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Menschliche und staatliche Sicherheit – ein ungelöstes Spannungsverhältnis | Sicherheit in Südostasien | bpb.de

Sicherheit in Südostasien Editorial Südostasien im Fokus der Weltpolitik ASEAN, der übersehene Riese Gefährliches Souveränitätsspiel im Südchinesischen Meer Rüstungstransfers ins maritime Südostasien Menschliche und staatliche Sicherheit Machtverschiebung in Richtung Asien? China als globaler Investor Grundzüge der Geschichte Südostasiens Karten

Menschliche und staatliche Sicherheit – ein ungelöstes Spannungsverhältnis

Alfred Gerstl

/ 14 Minuten zu lesen

Ende 2015 wird der Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) die ASEAN Community aus der Taufe heben. Bestehend aus einer (sicherheits-)politischen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Gemeinschaft, möchte der Verband die zwischenstaatliche Zusammenarbeit in der Region konsolidieren. Bis zur Erfüllung der ambitionierten Ziele werden indes noch etliche Jahre verstreichen, und wie in Europa sind Rückschläge wahrscheinlich. Zudem wird eine supranationale Kooperation wie in der Europäischen Union (EU) wegen der in Südostasien anhaltend hohen Bedeutung staatlicher Souveränität bis auf weiteres offiziell ausgeschlossen.

Die rechtliche Basis der ASEAN Community ist die Charta des Verbandes, die Ende 2008 in Kraft trat. Zentrales Anliegen von ASEAN ist demnach der Aufbau einer stärker menschenzentrierten Gemeinschaft. Bereits bei der Gründung der Organisation lautete das Fernziel, die nicht näher definierte Einheit Südostasiens zu verwirklichen. Formal gelang dies 1999, als mit Kambodscha das zehnte Land der Assoziation beitrat. Von einer wahren Gemeinschaft, in der die Bevölkerungen Werte und Einstellungen teilen würden, ist das ethnisch, kulturell, religiös und politisch extrem vielfältige Südostasien jedoch weit entfernt. Seit den späten 1950er Jahren haben Politiker(innen) und Wissenschaftler(innen) die Idee der südostasiatischen Einheit zwar vorangetrieben, doch blieb das Gefühl von Gemeinsamkeit zumeist auf Eliten beschränkt.

Die Ursache für die hohe Wertschätzung staatlicher Souveränität liegt in der Geschichte begründet, die von jahrhundertelanger Fremdherrschaft geprägt ist. Angesichts der Notwendigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der frisch erlangten Unabhängigkeit sowohl die Wirtschaft zu entwickeln als auch die pluralen Gesellschaften zu einem funktionierenden Gemeinwesen zu formen, bildeten sich in Südostasien starke Staaten heraus. Sicherheit und wirtschaftliche Entwicklung bedingen einander nicht nur in Südostasien; doch ist hier der sicherheitspolitische Einfluss außerregionaler Akteure traditionell besonders groß. Um diesen zu begrenzen, gründeten Indonesien, Malaysia, die Philippinen, Singapur und Thailand 1967, also auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges, die prowestliche und strikt antikommunistische ASEAN (Brunei Darussalam trat 1984 bei). Souveränität und territoriale Integrität sollten indes nicht nur gegenüber den führenden Großmächten (USA, Sowjetunion, China) verteidigt werden, sondern durch zwischenstaatliche Kooperation auch gegenüber den unmittelbaren Nachbarn, mit denen es häufig ideologische Konflikte und Grenzstreitigkeiten gab.

Regionale Zusammenarbeit ist für ASEAN von jeher ein Mittel zum Zweck der Stärkung nationaler Souveränität, insbesondere da die Prozesse der sozioökonomischen Entwicklung und der Nationsbildung aufgrund der ethnischen und religiösen Vielfalt immer noch nicht abgeschlossen sind. Abgesehen von Singapur sind sämtliche Staaten Südostasiens Schwellen- oder Entwicklungsländer. Erst 1976 vertiefte ASEAN ihre sicherheitspolitische Kooperation; der Grund war die Furcht vor einem aggressiven außenpolitischen Agieren des unter kommunistischer Führung wiedervereinten Vietnam. Der in diesem Jahr geschlossene Freundschafts- und Kooperationsvertrag normierte die Grundprinzipien der Assoziation, den sogenannten ASEAN Way. Seine zentralen Elemente sind friedliche Konfliktbeilegung, Verbot der Androhung und Anwendung von Gewalt, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten sowie eine auf Dialog und Konsens beruhende Entscheidungsfindung. Dadurch sind jedoch langwierige Einigungen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner programmiert. Ebenso gravierend ist, dass ASEAN nach wie vor der politische Konsens fehlt, rechtliche Mechanismen zu etablieren, um Mitglieder zu sanktionieren, die sich nicht an vertragliche Verpflichtungen halten.

