Ende 2015 wird der Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) die ASEAN Community aus der Taufe heben. Bestehend aus einer (sicherheits-)politischen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Gemeinschaft, möchte der Verband die zwischenstaatliche Zusammenarbeit in der Region konsolidieren. Bis zur Erfüllung der ambitionierten Ziele werden indes noch etliche Jahre verstreichen, und wie in Europa sind Rückschläge wahrscheinlich. Zudem wird eine supranationale Kooperation wie in der Europäischen Union (EU) wegen der in Südostasien anhaltend hohen Bedeutung staatlicher Souveränität bis auf weiteres offiziell ausgeschlossen.
Die rechtliche Basis der ASEAN Community ist die Charta des Verbandes, die Ende 2008 in Kraft trat.
Die Ursache für die hohe Wertschätzung staatlicher Souveränität liegt in der Geschichte begründet, die von jahrhundertelanger Fremdherrschaft geprägt ist. Angesichts der Notwendigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der frisch erlangten Unabhängigkeit sowohl die Wirtschaft zu entwickeln als auch die pluralen Gesellschaften zu einem funktionierenden Gemeinwesen zu formen, bildeten sich in Südostasien starke Staaten heraus.
Regionale Zusammenarbeit ist für ASEAN von jeher ein Mittel zum Zweck der Stärkung nationaler Souveränität, insbesondere da die Prozesse der sozioökonomischen Entwicklung und der Nationsbildung aufgrund der ethnischen und religiösen Vielfalt immer noch nicht abgeschlossen sind. Abgesehen von Singapur sind sämtliche Staaten Südostasiens Schwellen- oder Entwicklungsländer. Erst 1976 vertiefte ASEAN ihre sicherheitspolitische Kooperation; der Grund war die Furcht vor einem aggressiven außenpolitischen Agieren des unter kommunistischer Führung wiedervereinten Vietnam. Der in diesem Jahr geschlossene Freundschafts- und Kooperationsvertrag normierte die Grundprinzipien der Assoziation, den sogenannten ASEAN Way. Seine zentralen Elemente sind friedliche Konfliktbeilegung, Verbot der Androhung und Anwendung von Gewalt, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten sowie eine auf Dialog und Konsens beruhende Entscheidungsfindung. Dadurch sind jedoch langwierige Einigungen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner programmiert. Ebenso gravierend ist, dass ASEAN nach wie vor der politische Konsens fehlt, rechtliche Mechanismen zu etablieren, um Mitglieder zu sanktionieren, die sich nicht an vertragliche Verpflichtungen halten.
Intensivierte Kooperation seit 1989
Das Ende der Ost-West-Konfrontation bedeutete auch für Südostasien einen markanten Einschnitt. Ähnlich der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) stellte sich für ASEAN ab 1989 die Frage nach der weiteren Existenzberechtigung und internationalen Relevanz. Genau wie Brüssel setzte ASEAN spätestens nach 1991 auf die Doppelstrategie von Vertiefung und Erweiterung (1995 trat Vietnam bei, 1997 Myanmar/Burma und Laos, 1999 Kambodscha). Mit der Aufnahme Myanmars handelte sich ASEAN aufgrund der Menschenrechtsverletzungen der Junta internationale Kritik ein. Zudem erhöhte sich aufgrund der Erweiterungen die politische und wirtschaftliche Heterogenität der Organisation, wodurch die interne Meinungsbildung noch komplizierter wurde.
