Erst seit etwa zwei Jahrzehnten wird in der Politikwissenschaft eine intensive Debatte über die Gegenwartspräferenz (engl. presentism) der Staatsform Demokratie und ihrer wichtigsten Institution, des Parlamentarismus, geführt.
Repräsentationslücke
Die mangelnde Repräsentation künftiger Generationen führt dazu, dass Interessenkonflikte durch die Mehrheit der Wahlberechtigten entschieden werden, nicht durch die Mehrheit der Betroffenen. Die normative Rechtfertigung der Staatsform Demokratie enthält aber eigentlich das Versprechen, dass alle, die der Regierung eines Staates unterstehen (werden) und von ihren Entscheidungen betroffen sind (bzw. sein werden), einen Einfluss haben auf die Gesetze, die ihr Leben regeln (werden).
Erst seit dem 20. Jahrhundert fallen die Zeitmaße von Mensch und Umwelt wirklich auseinander. Speziell im Umweltbereich gilt: Die Auswirkungen gegenwärtigen Handelns reichen weit in die Zukunft hinein und können die Lebensqualität zahlreicher zukünftiger Generationen tief greifend negativ beeinflussen.
Nachweltschutzklauseln reichen nicht aus
Die wachsende Akzeptanz von Zukunftsverantwortung hat dazu geführt, dass in den vergangenen Jahrzehnten die Aufnahme von Nachweltschutzklauseln in Verfassungen im Trend lag. Sofern Verfassungen neu verabschiedet wurden, z.B. in Osteuropa und Zentralasien nach 1989 oder in Südafrika nach dem Ende der Apartheid, wurde in fast allen Fällen ein Generationenbezug verankert. Mit der wachsenden Bedeutung der Zukunftsethik wurden oft auch etablierte Verfassungen geändert.Rund 30 Verfassungen weisen inzwischen einen derartigen Generationenbezug auf, darunter die Verfassungen Frankreichs, Deutschlands, Argentiniens, Brasiliens und Südafrikas.Explizit von Rechten künftiger Generationen sprechen dabei nur fünf Verfassungen: Norwegen (Art. 110b), Japan (Art. 11), Iran (Art. 50), Bolivien (Art. 7) und Malawi (Art. 13). In anderen Fällen wird von den Interessen künftiger Generationen (z.B. Georgien) oder ihren Bedürfnissen (z.B. Uganda) gesprochen.
Die Zahl der Verfassungen mit Nachweltschutzklauseln ist schon beträchtlich und wächst weiter. Aber hat dies etwas bewirkt? Hier scheint ein ernüchterndes Fazit angebracht. Weder führte die Einführung solcher Klauseln zum Atomausstieg in den jeweiligen Ländern, noch zu ernsthaften Klimaschutzmaßnahmen. Verfassungsgerichte eignen sich offensichtlich nicht optimal als Wächter über die Interessen künftiger Generationen. Sie können diese Interessen nicht mit vollem Engagement vertreten, weil sie kein Mandat dafür haben.
Es macht einen materiellen Unterschied, ob eine neue Institution mit eigenem Budget geschaffen wird, ob Personen in neue Ämter kommen, neue Räumlichkeiten geschaffen und neue Logos kreiert werden müssen – oder ob man "nur" bestehende Gerichte durch Rechtserweiterung mit neuen Aufgaben betraut. Der nachfolgend vertretene Ansatz geht von der Notwendigkeit der Schaffung einer neuen Organisation beziehungsweise Institution zur Interessenvertretung kommender Generationen aus.
Paradigmenwechsel: Vom 3-Gewalten-Modell zum 4-Gewalten-Modell
Eine Erweiterung des klassischen Gewaltenteilungsmodells erfordert einen Paradigmenwechsel. Das neue Paradigma würde einen future branch, der die Interessen künftiger Generationen im Gesetzgebungsprozess zu vertreten hätte, für einen legitimen und notwendigen Bestandsteil eines demokratisch verfassten Gemeinwesens halten.
