Die achten Direktwahlen zum Europäischen Parlament (EP), die zwischen dem 22. und 25. Mai 2014 stattfanden, stellen in mehrerlei Hinsicht eine Zäsur dar. Vor allem zwei Aspekte verdienen hervorgehoben zu werden. Auf der einen Seite ist es zu einem deutlichen Stimmenzuwachs der euroskeptischen und -feindlichen Parteien gekommen. Auch wenn dieser nicht ganz so stark ausfiel wie zunächst befürchtet, wird es für die pro-europäisch aufgestellten Parteien dadurch schwieriger, die Vertiefung und Erweiterung der Integration in den kommenden Jahren voranzutreiben.
Wer bestellt den Kommissionspräsidenten?
Wie epochal der Vorgang ist, lässt sich daran ablesen, dass er von den einen als "Kriegserklärung"
Bis 1994 wurde der Kommissionspräsident "im gegenseitigen Einvernehmen" der mitgliedsstaatlichen Regierungen vom Europäischen Rat ernannt. Danach ist das Verfahren schrittweise an mehreren Stellen verändert worden, um die demokratische Legitimation des Amtes zu stärken:
Zunächst führte man im Maastricht-Vertrag (1992) die Investiturabstimmung ein; die Benennung durch die Staats- und Regierungschef bedurfte fortan der Zustimmung des Europäischen Parlaments. Gleichzeitig wurde eine Regelung aufgenommen, welche die Amtsdauer des Kommissionspräsidenten, die bis dahin vier Jahre betragen hatte, mit der fünfjährigen Wahlperiode des EP verknüpfte.
Im Nizza-Vertrag (2001) wurde bestimmt, dass die Nominierung des Kommissionspräsidenten durch den Europäischen Rat nicht mehr einstimmig erfolgen sollte, sondern mit qualifizierter Mehrheit. Dies gelangte bei der Installierung der Barroso-Kommission 2004 erstmals zur Anwendung.
Im Lissabon-Vertrag (2009) wurde schließlich ein Passus neu aufgenommen, wonach bei der Nominierung die Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament "zu berücksichtigen" seien. Außerdem wertete man die Investiturabstimmung zu einer förmlichen "Wahl" des Kommissionspräsidenten durch das Parlament auf (Artikel 17 Absatz 7 EUV).
Die Bestimmungen des Lissabon-Vertrages änderten am Grundcharakter des Bestellungsverfahrens allerdings erst einmal nichts. Weil die Nominierung des Kommissionspräsidenten im Konsens erfolgte (auch wenn sie formal nur eine qualifizierte Mehrheit verlangte), konnte sich der Rat bei seinem Vorschlag auf eine hohe Legitimation stützen. Dies machte es dem Parlament praktisch unmöglich, den Kandidaten abzulehnen. Bei Lichte betrachtet handelte es sich also nicht um eine "Wahl", wie der Vertrag sagt, sondern weiterhin nur um ein Bestätigungsrecht. Die eigentliche Bestellungsfunktion verblieb bei den Staats- und Regierungschefs, die durch das Wahlergebnis lediglich auf die parteipolitische Zugehörigkeit des Kandidaten festgelegt waren, nicht aber auf eine konkrete Person.
Mit der Vorabfestlegung auf die Spitzenkandidaten haben Rat und Parlament ihre Rollen bei der Bestellung jetzt getauscht.
Heißt das nun, dass die EU mit den Europawahlen einen weiteren, vielleicht sogar den entscheidenden Schritt hin zu einer parlamentarischen Demokratie gemacht hat? Um diese Frage zu beantworten ist es notwendig, zwischen der Demokratisierung und Parlamentarisierung des Regierungssystems zu unterscheiden. Demokratie bedeutet, dass die Bürger eines Staates bzw. politischen Systems die Möglichkeit haben (müssen), in Wahlen über das Regierungspersonal und die Grundrichtung der Regierungspolitik zu entscheiden. Die Demokratisierung wird dabei durch die gemeinschaftlichen Bande einer sprachlich, kulturell und ethnisch zusammengehörenden Nation erleichtert, ist aber nicht zwingend an diese gebunden.
Kein Ausweg aus dem Demokratiedefizit?