Da Pläne für eine engere sicherheitspolitische Partnerschaft aufgrund widerstreitender nationaler Interessen nicht realisiert werden konnten, entschieden sich die ASEAN-Mitglieder aus politischen Gründen für eine stärkere handelspolitische Zusammenarbeit. Die ASEAN Free Trade Area (AFTA), auf dem Singapurer Gipfel 1992 beschlossen, steht modellhaft für den Ansatz eines inklusiven Regionalismus und der Ausweitung des eigenen Einflusses auf die weitere Region – im vergangenen Jahrzehnt folgten Freihandelsabkommen mit China, Japan, Indien und Australien. Insgesamt gelang es ASEAN seit dem Ende des Kalten Krieges, schrittweise einen friedlichen, stabilen Rahmen für Südost- und Ostasien generell aufzubauen, der die sozioökonomische Entwicklung erst ermöglicht. Entscheidend dafür ist die Einbindung der Großmächte USA, China, Japan, Indien und Australien. Da keines dieser Länder die Dominanz einer einzigen Macht wünscht, haben sie die zentrale Stellung der Organisation in Ostasien bereitwillig akzeptiert. Diese stützt sich auf ASEANs Rolle als Brückenbauerin und ehrliche Maklerin – aber auch den Umstand, dass das Regionalbündnis für die Großmächte weder politisch noch militärisch bedrohlich ist. ASEAN vermochte daher seit Mitte der 1990er Jahre eine Reihe von Institutionen in verschiedenen Politikfeldern aufzubauen, die sich netzwerkartig auf Südost- und Nordostasien und zunehmend den gesamten asiatisch-pazifischen Raum erstrecken.
Im besonders sensiblen Bereich der Sicherheitspolitik gab es seit Mitte der 1990er Jahre signifikante Fortschritte. ASEAN vertritt das Konzept kooperativer Sicherheit: Diese soll gemeinsam, nicht gegen eine bestimmte Macht erreicht werden.
Die Geschichte zeigt, dass die entscheidenden Impulse für ASEANs interne oder transregionale Vertiefung meist von außen kamen. Um etwa die gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Asien-Finanzkrise von 1997/1998 für zahlreiche ostasiatische Staaten gemeinsam zu bekämpfen, gründete ASEAN mit China, Japan und Südkorea ASEAN+3. Die ursprünglich rein finanzpolitische Zusammenarbeit bewährte sich – nicht zuletzt aufgrund Pekings konstruktiver Rolle –, weshalb sie rasch auf weitere Politikfelder ausgedehnt wurde.
Trotz anhaltender Konflikte haben all diese Institutionen bislang zu einer relativen Sicherheit in Südost- und Nordostasien beigetragen. Der wirtschaftliche und machtpolitische Aufstieg Chinas könnte die bestehende Regionalordnung jedoch von Grund auf verändern und ASEANs Rolle als neutrale Vermittlerin zwischen den Großmächten hinfällig werden lassen. Auch wenn China im zurückliegenden Jahrzehnt zum wichtigsten Handelspartner der meisten ostasiatischen Länder und Australiens aufgestiegen ist, so müssen die USA aufgrund ihrer materiellen und soft power immer noch als die hegemoniale Macht gelten.
Ein militärischer Konflikt zwischen China und den USA wäre das strategische Horrorszenario für die Assoziation, sähe sie sich doch zu einer Wahl zwischen Washington und Peking gezwungen. ASEAN würde darüber angesichts der unterschiedlichen Loyalitäten ihrer Mitglieder wohl zerbrechen. Ihre Einigkeit wird ferner durch den Konflikt im Südchinesischen Meer untergraben, in den China, Vietnam, die Philippinen, Malaysia und Brunei direkt involviert sind. Hanoi und Manila verfolgen aufgrund der Passivität ASEANs eine eigenständige Internationalisierungspolitik, indem sie ihre Beziehungen mit den USA, Japan und Indien vertiefen. ASEANs Einfluss im Konflikt – und damit generell ihre zentrale Rolle in der Region – wird so untergraben.
Umfassende, nichttraditionelle und menschliche Sicherheit
Seit der Endphase des Kalten Krieges in den 1980er Jahren haben die südostasiatischen Staaten ihr Verständnis von Sicherheit verbreitert. Nicht mehr allein kriegerische Auseinandersetzungen, sondern neue transnationale nichttraditionelle Bedrohungen wie Menschen-, Drogen- und Waffenschmuggel, Seuchen oder Naturkatastrophen wurden als Gefahren betrachtet. In der staatszentrierten Welt Südostasiens sahen die Politiker jedoch in erster Linie den Staat oder das Regime, weniger die Bevölkerung bedroht.