Auf dem Papier sind das nur wenige Wörter mehr – aber sie wären sowohl voraussetzungs- als auch folgenreich. Voraussetzungsreich, weil der Sinn einer solchen Verfassungsänderung durch umfangreiche Überlegungen gerechtfertigt werden müsste, bevor man sie in Angriff nehmen dürfte. Folgenreich wäre diese Verfassungsänderung ebenfalls, ja geradezu revolutionär. Denn die Idee einer Erweiterung des Gewaltenteilungsmodells ist eine sehr weitreichende Idee. Die in der Neuzeit von verschiedenen Denkern im 17. und 18. Jahrhundert nach und nach konzipierte Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative – die Idee der trias politica – ist heute in den westlichen Demokratien universell etabliert. Wenn nun eine vierte institutionelle Ebene hinzukäme, welche die Interessen künftiger Generationen in heutige Entscheidungsprozesse einbrächte, so wäre dies nicht nur eine maßgebliche qualitative Weiterentwicklung der Demokratie. Wegen der nötigen Abstimmung der Befugnisse aller Gewalten würde dies auch eine Revision zahlreicher Verfassungsartikel bedeuten, zumindest bei manchen Versionen des 4-Gewalten-Modells.
Wer konstituiert den Demos?
Gibt es Gegenargumente gegen die Einrichtung einer wirkungsmächtigen Institution für die Repräsentation künftiger Generationen? Hintergrundfolie ist die große politiktheoretische Frage: "Wer konstituiert den Demos?"
Der Kampf um das Repräsentationsprinzip an sich – zentral etwa in Kants Unterscheidung zwischen Republik und Demokratie – ist in einer Welt, in der die Mehrzahl der Demokratien repräsentative Demokratien sind, längst entschieden. Eine Ausweitung des Repräsentationsprinzips auf künftige Staatsbürger/-innen stellt nur eine konsequente Weiterentwicklung dar. "Repräsentation meint im weitesten Sinne: etwas Unsichtbares sichtbar, etwas Abwesendes anwesend zu machen", schreibt Gerhard Göhler.
Dennoch: Anders als beim Ausschluss existierender Menschen, die aus diversen Gründen vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, stellen sich bei ungeborenen Staatsbürgern weitere Fragen, die bisher eher in der philosophischen als der politikwissenschaftlichen Literatur diskutiert wurden: Hier finden sich als Gegenargumente: 1) Unsicherheit/Nichtwissen hinsichtlich künftiger Entwicklungen, der Präferenzen künftiger Menschen oder auch der Folgen heutiger Entscheidungen auf die Lebensqualität kommender Generationen, 2) das Nicht-Identitätsproblem und 3) die These der reichen Zukunft.
Kernfragen
Wie oben begründet, ist die Konzeption eines 4-Gewalten-Modells mit einer Zukunftsinstanz (future branch) als vierter Gewalt die Aufgabe unserer Zeit. Da das 3-Gewalten-Modell von Demokratie zu Demokratie variiert, können wir davon ausgehen, dass es diverser Ausgestaltungen der Vierten Gewalt, also diverser Zukunftsinstanzen bedarf. Eine One-model-fits-all-Institution zur Vertretung künftiger Generationen kann es nicht geben, vielmehr ist es angemessen, die Vertretung des künftigen Demos von Land zu Land unterschiedlich zu denken.
So soll im Folgenden eine Vertretung der Interessen kommender Generationen für Deutschland konzipiert werden. Kernfragen
Sollte eine Vertretung künftiger Generationen Gesetze vorschlagen, sie endgültig stoppen oder sie mit einem aufschiebenden Veto bedenken können?
Sollte sich der Kompetenzbereich der neuen Institution nur auf bestimmte Politikfelder beschränken? Und wenn ja, welche?
Wie soll sich die neue Institution konstituieren können? Wer kann sie einberufen und wie oft?
Wie lang sollte die Amtszeit der Mitglieder der neuen Institution sein? Wie viele Mitglieder sollte diese Institution haben und welche Ressourcenausstattung? Wer legt die Gehälter der Mitglieder der neuen Institution fest? Genießen die Mitglieder der neuen Institution weitreichende Indemnität/Immunität oder können sie bei Fehlverhalten relativ schnell ihres Amtes enthoben werden? Durch wen?
Wie müsste konkret die Verfassung eines spezifischen Landes geändert werden, um eine durchsetzungsstarke Vierte Gewalt zu etablieren?
