Essay
Das Ergebnis der letzten Wahlen zum Bundestag, auch der zum hessischen Landtag und neuerdings auch der Wahlen zum Europäischen Parlament hat das Nachdenken über eine radikale Wahlrechtsänderung, das viele Jahre geruht hat,
Es ist falsch, das bundesdeutsche Wahlsystem als ein "Mischsystem von Mehrheits- und Verhältniswahl" zu bezeichnen. Zwar wird in den Wahlkreisen mit der Erststimme nach relativer Mehrheitswahl gewählt, was eine gewisse, freilich nicht sehr ausgeprägte Personalisierung bedeutet. Aber dann erhält jede Partei für jedes so erzielte Direktmandat ein durch die Zweitstimme bestimmtes Listenmandat weniger. Der Bundestag wird damit weitgehend nach dem Verhältniswahlsystem gewählt, – weitgehend, denn es gibt die Fünfprozentsperrklausel.
Wahlen in einem parlamentarischen Regierungssystem
Die vorrangige Funktion der Wahl in einem parlamentarischen Regierungssystem ist es, regierungsfähige Mehrheiten und die Chance eines Machtwechsels sicherzustellen. Eine bisweilen vorgeschlagene Senkung der Sperrklausel auf vier oder gar drei Prozent würde nur zu einer weiteren und zumeist verheerenden Zersplitterung im Parlament führen, verheerend insbesondere deswegen, weil dann sogar Kleinstparteien leicht zum – für nichts haftenden – Zünglein an der Waage mit einem weit überproportionalen Einfluss auf die Politik der Regierung werden können. Wenn man denn überhaupt das Verhältniswahlsystem beibehalten will, kommt nur eine Erhöhung der Sperrklausel auf zehn Prozent in Betracht. Will man jedoch eine durchlaufende politische Willensbildung, die vom Volk über durch Parteien organisierte Wahlen und über das Parlament zu einer handlungsfähigen Regierung und dem Schattenkabinett der Opposition als möglicher Alternativregierung führt, dann muss man sich für das relative Mehrheitswahlsystem
Auch die Frage der Gerechtigkeit muss man auf Machtbildung, Machtausübung und möglichen Machtwechsel beziehen, nicht auf Wiedergabe eines politischen Bekenntnisses. In Deutschland geben die Wähler den Parteien quasi eine Blankovollmacht für einen politischen "Kuhhandel". Den nach einer Wahl von allen Parteien regelmäßig beschworenen Wählerwillen gibt es in diesem System nicht. Die Parteien sind selbst erst Quelle des politischen Willens, der den Wählern im Rahmen einer Koalition als vollendete Tatsache vorgesetzt wird, die übrigens mangels Zurechenbarkeit auch nie vom Wähler sanktioniert werden kann, da ihm ja in Bezug auf die Koalition als ganze eine Wahlentscheidung gar nicht möglich ist.
Vor der Wahl zum Deutschen Bundestag im September 2013 war die beschriebene Lage evident. In einem parlamentarischen Regierungssystem geht es bei einer solchen Wahl zwar direkt um die Zusammensetzung des Parlaments, indirekt aber zugleich um die durch dieses danach gebildete Regierung. Und bei eben diesem entscheidenden zweiten Schritt kann der deutsche Wähler kein gezieltes Votum abgeben. Insofern hat ein Vier- oder Fünfparteiensystem keineswegs den ihm gern zugeschriebenen Vorteil einer größeren Auswahl. Als mögliche Koalitionen, je nach Wahlausgang, kamen 2013 etwa in Betracht: Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot, Schwarz-Grün, Rot-Grün, Rot-Rot-Grün, Rot-Grün-Gelb. Bei jeder dieser Kombinationen ist es möglich, dass für einen Wähler einer der Koalitionspartner zwar vor allen anderen die Priorität hat, die Verbindung mit bestimmten anderen für diesen Wähler jedoch auf keinen Fall akzeptabel ist. Kurz: Der deutsche Wähler hat in Bezug auf die Bildung einer Regierung und deren Politik weder eine Wahl noch eine ernsthafte Sanktionsmöglichkeit. So wurde ausgerechnet die CDU/CSU, deren Koalitionsregierung 2013 abgewählt wurde, benötigt, um wieder eine Regierung zu bilden, da die eine Parlamentsmehrheit bildenden anderen drei Parteien miteinander nicht koalitionsfähig waren. Jedenfalls kann aber mit Bezug auf die (alles entscheidende) Regierungsbildung von einem klar erkennbaren Wählerwillen keine Rede sein. Der Wähler selber kann nur ein politisches Bekenntnis ablegen und hoffen, dass die anschließenden Koalitionsverhandlungen zu einer ihm genehmen Politik führen.
