Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die Europäische Union auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie? | Parlamentarismus | bpb.de

Parlamentarismus Editorial Die Europäische Union auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie? Über das Politikmanagement einer modernen Opposition Auszug: Minderheitenrechte in der 18. Wahlperiode Stellschrauben der Minderheitsmacht: Opposition im internationalen Vergleich Regierungs- oder Bekenntniswahlsystem? Ein Plädoyer für das relative Mehrheitswahlrecht Losverfahren: Ein Beitrag zur Stärkung der Demokratie? Parlamente und künftige Generationen – das 4-Gewalten-Modell

Die Europäische Union auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie?

Frank Decker

/ 14 Minuten zu lesen

Die achten Direktwahlen zum Europäischen Parlament (EP), die zwischen dem 22. und 25. Mai 2014 stattfanden, stellen in mehrerlei Hinsicht eine Zäsur dar. Vor allem zwei Aspekte verdienen hervorgehoben zu werden. Auf der einen Seite ist es zu einem deutlichen Stimmenzuwachs der euroskeptischen und -feindlichen Parteien gekommen. Auch wenn dieser nicht ganz so stark ausfiel wie zunächst befürchtet, wird es für die pro-europäisch aufgestellten Parteien dadurch schwieriger, die Vertiefung und Erweiterung der Integration in den kommenden Jahren voranzutreiben. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass die Wahlen auf der anderen Seite tatsächlich zu einer Vertiefung der Integration beigetragen haben, nämlich in institutioneller Hinsicht. Nachdem die großen Parteienfamilien zum ersten Male bereit waren, mit EU-weiten Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten anzutreten, ist es dem Europäischen Parlament gelungen, dem Europäischen Rat das Bestellungsrecht der europäischen Exekutivspitze faktisch zu entwinden. Damit wurde eine Verfassungspraxis etabliert, hinter der die Union auch bei künftigen Wahlen kaum mehr zurückfallen dürfte – selbst wenn einige Mitglieder des Europäischen Rates (wie Kanzlerin Angela Merkel) das heute noch nicht wahrhaben wollen.

Wer bestellt den Kommissionspräsidenten?

Wie epochal der Vorgang ist, lässt sich daran ablesen, dass er von den einen als "Kriegserklärung" (Merkel) und von anderen als "kleine Revolution" bezeichnet wurde. In Wahrheit handelt es sich bestenfalls um eine "Selbstermächtigung", die in vollem Einklang mit dem Wortlaut des Lissabonner Vertrages steht. Mit ihr schreibt das Parlament den kontinuierlichen Machtzuwachs fort, den es im Verhältnis zu Rat und Kommission in der Vergangenheit erfahren hat. Dieser Machtzuwachs ist gemeint, wenn von der "Parlamentarisierung" des EU-Regierungssystems gesprochen wird. Er lässt sich zum einen an den legislativen Kompetenzen festmachen, die das EP in weiten Teilen zum gleichberechtigten Gesetzgeber gemacht haben, zum anderen an seinen Mitwirkungsrechten bei der Bestellung der Kommission.

Bis 1994 wurde der Kommissionspräsident "im gegenseitigen Einvernehmen" der mitgliedsstaatlichen Regierungen vom Europäischen Rat ernannt. Danach ist das Verfahren schrittweise an mehreren Stellen verändert worden, um die demokratische Legitimation des Amtes zu stärken:

  • Zunächst führte man im Maastricht-Vertrag (1992) die Investiturabstimmung ein; die Benennung durch die Staats- und Regierungschef bedurfte fortan der Zustimmung des Europäischen Parlaments. Gleichzeitig wurde eine Regelung aufgenommen, welche die Amtsdauer des Kommissionspräsidenten, die bis dahin vier Jahre betragen hatte, mit der fünfjährigen Wahlperiode des EP verknüpfte.

  • Im Nizza-Vertrag (2001) wurde bestimmt, dass die Nominierung des Kommissionspräsidenten durch den Europäischen Rat nicht mehr einstimmig erfolgen sollte, sondern mit qualifizierter Mehrheit. Dies gelangte bei der Installierung der Barroso-Kommission 2004 erstmals zur Anwendung.

  • Im Lissabon-Vertrag (2009) wurde schließlich ein Passus neu aufgenommen, wonach bei der Nominierung die Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament "zu berücksichtigen" seien. Außerdem wertete man die Investiturabstimmung zu einer förmlichen "Wahl" des Kommissionspräsidenten durch das Parlament auf (Artikel 17 Absatz 7 EUV).