Weltweit gibt es inzwischen eine beträchtliche Zahl von Organisationen mit einem Mandat für Nachhaltigkeit oder Generationengerechtigkeit. Allerdings sind die meisten rein beratender Natur und haben insofern geringe Macht. Eine entscheidende Befugnis ist das Recht, in das Gesetzgebungsverfahren eingreifen zu dürfen. Von den acht Institutionen, die in einem von der Zivilgesellschaft lange geforderten UN-Report
Durch die Gewaltenteilung soll ein innerer Kontrollmechanismus innerhalb der Staatsorgane geschaffen werden, der einem Machtmissbrauch entgegenwirken soll. Gleichzeitig darf Gewaltenteilung die staatliche Gewalt aber nicht so weit diffundieren lassen, dass der Staat machtlos wird. Im Idealfall ist Gewaltenteilung eine Art von Arbeitsteilung. Im negativen Fall neutralisieren sich die Gewalten als "Blockadespieler" und Regieren wird unmöglich. Speziell in Deutschlands Mehrebenenparlamentarismus gibt es bereits eine Reihe von Vetospielern.
Der Ombudsmann für künftige Generationen in Ungarn
Erfahrungen in anderen Ländern sollten bei der Konzeption der deutschen Zukunftsinstanz herangezogen werden. Es besteht Konsens in der Literatur, dass Ungarn und Israel die ernsthaftesten Versuche gemacht haben, eine Vertretung der Interessen kommender Generationen zu verwirklichen. In Israel wurde das politische Institutionengefüge durch eine Kommission mit dem Namen "Commission for Future Generations" (CfG), die von 2001 bis 2006 Bestand hatte, ergänzt. In Ungarn wurde Anfang 2008 durch eine Verfassungsänderung ein "Parliamentary Commissioner for Future Generations" mit starken Kompetenzen installiert, der allerdings schon drei Jahre später wieder weitgehend entmachtet wurde. Auch wenn beide Institutionen umfangreiche konstruktive Einwirkungsmöglichkeiten hatten, so entzündeten sich die Kontroversen an ihren Befugnissen, Gesetze und staatliche Aktivitäten aufzuhalten.
Rechtlich gesehen handelte es sich bei der ungarischen Institution um einen speziellen Ombudsmann, den "Future Generations Ombudsman" (FGO),
Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das weitreichende Mandat, das der FGO zwischen 2008 und 2011 hatte. Sein Büro hatte einen Mitarbeiterstab von 35 Angestellten, darunter 19 Anwälte, zwei Ökonomen, ein Ingenieur, zwei Biologen, ein Experte für Klimawandel und ein Arzt.
Die Aufgabe des Kommissars bzw. Ombudsmanns für künftige Generationen war in erster Linie umweltbezogen: die Bedingungen des Lebens und der Gesundheit heutiger und künftiger Generationen zu schützen und das gemeinsame Erbe der Menschheit, die Lebensqualität und ungehinderten Zugang zu natürlichen Ressourcen zu bewahren. Die Amtszeit des FGO betrug sechs Jahre, d.h. sie überstieg die der Parlamentarier/-innen um zwei Jahre. Nur eine Zweidrittelmehrheit des ungarischen Parlaments konnte ihn wählen oder sein Mandat wegen besonderer Umstände vorzeitig beenden.
Der Großteil der Aktivitäten des FGO bestand aus Mediation und Vermittlung – diese Aufgaben unterscheiden sich nicht wesentlich von denen von Ombudsleuten und Bürgerbeauftragten in Deutschland, die neben den Petitionsausschüssen die Bürger/-innen bei der Wahrnehmung ihrer Rechte gegenüber der Verwaltung unterstützen. Deswegen wurde der FGO aber nicht entmachtet. Fülöp war zusätzlich mit starken und sehr spezifischen Befugnissen ausgestattet, die an die Institution eines Generalstaatsanwaltes erinnern. Die im Jahr 2007 in den Ombudsman Act aufgenommenen Bestimmungen berechtigten den FGO, "die Durchsetzung von Regierungsentscheidungen aufzuheben, wenn ansonsten der Umwelt ernst zu nehmender Schaden zugefügt würde".
Aber immerhin: Der FGO musste zu jedem Gesetzentwurf bzw. zu jeder staatlichen Initiative konsultiert werden, durch die die Umwelt und die Nachhaltige Entwicklung beeinflusst werden könnte. Er konnte seine Position in parlamentarischen Ausschüssen präsentieren und hatte Rederecht bei parlamentarischen Plenarsitzungen. Dies nutzte er auch. So kam der FGO etwa zu dem Schluss, dass der Haushaltsentwurf 2010 ein ökonomisches Wachstumsmodell vertrete, welches die Chancen künftiger Generationen mindere.