Intensivierte Kooperation seit 1989

Das Ende der Ost-West-Konfrontation bedeutete auch für Südostasien einen markanten Einschnitt. Ähnlich der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) stellte sich für ASEAN ab 1989 die Frage nach der weiteren Existenzberechtigung und internationalen Relevanz. Genau wie Brüssel setzte ASEAN spätestens nach 1991 auf die Doppelstrategie von Vertiefung und Erweiterung (1995 trat Vietnam bei, 1997 Myanmar/Burma und Laos, 1999 Kambodscha). Mit der Aufnahme Myanmars handelte sich ASEAN aufgrund der Menschenrechtsverletzungen der Junta internationale Kritik ein. Zudem erhöhte sich aufgrund der Erweiterungen die politische und wirtschaftliche Heterogenität der Organisation, wodurch die interne Meinungsbildung noch komplizierter wurde.

Da Pläne für eine engere sicherheitspolitische Partnerschaft aufgrund widerstreitender nationaler Interessen nicht realisiert werden konnten, entschieden sich die ASEAN-Mitglieder aus politischen Gründen für eine stärkere handelspolitische Zusammenarbeit. Die ASEAN Free Trade Area (AFTA), auf dem Singapurer Gipfel 1992 beschlossen, steht modellhaft für den Ansatz eines inklusiven Regionalismus und der Ausweitung des eigenen Einflusses auf die weitere Region – im vergangenen Jahrzehnt folgten Freihandelsabkommen mit China, Japan, Indien und Australien. Insgesamt gelang es ASEAN seit dem Ende des Kalten Krieges, schrittweise einen friedlichen, stabilen Rahmen für Südost- und Ostasien generell aufzubauen, der die sozioökonomische Entwicklung erst ermöglicht. Entscheidend dafür ist die Einbindung der Großmächte USA, China, Japan, Indien und Australien. Da keines dieser Länder die Dominanz einer einzigen Macht wünscht, haben sie die zentrale Stellung der Organisation in Ostasien bereitwillig akzeptiert. Diese stützt sich auf ASEANs Rolle als Brückenbauerin und ehrliche Maklerin – aber auch den Umstand, dass das Regionalbündnis für die Großmächte weder politisch noch militärisch bedrohlich ist. ASEAN vermochte daher seit Mitte der 1990er Jahre eine Reihe von Institutionen in verschiedenen Politikfeldern aufzubauen, die sich netzwerkartig auf Südost- und Nordostasien und zunehmend den gesamten asiatisch-pazifischen Raum erstrecken.

Im besonders sensiblen Bereich der Sicherheitspolitik gab es seit Mitte der 1990er Jahre signifikante Fortschritte. ASEAN vertritt das Konzept kooperativer Sicherheit: Diese soll gemeinsam, nicht gegen eine bestimmte Macht erreicht werden. Das 1994 gegründete ASEAN Regional Forum (ARF) ist das größte sicherheitspolitische Forum der Welt, gehören ihm doch neben den ASEAN-Staaten unter anderem China, Japan, Nord- und Südkorea, die USA, Russland, Indien, Australien und die EU an. Es symbolisiert damit den offenen, inklusiven Charakter von ASEANs Regionalismus und seinen pragmatisch-evolutionären Charakter: Durch die Förderung von Kooperation im politisch weniger strittigen Bereich nichttraditioneller Sicherheit – dazu zählen unter anderem organisierte Kriminalität, illegale Migration, maritime Sicherheit, Terrorismus, Energiesicherheit und Umweltkatastrophen – soll Vertrauen aufgebaut werden, um schrittweise auch militärische Bedrohungen multilateral zu lösen. Zum Leidwesen der westlichen Mitglieder und Japans befindet sich das ARF immer noch in der Phase von Dialog und Vertrauensbildung. So verhält sich das ARF etwa in den zentralen Krisen auf der koreanischen Halbinsel und im Südchinesischen Meer sehr zurückhaltend. Für kollektive Sicherheit wie in der NATO fehlt das Vertrauen.