Was die demokratische Qualität der europäischen Politik angeht, zeigt ein nüchterner Blick auf die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen, dass der stetige Kompetenzzuwachs des Parlaments nicht zu einem gleichlautenden Legitimationszuwachs der supranationalen Institutionen geführt hat. Betrug die Beteiligung bei der ersten Direktwahl 1979 immerhin 62 Prozent, so ist sie anschließend von Wahl zu Wahl bis auf 43 Prozent (2009) zurückgegangen. Die Erwartung, dass durch die Aufstellung EU-weiter Spitzenkandidaten 2014 ein Mobilisierungsschub eintreten und die Wahlbeteiligung ansteigen würde, wurde enttäuscht; der Wert blieb mit 43,1 Prozent nahezu unverändert.
Die geringe Attraktivität der Europawahlen hängt mit der Konfliktstruktur der europäischen Politik zusammen. So wie bei früheren Wahlen verliefen die Trennlinien auch bei dieser Wahl in erster Linie zwischen den pro- und antieuropäischen Kräften, und nicht zwischen "links" und "rechts". Unter dem Druck der rechtspopulistischen Euroskeptiker waren die beiden großen Parteienfamilien sogar gezwungen, politisch noch enger zusammenzurücken. Weil die beiden Spitzenkandidaten keine grundsätzliche Alternative bereithielten und unterschiedliche Positionen nur in Nuancen sichtbar machten,
Parlamentarisches oder präsidentielles System?
Auch die zweite Frage lässt sich nur bedingt bejahen. Die Bestellung des Kommissionspräsidenten durch das Parlament ist noch nicht gleichbedeutend mit der Etablierung eines parlamentarischen Regierungssystems. Ein solches läge erst vor, wenn die Kommission in ihrer Amtsführung und ihrem Bestand dauerhaft auf die Unterstützung der sie bestellenden Parlamentsmehrheit angewiesen wäre, was institutionell durch die Möglichkeit der Abberufung (in Gestalt eines Misstrauensvotums) verbürgt wird. In der EU ist dieses Merkmal nicht erfüllt. Artikel 17 Absatz 8 EUV bestimmt zwar, dass die Kommission "als Kollegium dem Europäischen Parlament verantwortlich (ist)". Weil die Abwahl der Kommission eine Zweidrittelmehrheit im Parlament voraussetzt, handelt es sich dabei aber um keine politische Verantwortlichkeit im engeren Sinne. So wie das Impeachment im präsidentiellen System ist das Misstrauensvotum gegen die Kommission in erster Linie als Vorkehrung gegen Rechtsverstöße oder sonstige Pflichtverletzungen gedacht. Auch die Absetzung einzelner Kommissare kann laut Artikel 245 AEUV nur durch Beschluss des Europäischen Gerichtshofs (auf Antrag des Rates oder der Kommission) erfolgen. Der "abweichende" Charakter des Misstrauensvotums erklärt zugleich, warum es im Regierungssystem der EU keine Möglichkeit der vorzeitigen Parlamentsauflösung gibt. Misstrauensvotum und Parlamentsauflösung sind im "normalen" parlamentarischen System Seiten derselben Medaille. Wenn die Regierung ihre Mehrheit im Parlament verliert, muss ja Vorsorge getroffen werden, dass eine neue Mehrheit entsteht. Auch in dieser Hinsicht ähnelt die EU folglich eher der präsidentiellen Regierungsform.
Diese Affinität spiegelt sich in der Funktionsweise ihres Parlamentarismus wider. An die Stelle eines festgefügten Dualismus von regierungstragender Mehrheit und Opposition treten im EP unterschiedliche legislative Abstimmungskoalitionen. Auch in den Fraktionen ist die Geschlossenheit geringer ausgeprägt, als es die Parlamentarier von ihren nationalen Regierungssystemen her gewohnt sind. Die meisten von ihnen empfinden die Arbeit im EU-Parlament deshalb als wohltuend. Im normalen parlamentarischen System erleiden die Abgeordneten das Schicksal, dass sie entweder – wenn sie zur Opposition gehören – nicht regieren können oder – wenn sie Teil des Regierungslagers sind – nicht regieren dürfen. In der EU hat sich das Parlament dagegen gerade durch seine relative Unabhängigkeit von der Kommission ein erhebliches Maß an eigener Gestaltungsmacht bewahrt. Diese würde es in einem System, das auf dem Gegenüber von Regierung und Opposition basiert, zwangläufig einbüßen. Zudem ist fraglich, ob ein solches Gegenüber ohne ideologisch und organisatorisch gefestigte Parteien (die es auf EU-Ebene bislang nicht gibt) überhaupt funktionieren kann.