Wie aber ging der FGO mit dem Unsicherheitsproblem um? Wie konnte er wissen, welche alternative politische Maßnahme kommenden Generationen (am meisten) nützen wird? In einem kontroversen Fall schöpfte der FGO alle ihm zur Verfügung stehenden rechtlichen Mittel aus, um eine große, für 50 Megawatt ausgelegte Biomasseanlage in der Pufferzone des Weinanbaugebietes und Weltkulturerbes Tokaj zu verhindern. Es ist in solchen Fällen kaum möglich, objektiv zu ermitteln, wie den Bedürfnissen und Interessen kommender Generationen am besten gedient wäre. Die Praxis zeigt also, dass das in der Literatur zu Generationengerechtigkeit zu findende "Unsicherheitsargument" ernst zu nehmen ist. Gleichzeitig schmälert dies nicht das Verdienst der ersten Staaten, die Vertreter kommender Generationen einsetzten, und damit das Institutionengefüge mutig und innovativ veränderten.
Ein praxisorientierter Vorschlag für eine Zukunftsinstanz in Deutschland
Maja Göpel nennt fünf Kriterien, die bei einer Zukunftsinstanz "universell wichtig für ein effektives Mandat sind":
Diese beiden neuen Institutionen, wiewohl personell und organisatorisch getrennt, bildeten zusammen die neue Zukunftsinstanz. Die Beschränkung dieser neuen Institution auf eine rein konstruktive Rolle sichert ihre Legitimation. Der Vorwurf einer Öko- bzw. Zukunftsdiktatur kann sinnvollerweise nur erhoben werden gegen Organisationen mit Vetorechten, da nur diese vom Parlament demokratisch getroffene Beschlüsse "aushebeln" können.
Das hier vorgeschlagene Modell, soweit es sich auf das Politikfeld Umwelt (das wichtigste Politikfeld des Anthropozäns) bezieht, ist anschlussfähig, aber auch unterscheidbar von früheren Vorschlägen in der Literatur. So haben u.a. Tine Stein und Johannes Rux (unabhängig voneinander) die Einrichtung eines Ökologischen Rates gefordert. So schlägt Stein vor, den Ökologischen Rat als eine Art Dritte Kammer mit aufschiebendem Vetorecht zu konzipieren, "um ökologischen Sand in das Getriebe der Normsetzung zu streuen".
Für Zukunftsinstanzen mit Vetorecht kursiert noch der Vorschlag des ehemaligen Präsidenten des Bundesumweltamtes Andreas Troge, den Bundespräsidenten zum "Anwalt für Nachhaltigkeit" zu machen und ihm eine neue Rolle zu geben: Gesetzesvorschläge, die nicht zukunftsfähig seien, nicht mehr abzuzeichnen.
Es stellt sich nun noch die Frage, wie die Besetzung der Räte künftig geregelt werden soll bzw. ob eine Veränderung gegenüber dem heutigen Besetzungsverfahren nötig ist. Eine Wahl durch die gesamte Bevölkerung würde zwar die formale Unabhängigkeit der Mitglieder der Organisation, auch und gerade gegenüber Legislative, Regierung und Judikative maximieren, böte aber den Nachteil, dass während der dann nötigen Wahlkämpfe die Gegenwartspräferenz des Wahlvolkes obsiegen könnte. Insofern erscheint ein Berufungsverfahren sinnvoller.
Es wäre naiv zu glauben, dass die Legislative alle Vorschläge der Vierten Kammer begeistert aufnehmen und umsetzen wird. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass das Parlament einen Großteil der Gesetzesinitiativen, die aus dem Ökologischen Rat und dem Finanzrat kommen, in Ausschüsse verweist und dort einen stillen Tod durch Nichtbehandlung sterben lässt.
Das Prinzip der Gewaltenteilung ist nicht nur angebracht für Modelle, in denen alle Gewalten gleich mächtig sind, sondern auch für solche, in denen eine Gewalt deutlich weniger Durchsetzungskraft hat als die anderen. Vielleicht charakterisiert der Begriff "3½-Gewalten-Modell" den oben gemachten Vorschlag für eine Zukunftsinstanz, bestehend aus Ökologischem Rat und Finanzrat, am besten.