Die Geschichte zeigt, dass die entscheidenden Impulse für ASEANs interne oder transregionale Vertiefung meist von außen kamen. Um etwa die gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Asien-Finanzkrise von 1997/1998 für zahlreiche ostasiatische Staaten gemeinsam zu bekämpfen, gründete ASEAN mit China, Japan und Südkorea ASEAN+3. Die ursprünglich rein finanzpolitische Zusammenarbeit bewährte sich – nicht zuletzt aufgrund Pekings konstruktiver Rolle –, weshalb sie rasch auf weitere Politikfelder ausgedehnt wurde. Um weitere Schlüsselpartner wie die USA, Indien, Australien und Russland noch stärker in die regionale Architektur einzubinden und damit Gegengewichte zu China aufzubauen, wurde 2005 der East Asia Summit (EAS) als Forum der Staats- und Regierungschefs ins Leben gerufen.

Trotz anhaltender Konflikte haben all diese Institutionen bislang zu einer relativen Sicherheit in Südost- und Nordostasien beigetragen. Der wirtschaftliche und machtpolitische Aufstieg Chinas könnte die bestehende Regionalordnung jedoch von Grund auf verändern und ASEANs Rolle als neutrale Vermittlerin zwischen den Großmächten hinfällig werden lassen. Auch wenn China im zurückliegenden Jahrzehnt zum wichtigsten Handelspartner der meisten ostasiatischen Länder und Australiens aufgestiegen ist, so müssen die USA aufgrund ihrer materiellen und soft power immer noch als die hegemoniale Macht gelten. Mit der strategischen Refokussierung auf den asiatisch-pazifischen Raum untermauerte US-Präsident Barack Obama diese Position. Gleichzeitig wächst in China die Furcht vor einer amerikanischen Eindämmungspolitik im Stile des Kalten Krieges.

Ein militärischer Konflikt zwischen China und den USA wäre das strategische Horrorszenario für die Assoziation, sähe sie sich doch zu einer Wahl zwischen Washington und Peking gezwungen. ASEAN würde darüber angesichts der unterschiedlichen Loyalitäten ihrer Mitglieder wohl zerbrechen. Ihre Einigkeit wird ferner durch den Konflikt im Südchinesischen Meer untergraben, in den China, Vietnam, die Philippinen, Malaysia und Brunei direkt involviert sind. Hanoi und Manila verfolgen aufgrund der Passivität ASEANs eine eigenständige Internationalisierungspolitik, indem sie ihre Beziehungen mit den USA, Japan und Indien vertiefen. ASEANs Einfluss im Konflikt – und damit generell ihre zentrale Rolle in der Region – wird so untergraben. Der Streit hat jedoch noch weitere dramatische Auswirkungen: Er droht angesichts seiner potenziell verheerenden Folgen, den Trend zu umfassender und menschlicher Sicherheit umzukehren und zu einer Wiederaufwertung von traditioneller militärischer und staatlicher Sicherheit in Südostasien zu führen.

Umfassende, nichttraditionelle und menschliche Sicherheit

Seit der Endphase des Kalten Krieges in den 1980er Jahren haben die südostasiatischen Staaten ihr Verständnis von Sicherheit verbreitert. Nicht mehr allein kriegerische Auseinandersetzungen, sondern neue transnationale nichttraditionelle Bedrohungen wie Menschen-, Drogen- und Waffenschmuggel, Seuchen oder Naturkatastrophen wurden als Gefahren betrachtet. In der staatszentrierten Welt Südostasiens sahen die Politiker jedoch in erster Linie den Staat oder das Regime, weniger die Bevölkerung bedroht. Diese Sichtweise änderte sich im Zuge der Asien-Finanzkrise und vor allem nach der Tsunamikatastrophe Weihnachten 2004. Seitdem finden sich in den ASEAN-Erklärungen immer wieder Bezüge auf das Konzept menschlicher Sicherheit, ohne dieses allerdings ausdrücklich anzusprechen.

