluss darauf zu, ob der Künstler oder die Künstlerin im Exil lebte und arbeitete. "Exilkunst" ist keine ästhetische Kategorie – ein Kunstwerk als Exilkunst bezeichnen zu können, erfordert die Beachtung politischer, soziologischer, biografischer und ästhetischer Zusammenhänge.
In der virtuellen Ausstellung wird daher darauf hingewiesen, dass sich Künste nicht getrennt von den gesellschaftlichen Verhältnissen betrachten lassen, in denen sie entstehen. Die Wechselbeziehungen zwischen Kunstwerken und Gesellschaft spielen sich zwischen ästhetischen Traditionen, zeitgenössischem Kulturbetrieb und politischen Machtverhältnissen ab. Auch die ökonomischen Verhältnisse der Künstler, das private Umfeld und die Aufnahme der Werke durch das Publikum spielen eine wichtige Rolle. Die Zwangssituation von Exil und Emigration verändert solche Wechselbeziehungen, wobei das Ausmaß der Veränderung von vielfältigen, oben beschriebenen Faktoren abhängig ist.
Für einige Künstler ist diese Erfahrung ein solcher Schock, dass sie im Exil ihr künstlerisches Schaffen beenden. Für diejenigen, die im Exil weiterarbeiten, werden die veränderten Wechselbeziehungen spürbar. Die Konfrontation mit einem zumeist völlig neuen sprachlichen, politischen, kulturellen, ökonomischen, privaten und intellektuellen Umfeld prägt auf grundlegende Weise die Produktionsbedingungen, unter denen Künstler im Exil arbeiten. Von vielen wird diese Konfrontation sogar direkt in ihren Kunstwerken aufgegriffen. Exil kann somit auch ein produktives Feld öffnen und künstlerisches Schaffen anregen.
Während des nationalsozialistischen Regimes flohen über 10.000 Künstlerinnen und Künstler aus Deutschland, Theaterschaffende und Filmemacher, Schriftstellerinnen und bildende Künstler, Fotografen, Architekten, Tänzerinnen, Komponisten und Musikerinnen. Ganz unterschiedlich stellten sich die Produktionsbedingungen der exilierten Künstler in den Aufnahmeländern dar. Für bildende Künstler, Komponisten und Fotografen zum Beispiel, deren Kunst wenig an Sprache gebunden ist, war die Weiterarbeit unter den veränderten Bedingungen des Exils leichter möglich, wenn auch hier weitere äußere und individuelle Faktoren zu beachten sind. Für andere begann mit dem Exil eine Notsituation: Die Arbeits- und Lebensbedingungen waren oft sehr schwierig, die Verdienstmöglichkeiten für viele unzureichend. Die Verbindung zu einem neuen Publikum musste im Zufluchtsland erst aufgebaut werden. Diese Bedingungen gelten keineswegs nur für das Exil aus dem nationalsozialistischen Machtbereich. Sie galten davor und sind bis hinein in die Gegenwart gültig.
Exil
Dem kuratorischen Konzept von "Künste im Exil" liegt ein erweiterter Exilbegriff zugrunde. Diese Ausweitung ist in mehrfacher Hinsicht zu verstehen und wird in der Ausstellung folgendermaßen erläutert: Lange wurde zwischen Exil und Emigration unterschieden. Dabei wurde Exil als politische Kategorie verstanden, als ein aufgrund von Unterdrückung, Verfolgung und Lebensgefahr ins Ausland verlagerter Lebensort, ein vorübergehender Zustand. Emigration dagegen galt als unpolitische, überwiegend jüdische Auswanderung, als ein nahezu freiwilliger Akt.