Würde in Deutschland wie in Großbritannien gemäß dem System der relativen Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen gewählt, dann wären FDP, Grüne und Linke gar nicht oder nur mit einigen wenigen
Die Wahlergebnisse vom 22. September 2013 im Bund beziehungsweise in Hessen entsprechen vollständig den vorgetragenen Überlegungen. Auch eine mit dem Verhältniswahlsystem verbundene Gefahr zeigt sich darin geradezu modellhaft. Zwar wurde durch die segensreiche Fünfprozentklausel der Einzug von kleinen Parteien wie FDP und AfD verhindert. Dennoch kam es im Bund zur Regierungsbildung einer Großen Koalition; und auch in Hessen sah es lange danach aus. Das bedeutet aber zugleich, dass die Opposition nicht als Regierungsalternative in Betracht kommt. Freilich ist mit Bezug auf die Funktionsbedingungen eines parlamentarischen Regierungssystems die entscheidende Frage gar nicht: große oder kleine Koalition, sondern: Koalitions- oder Einparteienregierung.
Zu erwartender Effekt bei relativer Mehrheitswahl
Nimmt man für 2013 unter der Hypothese eines relativen Mehrheitswahlsystems die Erststimmenergebnisse aus den einzelnen Wahlkreisen und unterstellt dabei, dass viele potenzielle Wähler von FDP und Linkspartei, weil deren Kandidaten unter einem solchen System, von ganz wenigen Wahlkreisen abgesehen, chancenlos wären, ihre jeweils Eine Stimme im Falle der FDP-Sympathisanten an die CDU/CSU, im Falle der mit der Linken Sympathisierenden an die SPD gegeben hätten,
2013 ging sowohl im Bund als auch in Hessen die jeweilige schwarz-gelbe Regierungsmehrheit verloren. Bei relativer Mehrheitswahl und dem sich dabei regelmäßig herausbildenden Zweiparteiensystem hätte mit dieser Abwahl der Regierung zugleich festgestanden, welche Partei die nächste Regierung bilden würde: aus "Her Majesty’s Most Loyal Opposition" würde dann "Her Majesty’s Government". In der deutschen politischen Wirklichkeit fehlt durchweg die geballte, für eine Alternativregierung ausreichende oppositionelle Kraft.
Die Lage in Großbritannien
Als Einwand gegen das hier Vorgetragene kommt bisweilen der Hinweis, dass auch Großbritannien seit 2010 nur durch eine Koalition regiert werden kann. Diese Tatsache, übrigens eine seltene Ausnahme, hat jedoch im Rahmen des britischen politischen Systems einen gänzlich anderen Stellenwert als im Rahmen des deutschen.
In der Geschichte der Bundesrepublik hatte nur einmal, in der Wahlperiode 1957 bis 1961, eine Partei, die CDU/CSU, eine absolute Mehrheit im Bundestag. In der übrigen Zeit mussten stets Regierungskoalitionen gebildet werden.
Erst 2010 wurden Liberale wieder an einer Regierung beteiligt. Allerdings hatte es vorher eine bedeutsame Veränderung gegeben. Ihre unter dem geltenden Wahlsystem nahezu aussichtslose Lage hatte sie gezwungen, mit der für sich allein ebenso aussichtslosen Social Democratic Party zunächst Wahlallianzen zu bilden und sich dann 1988 mit ihr zur Partei der Liberal Democrats zu verbinden. Damit verbesserte sich ihre Lage mehr und mehr; 2010 brachten sie es auf 23 Prozent der Stimmen und auf 57 von 650 Sitzen (Konservative: 36,1 Prozent und 307 Sitze; Labour: 29,0 Prozent und 258 Sitze).