Menschliche Sicherheit wurde 1994 vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) popularisiert. Sie enthält sieben Dimensionen, nämlich wirtschaftliche, Ernährungs-, gesundheitliche, Umwelt-, persönliche, Gemeinschafts- (beziehungsweise kommunale) und politische Sicherheit. Das theoretisch wie praktisch Revolutionäre ist, dass nicht länger die Sicherheit eines Staates, sondern jedes Einzelnen und bestimmter Gruppen, etwa ethnischer, kultureller oder sozialer Minderheiten, im Zentrum steht. Für ASEAN kommt dieser Ansatz einem Paradigmenwechsel gleich.

Zwar hat die Zivilgesellschaft, versinnbildlicht in der transnational organisierten Southeast Asian People’s Advocacy (SAPA), eine wichtige Rolle bei der Förderung von menschlicher Sicherheit geleistet. Der zentralen Stellung der Regierungen entsprechend kam der entscheidende Anstoß, menschliche Sicherheit auf die Agenda zu setzen, jedoch von Indonesien, den Philippinen und anfänglich Thailand. Seit der eigenen Demokratisierung nach dem Sturz des autoritären Suharto-Regimes 1998 ist Jakarta der aktivste und glaubwürdigste Befürworter einer regionalen Förderung von Demokratie und Menschenrechten.

Diese politische Dimension wurde erfolgreich von Indonesien in die 2004 ursprünglich vorwiegend außen- und sicherheitspolitisch definierte Säule der ASEAN Community reklamiert. Der 2009 von ASEAN verabschiedete Fahrplan für die politisch-sicherheitspolitische Gemeinschaft verknüpft daher die umfassend, militärisch und nichttraditionell definierte Sicherheit zum einen mit Demokratie und Menschenrechten sowie zum anderen mit der sozioökonomischen Entwicklung. Diese visionären Verknüpfungen lösen jedoch nicht das Grundproblem: die konzeptionelle Spannung zwischen der individuellen Sicherheit der Bürger(innen) und derjenigen des Regimes, die innerhalb des Verbandes gerne als staatliche Sicherheit verbrämt wird. Beispielsweise relativiert Paragraf 12 die beabsichtigte Bürger(innen)orientierung ASEANs: Zwar führt er die Stärkung von Demokratie, des Rechtsstaates und der Menschenrechte als Ziel an, allerdings sollen diese Prinzipien "mit angemessener Rücksicht auf die Rechte und Verantwortlichkeiten der Mitgliedstaaten" verwirklicht werden.

Spätestens hier stellt sich die Grundsatzfrage: Ist es überhaupt denkbar, dass autoritäre Regime Demokratie und Menschenrechte auf regionaler Ebene glaubwürdig fördern, während sie ihrer eigenen Bevölkerung ebendiese Rechte vorenthalten? Mit der Gewährung – und vor allem der Umsetzung – des Rechts auf freie und faire Wahlen würden sich einige Regime faktisch selbst abschaffen. Gänzlich unmöglich ist dies nicht. Erstaunlichen demokratischen Fortschritten in Myanmar steht indes das Beispiel Thailand gegenüber, wo sich das Militär im Mai 2014 an die Macht putschte, was zeigt, dass der demokratische Prozess selbst in einem gefestigt wirkenden Staat nicht vor Rückschlägen gefeit ist. Angesichts des schleppenden Fortschritts besteht die realpolitische Gefahr, dass das größte ASEAN-Mitglied Indonesien nicht länger bereit ist, Minimalkompromisse in Menschenrechtsfragen und die Absolutsetzung der Souveränität zu akzeptieren. Ein Vorpreschen Jakartas mit für die autoritären Regierungen zu weitgehenden Vorschlägen könnte weitere Fortschritte jedoch noch erschweren oder sogar verunmöglichen.

Menschenrechtsschutz im ASEAN-Rahmen

Ein wichtiges Anzeichen, dass die südostasiatische Regionalorganisation ihr striktes Souveränitätsverständnis und Nichtinterventionsgebot aufweichen könnte, stellt die 2009 gegründete ASEAN-Menschenrechtskommission (ASEAN Intergovernmental Commission on Human Rights, AICHR) dar. Ihre Aufgabe ist es, die Menschenrechte auf regionaler Ebene zu schützen und zu fördern. Obwohl sie aus institutioneller Sicht einen Fortschritt darstellt, übte die SAPA heftige Kritik an den eingeschränkten Kompetenzen der zwischenstaatlichen Kommission, ist sie doch nur dazu befugt, Empfehlungen auszusprechen, die im Konsensverfahren beschlossen werden. Als leitende Prinzipien für die AICHR führt die Geschäftsordnung neben dem allgemeinen Respekt für Menschen- und Freiheitsrechte den ASEAN Way, also Souveränität und Nichteinmischung, an. Unliebsame Kritik an den Regierungen ist auch deshalb unwahrscheinlich, weil momentan (für die Zeit von 2013 bis 2015) einzig Indonesien einen unabhängigen zivilgesellschaftlichen Repräsentanten als nationalen Vertreter entsandt hat, die anderen Mitglieder haben hochrangige ehemalige oder aktive Beamte delegiert.