Menschliche Sicherheit wurde 1994 vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) popularisiert. Sie enthält sieben Dimensionen, nämlich wirtschaftliche, Ernährungs-, gesundheitliche, Umwelt-, persönliche, Gemeinschafts- (beziehungsweise kommunale) und politische Sicherheit.
Zwar hat die Zivilgesellschaft, versinnbildlicht in der transnational organisierten Southeast Asian People’s Advocacy (SAPA), eine wichtige Rolle bei der Förderung von menschlicher Sicherheit geleistet.
Diese politische Dimension wurde erfolgreich von Indonesien in die 2004 ursprünglich vorwiegend außen- und sicherheitspolitisch definierte Säule der ASEAN Community reklamiert. Der 2009 von ASEAN verabschiedete Fahrplan für die politisch-sicherheitspolitische Gemeinschaft verknüpft daher die umfassend, militärisch und nichttraditionell definierte Sicherheit zum einen mit Demokratie und Menschenrechten sowie zum anderen mit der sozioökonomischen Entwicklung.
Spätestens hier stellt sich die Grundsatzfrage: Ist es überhaupt denkbar, dass autoritäre Regime Demokratie und Menschenrechte auf regionaler Ebene glaubwürdig fördern, während sie ihrer eigenen Bevölkerung ebendiese Rechte vorenthalten? Mit der Gewährung – und vor allem der Umsetzung – des Rechts auf freie und faire Wahlen würden sich einige Regime faktisch selbst abschaffen. Gänzlich unmöglich ist dies nicht. Erstaunlichen demokratischen Fortschritten in Myanmar steht indes das Beispiel Thailand gegenüber, wo sich das Militär im Mai 2014 an die Macht putschte, was zeigt, dass der demokratische Prozess selbst in einem gefestigt wirkenden Staat nicht vor Rückschlägen gefeit ist. Angesichts des schleppenden Fortschritts besteht die realpolitische Gefahr, dass das größte ASEAN-Mitglied Indonesien nicht länger bereit ist, Minimalkompromisse in Menschenrechtsfragen und die Absolutsetzung der Souveränität zu akzeptieren. Ein Vorpreschen Jakartas mit für die autoritären Regierungen zu weitgehenden Vorschlägen könnte weitere Fortschritte jedoch noch erschweren oder sogar verunmöglichen.
Menschenrechtsschutz im ASEAN-Rahmen
Ein wichtiges Anzeichen, dass die südostasiatische Regionalorganisation ihr striktes Souveränitätsverständnis und Nichtinterventionsgebot aufweichen könnte, stellt die 2009 gegründete ASEAN-Menschenrechtskommission (ASEAN Intergovernmental Commission on Human Rights, AICHR) dar. Ihre Aufgabe ist es, die Menschenrechte auf regionaler Ebene zu schützen und zu fördern. Obwohl sie aus institutioneller Sicht einen Fortschritt darstellt, übte die SAPA heftige Kritik an den eingeschränkten Kompetenzen der zwischenstaatlichen Kommission, ist sie doch nur dazu befugt, Empfehlungen auszusprechen, die im Konsensverfahren beschlossen werden.
Die bislang öffentlichkeitswirksamste Aktion der AICHR war die Ausarbeitung der neuen ASEAN-Menschenrechtsdeklaration; sie wurde im November 2012 vom ASEAN-Gipfel angenommen, ist für die Mitgliedstaaten allerdings rechtlich nicht bindend. Die Deklaration soll die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte keinesfalls ersetzen – vielmehr ist sie Ausdruck des Bestrebens, die bestehenden universalen Menschenrechtserklärungen im Namen von ASEAN zu bestätigen und darüber hinaus in einzelnen Paragrafen zu präzisieren. Letzteres Anliegen erfüllt sie aufgrund ihrer zu allgemeinen Formulierungen jedoch nicht.