In diesem Zusammenhang fällt auch die Behauptung, das System der relativen Mehrheitswahl sei akzeptabel in einem Zweiparteiensystem, aber nicht in einem Mehrparteiensystem. Nun waren im britischen Unterhaus in den vergangenen hundert Jahren stets mindestens drei, meist sogar mehr Parteien vertreten; zur Zeit sind es außer den drei großen neun Splitterparteien, sie haben 11,9 Prozent der Stimmen und 34 Sitze. Der Unterschied zwischen dem Regierungssystem in Großbritannien und in Deutschland
Regierungs- versus Bekenntniswahlsystem
Der entscheidende systemische Unterschied zwischen Großbritannien und Deutschland liegt, wie gesagt, darin, dass es dort in der Regel Einparteienregierungen gibt, hier jedoch durchweg Koalitionsregierungen mit den erwähnten demokratischen Defiziten.
Großbritannien hat ein zentripetal wirkendes Regierungswahlsystem und ist eine parlamentarische Demokratie. Zwar wählt auch dort das Volk direkt nur ein Parlament, doch indirekt entscheidet es über die auf diesem Weg gebildete Regierung.
Deutschland hat ein zentrifugal wirkendes Bekenntniswahlsystem und ist eher so etwas wie eine parlamentarische Demoskopie. Auch hier wählt das Volk direkt ein Parlament, doch zugleich erschöpft sich darin seine Entscheidungsgewalt. Mit Bezug auf eine demokratische Herrschaft kommt es aber nicht so sehr darauf an, wie das Wahlvolk im Parlament repräsentiert, sondern viel mehr darauf, wie – und gegebenenfalls von wem – die Herrschaft ausgeübt und kontrolliert wird.
Das Verhältniswahlsystem konveniert mit einer konstitutionellen Monarchie, in der das Parlament als "Volksvertretung" gegenüber dem König fungiert, dem allein die Minister verantwortlich sind. In einem parlamentarischen Regierungssystem hingegen stehen im Parlament Regierungsmehrheit plus Regierung und Opposition einander gegenüber. Doch während in Großbritannien die Regierungsmehrheit in der Regel die Mehrheit einer einzigen Partei ist und mit der Regierung eine Einheit bildet, fehlt in Deutschland eben diese Einheit; und während sich in Großbritannien der Wähler mit seinem Votum für eine Partei zugleich zugunsten einer bestimmten Regierung entscheidet, hat er diese Möglichkeit in Deutschland nicht.
Exemplarisch zeigte sich der Vorteil der relativen Mehrheitswahl Anfang 2008 bei den Präsidentenwahlen in Serbien. Beim ersten Wahlgang konnten beliebig viele Kandidaten antreten, und entsprechend konnte der Wähler seiner Präferenz freien Lauf lassen. Das führte zur Zersplitterung, sodass kein Kandidat die erforderliche absolute Mehrheit erhielt. Deshalb kam es zur Stichwahl zwischen den beiden erfolgreichsten Kandidaten. Dabei gewann nun keineswegs Tomislav Nikolić, der im ersten Wahlgang mit 40 zu 35 Prozent vorn gelegen hatte, sondern Boris Tadić. Diesem war es nämlich mehr als seinem Konkurrenten gelungen, Wähler der erfolglosen Kandidaten von sich zu überzeugen. Es sind diese Wähler, die bei ihrer Entscheidung für einen der beiden Kandidaten ebenso einen Kompromiss eingingen, wie es britische Wähler bei den Wahlen zum Unterhaus tun. In Deutschland dagegen kommt es ohne Wählerbeteiligung erst nach den Wahlen in den Koalitionsverhandlungen zu einem Kompromiss.