Die bislang öffentlichkeitswirksamste Aktion der AICHR war die Ausarbeitung der neuen ASEAN-Menschenrechtsdeklaration; sie wurde im November 2012 vom ASEAN-Gipfel angenommen, ist für die Mitgliedstaaten allerdings rechtlich nicht bindend. Die Deklaration soll die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte keinesfalls ersetzen – vielmehr ist sie Ausdruck des Bestrebens, die bestehenden universalen Menschenrechtserklärungen im Namen von ASEAN zu bestätigen und darüber hinaus in einzelnen Paragrafen zu präzisieren. Letzteres Anliegen erfüllt sie aufgrund ihrer zu allgemeinen Formulierungen jedoch nicht.

Abgesehen vom intransparenten Entstehungsprozess mit lediglich zwei öffentlichen Hearings – ein Vorgehen, das auch UN-Menschenrechtskommissarin Navanethem Pillay kritisierte –, nahmen einige Vertreter(innen) von Nichtregierungsorganisationen an der Hervorhebung staatlicher Souveränität Anstoß. Andere sahen sich an die Debatte um "asiatische Werte" in den frühen 1990er Jahren erinnert: Die damaligen Ministerpräsidenten Singapurs und Malaysias, Lee Kuan Yew und Mahathir Mohamad, kritisierten seinerzeit die individuellen Freiheitsrechte als westliche Konstrukte, die den sozialen Zusammenhalt in den gemeinschaftsorientierten konfuzianistischen Gesellschaften Ostasiens unterminieren würden. Ihre Argumentation fand Eingang in die von nationalen Menschenrechtsorganisationen geschmähte Bangkoker Menschenrechtserklärung von 1993, die von den Regierungen im Vorfeld der Wiener Menschenrechtskonferenz im selben Jahr verabschiedet worden war. Die klare Betonung der Universalität der Menschenrechte auf der Wiener Konferenz, vor allem aber die enormen wirtschaftlichen Probleme Ostasiens im Gefolge der Asien-Finanzkrise, deren Ursache viele Beobachter auf die vorgeblichen "asiatischen Werte" zurückführten, entzog Lees und Mahathirs Diskurs schlagartig die Grundlage. Entsprechend gehen in der neuen ASEAN-Menschenrechtsdeklaration kulturrelativistische Einschränkungen nicht über vergleichbare Formulierungen in anderen regionalen Menschenrechtserklärungen hinaus.

Frei von Relativierungen ist die ASEAN-Deklaration dennoch nicht: In Artikel 6 ist die Rede von einer Balance zwischen der Beanspruchung der Menschenrechte und grundlegenden Freiheiten einerseits und der Erfüllung korrespondierender Pflichten gegenüber den Mitmenschen, der (engeren) Gemeinschaft und der (nationalen) Gesellschaft, andererseits. Und Artikel 8 hält die Einschränkung der Menschenrechte für gerechtfertigt, wenn deren Ausübung die Rechte der Mitmenschen einschränken würde – oder wenn es die "gerechten Anforderungen" der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Moral sowie der öffentlichen Gesundheit und des allgemeinen Wohls in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich machen. Der Artikel geht damit über den vergleichbaren Passus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hinaus (Art. 29, Abs. 2). Zudem werden weder die Notwendigkeit klarer gesetzlicher Grundlagen für diese Einschränkungen noch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit erwähnt.