Abgesehen vom intransparenten Entstehungsprozess mit lediglich zwei öffentlichen Hearings – ein Vorgehen, das auch UN-Menschenrechtskommissarin Navanethem Pillay kritisierte –, nahmen einige Vertreter(innen) von Nichtregierungsorganisationen an der Hervorhebung staatlicher Souveränität Anstoß.
Frei von Relativierungen ist die ASEAN-Deklaration dennoch nicht: In Artikel 6 ist die Rede von einer Balance zwischen der Beanspruchung der Menschenrechte und grundlegenden Freiheiten einerseits und der Erfüllung korrespondierender Pflichten gegenüber den Mitmenschen, der (engeren) Gemeinschaft und der (nationalen) Gesellschaft, andererseits. Und Artikel 8 hält die Einschränkung der Menschenrechte für gerechtfertigt, wenn deren Ausübung die Rechte der Mitmenschen einschränken würde – oder wenn es die "gerechten Anforderungen" der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Moral sowie der öffentlichen Gesundheit und des allgemeinen Wohls in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich machen. Der Artikel geht damit über den vergleichbaren Passus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hinaus (Art. 29, Abs. 2). Zudem werden weder die Notwendigkeit klarer gesetzlicher Grundlagen für diese Einschränkungen noch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit erwähnt.
Die Charta der ASEAN und ihre Menschenrechtserklärung lösen somit das Spannungsverhältnis zwischen staatlicher und menschlicher Sicherheit nicht auf. So positiv das Mainstreaming von Menschenrechten und Demokratie in den Deklarationen ist – solange dieses grundlegende Dilemma fortbesteht, können die Regierungen die individuellen Menschenrechte gegenüber den Prinzipien nationaler Sicherheit und sozioökonomischer Entwicklung ausspielen. Sofern menschliche Sicherheit nicht die staatliche oder Regimesicherheit unterläuft, steht deren Gewährleistung in der Regel nichts im Wege; sollte eine Bedrohung politisch jedoch zu sensibel sein, so hat im Zweifel die nationale Sicherheit Vorrang.
Dennoch stellen die AICHR und die ASEAN-Menschenrechtsdeklaration einen wichtigen Fortschritt dar. Positiv ist, dass selbst autoritär regierte Staaten wie Brunei, Kambodscha, Laos, Myanmar oder Vietnam sich der Idee einer südostasiatischen Menschenrechtserklärung nicht grundsätzlich verschlossen haben. Entsprechend liegt ihr großer Mehrwert darin, dass Regierungen Kritik an Menschenrechtsverletzungen nicht länger mit der Behauptung zurückweisen können, Menschenrechte seien Südostasien vom Westen aufgezwungen worden.
Schluss
Sicherheit wird in Südostasien nicht nur als staatliche, umfassende und in Ansätzen menschliche Sicherheit verstanden, sondern auch kooperativ und überregional: Wesentlich ist die Schaffung einer stabilen, friedlichen Rahmenordnung unter Einbezug der zentralen externen Mächte. Multilaterale Kooperation dient somit als Instrument, um die wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie die Nationsbildung zu ermöglichen. Da die Staaten bei diesen Prozessen die führende Rolle spielen, genießen staatliche Souveränität und Sicherheit trotz des graduellen Wandels des Sicherheitsverständnisses auch in der ASEAN Community politisch und konzeptionell immer noch Priorität. Der extrem gefährliche Konflikt im Südchinesischen Meer könnte die Bedeutung von traditioneller militärischer und staatlicher Sicherheit weiter stärken. Es bedarf in Südostasien somit einer stärkeren Allianz aus demokratisch gesinnten Regierungen und einer national und transnational aktiven Zivilgesellschaft, um die Retraditionalisierung der Sicherheitspolitik zu verhindern und den Wandel von staatlicher zu menschlicher Sicherheit voranzutreiben.