Die Bestimmungen des Lissabon-Vertrages änderten am Grundcharakter des Bestellungsverfahrens allerdings erst einmal nichts. Weil die Nominierung des Kommissionspräsidenten im Konsens erfolgte (auch wenn sie formal nur eine qualifizierte Mehrheit verlangte), konnte sich der Rat bei seinem Vorschlag auf eine hohe Legitimation stützen. Dies machte es dem Parlament praktisch unmöglich, den Kandidaten abzulehnen. Bei Lichte betrachtet handelte es sich also nicht um eine "Wahl", wie der Vertrag sagt, sondern weiterhin nur um ein Bestätigungsrecht. Die eigentliche Bestellungsfunktion verblieb bei den Staats- und Regierungschefs, die durch das Wahlergebnis lediglich auf die parteipolitische Zugehörigkeit des Kandidaten festgelegt waren, nicht aber auf eine konkrete Person.

Mit der Vorabfestlegung auf die Spitzenkandidaten haben Rat und Parlament ihre Rollen bei der Bestellung jetzt getauscht. Die bisherige förmliche Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament wird zur faktischen Wahl aufgewertet, während die bisherige faktische Nominierung durch den Rat auf ein förmliches Vorschlagsrecht absinkt. Befürworter dieser Entwicklung weisen darauf hin, dass sich die Emanzipation der Parlamente in den nationalen Demokratien Europas historisch ähnlich vollzogen habe und das förmliche Vorschlags- oder Ernennungsrecht des Regierungschefs dort bis heute bei den jeweiligen Staatsoberhäuptern liege. Auch wenn man die Parallele nicht überstrapazieren sollte, befindet sich der Europäische Rat gegenüber Parlament und Kommission in einer vergleichbaren Position. Im Unterschied zu den Präsidenten und Monarchen in den nationalstaatlichen Demokratien bleiben die Staats- und Regierungschefs der EU bei der Bestellung aber nicht ganz außen vor, da sie als Vorsitzende der großen nationalen Parteien an der Nominierung der gemeinsamen europäischen Kandidaten unmittelbar beteiligt sind.

Heißt das nun, dass die EU mit den Europawahlen einen weiteren, vielleicht sogar den entscheidenden Schritt hin zu einer parlamentarischen Demokratie gemacht hat? Um diese Frage zu beantworten ist es notwendig, zwischen der Demokratisierung und Parlamentarisierung des Regierungssystems zu unterscheiden. Demokratie bedeutet, dass die Bürger eines Staates bzw. politischen Systems die Möglichkeit haben (müssen), in Wahlen über das Regierungspersonal und die Grundrichtung der Regierungspolitik zu entscheiden. Die Demokratisierung wird dabei durch die gemeinschaftlichen Bande einer sprachlich, kulturell und ethnisch zusammengehörenden Nation erleichtert, ist aber nicht zwingend an diese gebunden. Unter Parlamentarismus versteht man, dass ein gewähltes Parlament im Rahmen einer gewaltenteiligen Struktur über substanzielle (Mit)Regierungsbefugnisse verfügt. Diese Befugnisse umfassen in jedem Falle die Gesetzgebung, sie können – müssen aber nicht zwingend – auch das Recht umfassen, die Regierung zu bestellen und abzuberufen. Im ersten Fall liegt ein präsidentielles, im zweiten ein parlamentarisches Regierungssystem vor. Zu beantworten sind demnach zwei Fragen: Ist die europäische Politik durch den Übergang der Bestellungsfunktion vom Europäischen Rat auf das Europäische Parlament demokratischer geworden? Und hat sie sich institutionell in Richtung der parlamentarischen Regierungsform weiterentwickelt?

Kein Ausweg aus dem Demokratiedefizit?

Was die demokratische Qualität der europäischen Politik angeht, zeigt ein nüchterner Blick auf die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen, dass der stetige Kompetenzzuwachs des Parlaments nicht zu einem gleichlautenden Legitimationszuwachs der supranationalen Institutionen geführt hat. Betrug die Beteiligung bei der ersten Direktwahl 1979 immerhin 62 Prozent, so ist sie anschließend von Wahl zu Wahl bis auf 43 Prozent (2009) zurückgegangen. Die Erwartung, dass durch die Aufstellung EU-weiter Spitzenkandidaten 2014 ein Mobilisierungsschub eintreten und die Wahlbeteiligung ansteigen würde, wurde enttäuscht; der Wert blieb mit 43,1 Prozent nahezu unverändert. Dass er nicht noch weiter absank, lag vor allem an der Eurokrise, mit der die europäischen Themen bei dieser Wahl diesmal mehr in den Vordergrund rückten. Die Spitzenkandidaten spielten demgegenüber in den wie gehabt stark national geprägten Wahlkämpfen praktisch keine Rolle. Die einzige Ausnahme – wegen der Personalie Martin Schulz – war Deutschland. Eine nennenswerte Mobilisierung ging von dessen "Duell" mit Jean-Claude Juncker allerdings auch hier nicht aus: Die im Vergleich zu 2009 um fünf Prozentpunkte höhere Wahlbeteiligung dürfte hauptsächlich darauf zurückzuführen gewesen sein, dass in mehreren Bundesländern zeitgleich Kommunalwahlen stattfanden.