Verhältniswahl als Schönwettersystem
Die Verteidiger der Verhältniswahl erwarten sich von ihr ein quantitativ möglichst genaues Abbild der in der Wählerschaft vertretenen politischen Positionen im Parlament. Dies setzt freilich voraus, dass etwas vorhanden ist, das gemessen werden kann, und dass es eine Messmethode gibt, die dieses Etwas misst, ohne selbst das Messergebnis zu beeinflussen. Nun ist aber erstens der sogenannte Wählerwille gar nicht in festen Positionen abgrenzbar, sondern ständig in Bewegung und kann daher als abzubildende Tatsache gar nicht gemessen werden. Zweitens beeinflusst bereits die Wahl als Messmethode ihrerseits den politischen Willen der Wähler, indem sie eine bestimmte Fragestellung impliziert. Von dieser Fragestellung hängt es ab, ob die Wahl zu politischer Integration oder zu politischer Zersplitterung führt. Die Fragestellung der Verhältniswahl akzentuiert das Trennende der einzelnen Parteien gegenüber dem Gemeinsamen, während die Fragestellung der relativen Mehrheitswahl den Nachdruck auf das Übereinstimmende legt und die Unterschiede abschwächt. Ein Spiegelbild des Wählerwillens vermag kein einziges Wahlsystem zu schaffen – und soll es auch gar nicht.
Der gegen eine Änderung des Wahlsystems ebenfalls bemühte Hinweis auf die politische Stabilität, die in der Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Gründung geherrscht habe, übersieht, dass dies nicht etwa wegen, sondern trotz des geltenden Wahlsystems der Fall war. Es handelt sich bei diesem gleichsam um ein Schönwettersystem. Schlägt das Wetter um (und es gibt seit längerem Anzeichen dafür), dann kann es schnell zur Zersplitterung und damit zu niederländischen, österreichischen oder israelischen und schlimmstenfalls zu Weimarer Verhältnissen kommen. Schon die gegenwärtige Situation im Bund ist ja alles andere als ein demokratietheoretisch wünschenswerter Zustand.
Wenn denn nach der Bundestagswahl von 2013 aus den bekannten Gründen eine Große Koalition unausweichlich war, dann wären die Politiker von CDU/CSU und SPD gut beraten, jetzt das zu tun, was nur mit ihr möglich ist und was ihre Parteien schon einmal beabsichtigten und sogar als wichtiges Vorhaben in den Vertrag für die erste Große Koalition (1966 bis 1969) aufnahmen: die Einführung eines Mehrheitswahlsystems. Leider scheiterte der Plan damals am Widerstand der SPD, die für sich Nachteile fürchtete. Es ist aber falsch, auf der Basis von Verhältniswahlergebnissen ein kurzfristiges Machtkalkül in Bezug auf Mehrheitswahlbedingungen anzustellen. Es geht nicht um das mögliche nächste Wahlergebnis, sondern um den langfristigen Effekt. Dieser aber läge im Interesse nicht nur beider Parteien, CDU/CSU und SPD, sondern – richtig betrachtet – sogar der scheinbar bedeutungslos werdenden anderen politischen Gruppierungen der Wählerschaft, insofern diese sehr bald in den Werbebrennpunkt der zwei großen Parteien gerieten.
Die Orientierung am britischen Modell läge allerdings nicht nur im deutschen, sondern auch im europäischen Interesse. In den jüngsten Wahlen zum europäischen Parlament wurde eine erhebliche zentrifugale Tendenz sichtbar. Zwar hätte der Einzug der zahllosen Splitterparteien ins Parlament durch eine Fünfprozenthürde verhindert werden können, nicht jedoch ein Parlament mit gegenwärtig sieben Fraktionen. Möglich wäre eine parlamentarische Regierungsbildung nur entweder durch eine große Koalition aus Europäischer Volkspartei (EVP) und Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D) oder durch eine Koalition von mindestens vier Fraktionen.
Leider wird man abschließend feststellen müssen, dass es, nachdem die gute Gelegenheit zu einer radikalen Änderung des Wahlsystems von der ersten Großen Koalition vertan wurde, für die gegenwärtige Große Koalition sehr schwierig sein dürfte – wenn sie es denn überhaupt wollte! –, den Schritt zu tun. Es müsste eine breite öffentliche Diskussion angeregt und eine gewaltige Aufklärungsarbeit geleistet werden, um die notorischen Missverständnisse auszuräumen und die Allgemeinheit vom Interesse des Gemeinwesens an dieser Änderung zu überzeugen.