Aber diese Kategorien lassen sich so nicht halten. Weder Exil noch Emigration erfolgen freiwillig, ein lediglich vorübergehender Ortswechsel ist auch das Exil nicht. Diese Unterscheidung zwischen Exil und Emigration wurde daher auch in der Forschung aufgegeben. Eindeutige Abgrenzungen zwischen Exilanten, Emigranten und Flüchtlingen lassen sich nicht ziehen und werden der Vielschichtigkeit der Situation nicht gerecht. Wovon hängt es ab, wie Exil und Migration verlaufen? Zunächst einmal sind die Erlebnisse vor der Flucht entscheidend: Musste Gewalt erlitten werden? War die Rettung der Familie noch möglich? Erfolgte die Flucht aus dem Augenblick heraus oder konnte sie geplant und vorbereitet werden? Auch der Bildungshintergrund, die sprachlichen Fähigkeiten, die persönliche Beschaffenheit und nicht zuletzt der Zufall entscheiden mit darüber, ob im Exil ein zum eigenen Selbstverständnis passendes Leben gelingen kann. Von zentraler Bedeutung sind in diesem Zusammenhang auch die politischen Verhältnisse in den Zufluchtsländern und deren kulturelle Offenheit. Allerdings sind die Zufluchtsländer häufig nicht aktiv gewählt, sondern die letzte Rettung, sodass es nochmals schwerer ist, sich in den neuen Verhältnissen einzuleben. Von existenzieller Bedeutung für Flüchtlinge ist die politische und rechtliche Anerkennung. Eine aktive Teilhabe an kulturellen und gesellschaftlichen Prozessen des Aufnahmelands setzt einen legalen Status voraus. Migration, Flucht und Exil haben vielfältige und komplexe Auswirkungen: auf die Kultur der Aufnahmeländer, auf die Kultur der Ursprungsländer und schließlich auch auf das Selbstverständnis derer, die den Weg ins Exil gehen.
Heute werden die Begriffe Exil und Emigration mit Blick auf die weltweiten Ursachen und Wirkungen von Migration reflektiert. Historische und aktuelle Exile werden in Beziehung zueinander gesetzt, Gemeinsamkeiten und Unterschiede geprüft, und es wird danach gefragt, wie die globale Erfahrung der Migration die Vorstellungen von Nation, nationaler Identität und die jeweils damit verbundenen Erinnerungskulturen verändert.
Im deutschsprachigen Raum ist Exil untrennbar mit der Zeit des Nationalsozialismus verbunden. Die Singularität des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen gibt auch dem Exil während der Zeit des Nationalsozialismus eine besondere Stellung. Der inhaltliche Schwerpunkt von "Künste im Exil" liegt auf der Zeit 1933 bis 1945. Die virtuelle Ausstellung nimmt allerdings zugleich auch eine zeitliche Ausweitung bei der Betrachtung des Phänomens Exil vor – sie befasst sich, bezogen auf den deutschen Kontext, mit der Zeit von 1933 bis in die Gegenwart.
So greift "Künste im Exil" auch das Thema Remigration auf. Nach 1945 sind sowohl in die spätere Bundesrepublik als auch in die spätere DDR Künstler zurückgekehrt, die aus dem nationalsozialistischen Machtbereich geflohen waren. Auch Deutschland als Zufluchtsland ist Gegenstand der Betrachtung. Insbesondere ab den 1960er Jahren suchten Flüchtlinge aus anderen Staaten in der Bundesrepublik und der DDR Schutz vor Verfolgung. Eingang in die Ausstellung finden auch Künstlerinnen und Künstler, die aufgrund politischer und kultureller Repression durch das diktatorische Regime aus der DDR in die Bundesrepublik übersiedelten. Die Vorzeichen vor dem Begriff Exil ändern sich demnach für den deutschen Kontext im Zeitraum 1933 bis heute mehrfach.
In den vergangenen Jahren ist eine Ausweitung des Exilbegriffs auch aus kulturtheoretischer Perspektive angeregt worden. Diese neueren Debatten nehmen Konzepte von Heimat und Nation kritisch in den Blick – sie werden nicht mehr als statische und geschlossene Größen verstanden, sondern als imaginäre Konzepte, die einem permanenten Aushandlungsprozess unterliegen. Und doch muss man feststellen, dass im Exil Vorstellungen von Heimat auf besondere Weise Bedeutung erlangen und der Begriff als Bezugspunkt daher nicht völlig aufgegeben werden kann. Wenn Menschen gewaltsam vertrieben werden, verlieren sie viel: die gewohnte Lebens- und Arbeitsumgebung, mitunter auch das Aufenthaltsrecht und damit die Sicherheit, irgendwo Zuhause zu sein. Nicht immer können Familien gemeinsam fliehen, nicht immer können Besitz und Vermögen mitgenommen werden. Was sich mit diesen Verlusten häufig einstellt, ist das Gefühl, dass etwas verloren gegangen ist, was in der Fremde nicht wiedergefunden werden kann. Diese Verluste sind es mitunter, die im Exil die Vorstellungen von Heimat prägen. Im Exil gewinnt Heimat damit bisweilen einen völlig neuen Stellenwert. Heimatverlust als Folge des Exils wird häufig Gegenstand künstlerischen Schaffens.