Die geringe Attraktivität der Europawahlen hängt mit der Konfliktstruktur der europäischen Politik zusammen. So wie bei früheren Wahlen verliefen die Trennlinien auch bei dieser Wahl in erster Linie zwischen den pro- und antieuropäischen Kräften, und nicht zwischen "links" und "rechts". Unter dem Druck der rechtspopulistischen Euroskeptiker waren die beiden großen Parteienfamilien sogar gezwungen, politisch noch enger zusammenzurücken. Weil die beiden Spitzenkandidaten keine grundsätzliche Alternative bereithielten und unterschiedliche Positionen nur in Nuancen sichtbar machten, stand in den Augen des Publikums bei der Wahl zu wenig auf dem Spiel. Der fehlende Charakter einer Richtungsentscheidung verweist dabei zugleich auf das generelle Problem der Zuständigkeitsverteilung zwischen europäischer und nationaler Ebene. Einerseits bleiben Bereiche wie die Sozial-, Steuer- oder Energiepolitik, die aufgrund ihrer Legitimationswirkung für den Parteienwettbewerb besonders geeignet wären, eine Domäne der Mitgliedsstaaten, andererseits entzieht die EU auch ihre eigenen Zuständigkeiten (bei der Schaffung des gemeinsamen Marktes) dem politischen Wettstreit, indem deren Inhalte in den europäischen Verträgen bis ins Detail festgelegt sind. Die daraus resultierende Verselbstständigung der exekutiven und judikativen Organe der Gemeinschaft markiert nach Ansicht von Kritikern den eigentlichen Kern des EU-Demokratiedefizits.

Parlamentarisches oder präsidentielles System?

Auch die zweite Frage lässt sich nur bedingt bejahen. Die Bestellung des Kommissionspräsidenten durch das Parlament ist noch nicht gleichbedeutend mit der Etablierung eines parlamentarischen Regierungssystems. Ein solches läge erst vor, wenn die Kommission in ihrer Amtsführung und ihrem Bestand dauerhaft auf die Unterstützung der sie bestellenden Parlamentsmehrheit angewiesen wäre, was institutionell durch die Möglichkeit der Abberufung (in Gestalt eines Misstrauensvotums) verbürgt wird. In der EU ist dieses Merkmal nicht erfüllt. Artikel 17 Absatz 8 EUV bestimmt zwar, dass die Kommission "als Kollegium dem Europäischen Parlament verantwortlich (ist)". Weil die Abwahl der Kommission eine Zweidrittelmehrheit im Parlament voraussetzt, handelt es sich dabei aber um keine politische Verantwortlichkeit im engeren Sinne. So wie das Impeachment im präsidentiellen System ist das Misstrauensvotum gegen die Kommission in erster Linie als Vorkehrung gegen Rechtsverstöße oder sonstige Pflichtverletzungen gedacht. Auch die Absetzung einzelner Kommissare kann laut Artikel 245 AEUV nur durch Beschluss des Europäischen Gerichtshofs (auf Antrag des Rates oder der Kommission) erfolgen. Der "abweichende" Charakter des Misstrauensvotums erklärt zugleich, warum es im Regierungssystem der EU keine Möglichkeit der vorzeitigen Parlamentsauflösung gibt. Misstrauensvotum und Parlamentsauflösung sind im "normalen" parlamentarischen System Seiten derselben Medaille. Wenn die Regierung ihre Mehrheit im Parlament verliert, muss ja Vorsorge getroffen werden, dass eine neue Mehrheit entsteht. Auch in dieser Hinsicht ähnelt die EU folglich eher der präsidentiellen Regierungsform.