Die Charta der ASEAN und ihre Menschenrechtserklärung lösen somit das Spannungsverhältnis zwischen staatlicher und menschlicher Sicherheit nicht auf. So positiv das Mainstreaming von Menschenrechten und Demokratie in den Deklarationen ist – solange dieses grundlegende Dilemma fortbesteht, können die Regierungen die individuellen Menschenrechte gegenüber den Prinzipien nationaler Sicherheit und sozioökonomischer Entwicklung ausspielen. Sofern menschliche Sicherheit nicht die staatliche oder Regimesicherheit unterläuft, steht deren Gewährleistung in der Regel nichts im Wege; sollte eine Bedrohung politisch jedoch zu sensibel sein, so hat im Zweifel die nationale Sicherheit Vorrang. ASEAN hat mithin noch kein konzeptionell überzeugendes und in der Praxis funktionierendes Gleichgewicht zwischen der Sicherheit und den Rechten des Staates und jenen der einzelnen Menschen gefunden. Dass sich das Regionalbündnis bei gravierenden Menschenrechtsverletzungen auf das Prinzip der Schutzverantwortung berufen und auf eine humanitäre Intervention in einem Mitgliedsland einlassen könnte, ist daher auf absehbare Zeit auszuschließen.

Dennoch stellen die AICHR und die ASEAN-Menschenrechtsdeklaration einen wichtigen Fortschritt dar. Positiv ist, dass selbst autoritär regierte Staaten wie Brunei, Kambodscha, Laos, Myanmar oder Vietnam sich der Idee einer südostasiatischen Menschenrechtserklärung nicht grundsätzlich verschlossen haben. Entsprechend liegt ihr großer Mehrwert darin, dass Regierungen Kritik an Menschenrechtsverletzungen nicht länger mit der Behauptung zurückweisen können, Menschenrechte seien Südostasien vom Westen aufgezwungen worden. Nationale Menschenrechtsgruppen verfügen somit über stärkere Argumente – ähnlich den Helsinki-Gruppen, die sich im früheren Ostblock auf den Menschenrechtskorb der KSZE-Schlussakte 1975 berufen konnten.

Schluss

Sicherheit wird in Südostasien nicht nur als staatliche, umfassende und in Ansätzen menschliche Sicherheit verstanden, sondern auch kooperativ und überregional: Wesentlich ist die Schaffung einer stabilen, friedlichen Rahmenordnung unter Einbezug der zentralen externen Mächte. Multilaterale Kooperation dient somit als Instrument, um die wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie die Nationsbildung zu ermöglichen. Da die Staaten bei diesen Prozessen die führende Rolle spielen, genießen staatliche Souveränität und Sicherheit trotz des graduellen Wandels des Sicherheitsverständnisses auch in der ASEAN Community politisch und konzeptionell immer noch Priorität. Der extrem gefährliche Konflikt im Südchinesischen Meer könnte die Bedeutung von traditioneller militärischer und staatlicher Sicherheit weiter stärken. Es bedarf in Südostasien somit einer stärkeren Allianz aus demokratisch gesinnten Regierungen und einer national und transnational aktiven Zivilgesellschaft, um die Retraditionalisierung der Sicherheitspolitik zu verhindern und den Wandel von staatlicher zu menschlicher Sicherheit voranzutreiben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. ASEAN Secretariat, The ASEAN Charter, Jakarta 2008.

  2. Osttimor ist der einzige südostasiatische Staat, der noch nicht Mitglied im Regionalbündnis ist. Der Unabhängigkeit 2002 ging 1999 eine humanitäre Intervention der Vereinten Nationen unter Führung Australiens voraus, die einen kurzen, aber blutigen Krieg mit der Okkupationsmacht Indonesien beendete.

  3. Vgl. Amitav Acharya, The Making of Southeast Asia. International Relations of a Region, Ithaca u.a. 2012.

  4. Vgl. Damodar SarDesai, Southeast Asia. Past & Present, Boulder 2013.

  5. Vgl. Rizal Sukma, ASEAN Beyond 2015. The Imperatives for Further Institutional Changes, ERIA Discussion Paper Series, Jakarta 2014.

  6. Vgl. Mely Caballero-Anthony, Understanding ASEAN’s Centrality: Bases and Prospects in an Evolving Regional Architecture, in: The Pacific Review, 27 (2014) 4, S. 563–584.

  7. Vgl. A. Acharya (Anm. 3), S. 4.

  8. Vgl. Jürgen Haacke, The ASEAN Regional Forum and Transnational Challenges. Little Collective Securitization, Some Practical Cooperation, in: ders./Noel M. Morada (Hrsg.), Cooperative Security in the Asia-Pacific. The ASEAN Regional Forum, New York 2010, S. 124–149.