Die Alternative wäre eine Fortentwicklung des Systems auf dem präsidentiellen Pfad. Anstelle des Parlaments (und/oder des Europäischen Rates) erhielten die Bürger das Recht, den Kommissionspräsidenten direkt zu wählen. Ein solcher Reformansatz wäre nicht nur institutionell schlanker als das parlamentarische Modell, da er weder Veränderungen beim Misstrauensvotum noch die Einführung eines Auflösungsrechts nach sich zöge; er würde auch geringere Anforderungen an eine Europäisierung des Parteiensystems stellen. In der wissenschaftlichen und politischen Diskussion findet der Vorschlag inzwischen immer mehr Befürworter; die CDU hat ihn auf Drängen von Wolfgang Schäuble sogar offiziell in ihr Parteiprogramm aufgenommen.
Welche weiteren Reformschritte wären notwendig?
Unabhängig davon, welche Regierungsform die EU letztlich anstrebt und welche Fortschritte sie bei der Politisierung ihrer Zuständigkeiten macht, müssen für eine Demokratisierung des Entscheidungssystems mindestens zwei weitere institutionelle Bedingungen vorliegen. Erstens bedarf es eines gemeinsamen, EU-einheitlichen Wahlrechts. Dieser Verfassungsauftrag gemäß Artikel 223 Absatz 1 AEUV hätte eigentlich längst erfüllt werden müssen. Weil das nicht geschehen ist, besteht in der EU die paradoxe Situation, dass die europäischen Parteien zwar den Parlamentsbetrieb bestimmen, bei den Europawahlen aber nach wie vor nur die nationalen Herkunftsparteien kandidieren.
Die zweite Bedingung betrifft die Bildung der Kommission. Wird der Kommissionspräsident vom Parlament bestellt oder sogar von den Bürgern direkt gewählt, kann er sich auf eine demokratische Legitimation stützen, die seine Stellung im Verhältnis zum Rat (und im Falle der Direktwahl auch im Verhältnis zum Parlament) aufwertet. Eine solche Aufwertung macht aber nur Sinn, wenn er zugleich über Mittel verfügt, die Positionen, für die er in der Wahl gestritten und ein Mandat bekommen hat, politisch umzusetzen. Dazu braucht es Kommissare an seiner Seite, die gleichgerichtete Ziele verfolgen und strukturell in der Lage sind, die entsprechenden Initiativen zu entwickeln.
So wie die Kommission heute ins Amt kommt und zusammengesetzt ist, lässt sich das nicht gewährleisten. Einerseits beschränkt das Festhalten am gleichberechtigten Vertretungsanspruch aller 28 Mitgliedsstaaten ihre Arbeitsfähigkeit; das Gremium ist zu groß und die Abgrenzung der Ressorts wenig sachgerecht. Andererseits hat der Kommissionspräsident kaum Möglichkeiten, auf die personelle Auswahl der Kommissare Einfluss zu nehmen, da diese ausschließlich von den Regierungen der Mitgliedsstaaten nominiert werden. Die Zusammenstellung der Kommission reflektiert insofern eher die nationalen Wahlergebnisse als das Ergebnis der Europawahlen. Lediglich über die Ressortzuteilung kann der Kommissionspräsident weitgehend selbst entscheiden.
Wie könnte man die beiden Probleme lösen?
Ein anderer Verstoß gegen das Demokratieprinzip, der insbesondere von rechtswissenschaftlicher Seite immer wieder moniert wird,
Die Verletzung des Gleichheitsprinzips könnte allerdings ein zusätzliches Argument für zwei andere, hier diskutierte Reformansätze bereithalten: die Schaffung eines einheitlichen Wahlsystems und die Direktwahl der Kommissionsspitze. Was das Wahlsystem betrifft, bleibt es zwar eine offene Frage, ob man dabei ganz ohne Länderkontingente auskommt. Ein einheitliches Wahlrecht würde aber die Chance eröffnen, die gewünschte Bevorzugung der kleinen Länder auf die Ebene der Kandidatenaufstellung und damit der Parteien zu verlagern. Die Direktwahl hätte wiederum den Vorteil, dass die Stimmengleichheit zumindest bei der Bestellung des exekutiven Zweigs der Union gewahrt bliebe. Dies gilt allerdings nur, wenn der Kommissionspräsident tatsächlich direkt gewählt wird. Die Alternative wäre ein indirektes Verfahren wie in den USA, wo die Wahl des Präsidenten bis heute formal getrennt nach Bundesstaaten erfolgt und die bevölkerungsschwachen Staaten im Wahlmännergremium leicht begünstigt sind.