Künste im Exil – kuratierte Verlinkung
Was bedeuten die bisherigen Ausführungen nun für die virtuelle Ausstellung? Wie geht sie mit der Vielschichtigkeit von Künsten um? Welche Konsequenzen zieht sie aus der Ausweitung des Exilbegriffs?
Die virtuelle Ausstellung widmet sich dem Phänomen Exil unter einer breiten Perspektive, indem sie für den deutschen Kontext den Zeitraum von 1933 bis zur Gegenwart behandelt. Die Ausstellung richtet sich an ein umfassendes Publikum, sowohl die kulturinteressierte Öffentlichkeit als auch Studierende, Schülerinnen und Schüler sollen angesprochen werden. Besonderen Wert legt das gestalterische Konzept auf die Präsentation der Exponate. Die virtuelle Ausstellung verfügt mit dem "Jungen Museum" auch über einen museumspädagogischen Bereich, dessen Konzept vom Deutschen Literaturarchiv Marbach erarbeitet wurde. In diesen fließen in erster Linie die Ergebnisse von Projekten ein, die von und mit Schülerinnen und Schülern erarbeitet wurden. Zuletzt wurde im Frühjahr 2014 das Modul "Exil Online. Archiv erleben – Exil entdecken – Geschichte verstehen" freigeschaltet, das aus einer Kooperation der Frankfurter I.E. Lichtigfeldschule im Philanthropin mit dem Deutschen Exilarchiv 1933–1945 hervorgegangen ist.
Die Startseite von "Künste im Exil" (vgl. Abbildung in der PDF-Version) gibt in ihrem Aufbau einen Eindruck vom Facettenreichtum der virtuellen Ausstellung. Sie bietet in Form von klickbaren Bildkacheln eine Vielzahl von Einstiegspunkten an. Diese führen sowohl zu den thematischen Überblickstexten zu "Kunst" und "Exil" als auch zu den Sonderbereichen der Ausstellung. Von den Einführungstexten zu "Kunst" und "Exil" kann man sich dann weiter bewegen: zu den Kunstgattungen Literatur, Film, Fotografie, Architektur, Bildende Kunst, Darstellende Kunst und Musik beziehungsweise zu Thementexten über "Gründe und Anlässe für das Exil", "Orte und Länder", "Heimat", "Sprache und Sprachverlust", "Lebensbedingungen und Alltag im Exil" und "Arbeits- und Produktionsbedingungen im Exil".
Neben diesen Einstiegen mit Bündelungsfunktion bietet die Startseite die Möglichkeit, direkt zu Personen- und Objektbeschreibungen zu navigieren. Dabei werden Personen, Lebensdokumente und Kunstwerke aus unterschiedlichen Zeiten zusammengeführt – das Kalenderblatt Heinrich Manns vom 21. Februar 1933, auf dem er den Tag der Abreise aus Deutschland eingetragen hat, steht beispielsweise neben dem Personeneintrag zur Gegenwartsautorin Herta Müller, die seit 1987 in Deutschland im Exil lebt. Die Startseite ist jedoch flexibel, und so ist es möglich, die Personen, Lebensdokumente und Kunstwerke, die als Einstiegspunkte dienen, von Zeit zu Zeit auszutauschen.
Den konzeptionellen Kern der Ausstellung bilden kuratierte Galerien: Jedes Exponat ist mit ausgewählten anderen Exponaten verknüpft, die ihrerseits in neue Kontexte führen. So entsteht ein vielfältiger Verweisungszusammenhang der Exponate untereinander – ein Zusammenhang, der die Exponate nicht klassifiziert und nach Dokumentenkategorie, Entstehungszeitpunkt, Urheber oder Kunstsparte sortiert, sondern der teilweise unerwartete und überraschende Verknüpfungen herstellt, um so einen Eindruck von der Vielschichtigkeit des Phänomens Exil zu vermitteln.