  9. Vgl. Ralf Emmers (Hrsg.), ASEAN and the Institutionalization of East Asia, Abingdon–New York 2012.

  10. Dies gilt selbst für einige ASEAN-Mitglieder untereinander: Malaysia teilte Vietnam erst einige Tage nach dem mysteriösen Verschwinden von Flug MH370 mit, dass die Maschine nicht die Route über das Südchinesische Meer genommen hatte, wo die vietnamesische Marine bereits nach dem Flugzeug suchte.

  11. Vgl. Richard Stubbs, ASEAN Plus Three: Emerging East Asian Regionalism?, in: Asian Survey, 42 (2002) 3, S. 440–455.

  12. Voraussetzung für die Mitgliedschaft im EAS ist ein Beitritt zum Freundschafts- und Kooperationsvertrag von 1976. Die USA unterzeichneten ihn erst 2009, also unter Präsident Obama. Sein Vorgänger Bush hatte die Unterschrift verweigert, um nicht auf das selbstdeklarierte Recht auf Präventivschläge gegen vermutete Terroristenbasen verzichten zu müssen.

  13. Vgl. Mark Beeson, Can China Lead?, in: Third World Quarterly, 34 (2013) 2, S. 233–250.

  14. Vgl. Joseph S. Nye, Work With China, Don’t Contain It, in: New York Times vom 26.1.2013, S. A19.

  15. Vgl. Alfred Gerstl, To Act or Not to Act: ASEAN’s Strategic Dilemma in the South China Sea Dispute, in: Petra Andélová/Mária Strasáková (Hrsg.), South China Sea Dispute in International Relations, Prag 2013, S. 103–125.

  16. Vgl. ders., The Changing Notion of Security in Southeast Asia. State, Regime and "ASEANized" Human Security, in: Pacific News, 34 (2010), S. 4–8.

  17. Vgl. Benny Teh Cheng Guan (Hrsg.), Human Security: Securing East Asia’s Future, Dordrecht u.a. 2010.

  18. Vgl. United Nations Development Program, Human Development Report 1994, Oxford 1994.

  19. Vgl. Jörn Dosch, Sovereignty Rules: Human Security, Civil Society, and the Limits of Liberal Reform, in: Donald K. Emmerson (Hrsg.), Hard Choices. Security, Democracy, and Regionalism in Southeast Asia, Stanford 2008, S. 59–90.

  20. Vgl. ASEAN Secretariat, ASEAN-Political Security Community Blueprint, Jakarta 2009.

  21. Vgl. A. Gerstl (Anm. 16).

  22. Vgl. John D. Ciorciari, Institutionalizing Human Rights in Southeast Asia, in: Human Rights Quarterly, 34 (2012), S. 695–725, hier: S. 724.

  23. Vgl. Shaun Narine, Human Rights Norms and the Evolution of ASEAN: Moving without Moving in a Changing Regional Environment, in: Contemporary Southeast Asia, 34 (2012) 3, S. 365–388.

  24. Vgl. Phil Robertson, ASEAN’s Road to Nowhere? Subverting Standards Within the ASEAN Human Rights Declaration, 1.5.2013, Externer Link: http://www.sr-indonesia.com/web-exclusives/view/asean-s-road-to-nowhere-subverting-standards-within-the-asean-human-rights-declaration (28.8.2014).

  25. Vgl. A. Acharaya (Anm. 3), S. 219–224.

  26. Vgl. Catherine Shanahan Renshaw, The ASEAN Human Rights Declaration 2012, in: Human Rights Law Review, 13 (2013) 3, S. 557–579.

  27. Vgl. S. Narine (Anm. 23), S. 384.

  28. Vgl. Peter Rudolf, Schutzverantwortung und humanitäre Intervention, in: APuZ, (2013) 37, S. 12–17; Katja Weber, Recalibrating Sovereignty-Related Norms: Europe, Asia and Non-Traditional Security Challenges, in: Journal of European Integration, 35 (2013) 1, S. 19–35.

  29. Vgl. C. Shanahan Renshaw (Anm. 26), S. 579.

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Dr. phil., geb. 1971; Politik- und Südostasienwissenschaftler, Fachbereich East Asian Economy and Society (EcoS) am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien, Spitalgasse 2, 1090 Wien/Österreich. E-Mail Link: alfred.gerstl@univie.ac.at