Die Besucher der Ausstellung nehmen eine zentrale Rolle ein: Es wird kein festgelegter Weg vorgegeben, dem sie durch die Ausstellung folgen. Jeder Nutzer legt einen eigenen, explorativen Weg durch die Ausstellung zurück und kann dabei eine eigene Vorstellung von Künsten im Exil "erklicken". Auf diese Weise werden sowohl Verbindungslinien zwischen Exponaten und zeitlichen Epochen hergestellt als auch Ausstellungsstücke der verschiedensten Institutionen miteinander verknüpft. Der Auswahl der Exponate kommt wie in jeder Ausstellung eine besondere Bedeutung zu. Sie obliegt einem Kuratorenteam, aber auch vielfältige externe Anregungen werden aufgenommen.
Limitiert wird die Objektauswahl jedoch durch den Prozess der Rechteklärung. Aufgrund des Zeitraums, den die virtuelle Ausstellung behandelt, ist kaum ein Exponat gemeinfrei. Die Rechteklärung hat also einen entscheidenden Einfluss darauf, was in der Ausstellung gezeigt wird und welche Exponate nicht gezeigt werden können, so bedeutsam sie aus kuratorischer Sicht auch sein mögen. Gerade angesichts der weit verbreiteten Annahme, dass im Zeitalter des Internets und der Digitalisierung von Archivbeständen mehr oder weniger alles verfügbar ist, erscheint der Hinweis auf den Stellenwert der Rechteklärung besonders wichtig.
Gespenstische Verbindungslinien
In einem Interview, das Herta Müller gemeinsam mit dem chinesischen Schriftsteller Liao Yiwu für "Künste im Exil" gab, wird der oben skizzierte Zusammenhang von Herkunftsland, Aufnahmeland und dem Selbstverständnis als Exilantin auf eindrückliche Weise nachvollziehbar. Herta Müller berichtet in dem Gespräch unter anderem vom bürokratischen Akt der Ausreise aus Rumänien. Obwohl sie als Angehörige einer deutschen Minderheit in Rumänien im Rahmen der "Familienzusammenführung" einen Ausreiseantrag hätte stellen können, betont sie ihr Selbstverständnis als politisch verfolgte Künstlerin. Diese politischen Gründe hat sie auch in ihrem Ausreiseantrag verdeutlicht, dessen formale Vorgaben gar keine politischen Ausreisegründe vorsahen: "Ich habe die Ausreise aus politischen Gründen verlangt. (…) Ich habe die Formulare dann gekriegt – die gab es ja gar nicht für politische Gründe; ich hab’ das durchgestrichen, die Rubriken, und habe dann hingeschrieben, was mir in den letzten zehn, fünfzehn Jahren alles passiert ist, also: überall rausgeflogen, die ganzen Schikanen mit Hausdurchsuchungen und Verhören." Herta Müller durfte schließlich ausreisen, obwohl der rumänische Staat offiziell keine politischen Ausreisegründe kannte. "Sie wollten mich und auch die Gruppe von Autoren, mit denen ich befreundet war, die Aktionsgruppe Banat, (…) loswerden", erklärt Müller.
Doch in Deutschland angekommen, war es gerade das Selbstverständnis als politisch verfolgte Künstlerin und als Exilantin, das ihr die Anerkennung ungemein erschwerte. Müller berichtet, dass sie in den ersten Tagen mehrfach vom Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst verhört wurde, offenbar, weil sie verdächtigt wurde, für den rumänischen Geheimdienst zu arbeiten. Weil sie auch gegenüber den deutschen Behörden immer wieder betonte, dass sie nicht im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland gekommen sei, sondern sich als Exilantin begreife, dauerte es über eineinhalb Jahre, bis sie die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt. "Das war eine sehr gespenstische Zeit", sagt Müller über diesen Kampf um Anerkennung als Exilantin.
Die Schriftstellerin wählt jedes Wort wohlüberlegt – und so ist es kein Zufall, dass sie ihre Erfahrungen bei der Ankunft in Deutschland als "gespenstische" beschreibt. Gespenster gelten als die Wiedergänger des Vergangenen und Totgeglaubten. Das Gespenstische an der Situation im Zufluchtsland bestand demnach darin, erneut Schikanen ausgesetzt zu sein, auf ganz ähnliche Weise die Anerkennung verweigert zu bekommen und zu erfahren, dass der benötigte Schutz und die erhoffte Sicherheit im Zufluchtsland einzig und allein an die legale Anerkennung als Flüchtling geknüpft sind. In diesem bürokratischen Prozess finden die Erfahrungen und das Selbstverständnis der Exilantin kaum bis keine Berücksichtigung – ganz im Gegenteil: Die Betonung der politischen Dimension der Verfolgung und des Exils weckt Misstrauen auch im Zufluchtsland.
Gespenstisch ist die Szene, die Müller schildert, auch deshalb, weil sie eine Erfahrung formuliert, die bereits Exilanten aus dem nationalsozialistischen Deutschland machen mussten. In der virtuellen Ausstellung führt von dem Interview mit Herta Müller ein Weg zu Bertolt Brecht und wiederum zu einer Verhörsituation im Zufluchtsland, der sich ein politischer Exilant ausgesetzt sah. Am 19. September 1947 erhielt Brecht, der seit 1941 in den USA lebte, eine Vorladung vor das "Komitee für unamerikanische Umtriebe". Die Ausstellung präsentiert einen Audio-Mitschnitt des Verhörs und erläutert ihn in einem eigenen Beitrag. Zahlreiche Künstler und Intellektuelle wie etwa Hanns Eisler oder Thomas Mann wurden während der "McCarthy-Ära" wegen des Verdachts, Mitglied einer kommunistischen Partei zu sein oder zumindest mit dem Kommunismus zu sympathisieren, vor den Ausschuss geladen. Bevor Brecht vor den Ausschuss zitiert wurde, hatte der amerikanische Geheimdienst ihn bereits mehrere Jahre beschattet. Der Schriftsteller sollte sich zu dem Vorwurf äußern, dass er eine kommunistische Unterwanderung der Filmindustrie in Hollywood angestrebt habe. Als er nach Washington reiste, um vor dem Komitee auszusagen, hatte er bereits ein Flugticket nach Europa in der Tasche.
In dem Audiomitschnitt verneint Brecht die Frage des Komitees nach der Zugehörigkeit zu einer kommunistischen Partei und erläutert, dass er revolutionäre Gedichte und Theaterstücke in der Absicht verfasst habe, zum Sturz des nationalsozialistischen Regimes beizutragen. Nach einem dreistündigen Verhör wurde Brecht als "unbelastet" entlassen. Unmittelbar nach seiner Anhörung verließ Brecht die USA und flog nach Paris. Ein Jahr später erklärte er ironisch: "Sie waren nicht so schlecht wie die Nazis. Die Nazis hätten mich niemals rauchen lassen. In Washington erlaubten sie mir eine Zigarre, und ich benutzte sie, um zwischen ihren Fragen und meinen Antworten Pausen zu schaffen."
Der Blick auf diese beiden Exponate der virtuellen Ausstellung vermag zu verdeutlichen, worin ein wichtiger und produktiver Aspekt der Ausweitung des Exilbegriffs besteht: thematische Verbindungslinien aufzuzeigen, die zwischen den Exponaten verschiedener Exilsituationen deutlich erkennbar sind – im Fall von Müller und Brecht bedeutet das, die so disparaten Exilsituationen als Konstellation des Ähnlichen zu begreifen, in der eine gemeinsame Wahrheit über das Exil zum Ausdruck kommt. Im oben beschriebenen Kontext der deutschen Geschichte, in dem der Exilbegriff alleine schon durch die historischen und politischen Gegebenheiten ausgesprochen spannungsgeladen ist, besteht durch das kuratierte Herstellen von solchen Konstellationen eine Möglichkeit, die Spezifika der singulären Exile zu wahren, gleichzeitig aber zu verdeutlichen, dass aus der Perspektive einer Einwanderungsgesellschaft und im Wissen um die massenhaften Fluchtbewegungen unserer Zeit auf das Exil 1933 bis 1945 geblickt wird. Die historischen und die gegenwärtigen Exile werden so wechselseitig ineinander lesbar.