Diese Affinität spiegelt sich in der Funktionsweise ihres Parlamentarismus wider. An die Stelle eines festgefügten Dualismus von regierungstragender Mehrheit und Opposition treten im EP unterschiedliche legislative Abstimmungskoalitionen. Auch in den Fraktionen ist die Geschlossenheit geringer ausgeprägt, als es die Parlamentarier von ihren nationalen Regierungssystemen her gewohnt sind. Die meisten von ihnen empfinden die Arbeit im EU-Parlament deshalb als wohltuend. Im normalen parlamentarischen System erleiden die Abgeordneten das Schicksal, dass sie entweder – wenn sie zur Opposition gehören – nicht regieren können oder – wenn sie Teil des Regierungslagers sind – nicht regieren dürfen. In der EU hat sich das Parlament dagegen gerade durch seine relative Unabhängigkeit von der Kommission ein erhebliches Maß an eigener Gestaltungsmacht bewahrt. Diese würde es in einem System, das auf dem Gegenüber von Regierung und Opposition basiert, zwangläufig einbüßen. Zudem ist fraglich, ob ein solches Gegenüber ohne ideologisch und organisatorisch gefestigte Parteien (die es auf EU-Ebene bislang nicht gibt) überhaupt funktionieren kann.

Die Alternative wäre eine Fortentwicklung des Systems auf dem präsidentiellen Pfad. Anstelle des Parlaments (und/oder des Europäischen Rates) erhielten die Bürger das Recht, den Kommissionspräsidenten direkt zu wählen. Ein solcher Reformansatz wäre nicht nur institutionell schlanker als das parlamentarische Modell, da er weder Veränderungen beim Misstrauensvotum noch die Einführung eines Auflösungsrechts nach sich zöge; er würde auch geringere Anforderungen an eine Europäisierung des Parteiensystems stellen. In der wissenschaftlichen und politischen Diskussion findet der Vorschlag inzwischen immer mehr Befürworter; die CDU hat ihn auf Drängen von Wolfgang Schäuble sogar offiziell in ihr Parteiprogramm aufgenommen. Nachdem das Parlament die Bestellungsfunktion an sich gezogen hat, sieht es zwar jetzt so aus, als ob das System eher in die andere, parlamentarische Richtung tendiert; angesichts der eben geschilderten, gravierenden Hindernisse auf dem Weg dorthin dürfte das aber wohl kaum das letzte Wort bleiben.

Welche weiteren Reformschritte wären notwendig?

Unabhängig davon, welche Regierungsform die EU letztlich anstrebt und welche Fortschritte sie bei der Politisierung ihrer Zuständigkeiten macht, müssen für eine Demokratisierung des Entscheidungssystems mindestens zwei weitere institutionelle Bedingungen vorliegen. Erstens bedarf es eines gemeinsamen, EU-einheitlichen Wahlrechts. Dieser Verfassungsauftrag gemäß Artikel 223 Absatz 1 AEUV hätte eigentlich längst erfüllt werden müssen. Weil das nicht geschehen ist, besteht in der EU die paradoxe Situation, dass die europäischen Parteien zwar den Parlamentsbetrieb bestimmen, bei den Europawahlen aber nach wie vor nur die nationalen Herkunftsparteien kandidieren. Die Einführung eines europaweiten (Verhältnis-)Wahlsystems mit moderater Sperrklausel würde diesen Zustand beenden; die Parteien hätten dann einen starken Anreiz, sich zusammenzuschließen und gemeinsame Listen zu bilden. Dies käme auch der Arbeitsfähigkeit des Parlaments zugute, indem es der heutigen starken Fragmentierung (auch innerhalb der Fraktionen) entgegenwirkt.

Die zweite Bedingung betrifft die Bildung der Kommission. Wird der Kommissionspräsident vom Parlament bestellt oder sogar von den Bürgern direkt gewählt, kann er sich auf eine demokratische Legitimation stützen, die seine Stellung im Verhältnis zum Rat (und im Falle der Direktwahl auch im Verhältnis zum Parlament) aufwertet. Eine solche Aufwertung macht aber nur Sinn, wenn er zugleich über Mittel verfügt, die Positionen, für die er in der Wahl gestritten und ein Mandat bekommen hat, politisch umzusetzen. Dazu braucht es Kommissare an seiner Seite, die gleichgerichtete Ziele verfolgen und strukturell in der Lage sind, die entsprechenden Initiativen zu entwickeln.

So wie die Kommission heute ins Amt kommt und zusammengesetzt ist, lässt sich das nicht gewährleisten. Einerseits beschränkt das Festhalten am gleichberechtigten Vertretungsanspruch aller 28 Mitgliedsstaaten ihre Arbeitsfähigkeit; das Gremium ist zu groß und die Abgrenzung der Ressorts wenig sachgerecht. Andererseits hat der Kommissionspräsident kaum Möglichkeiten, auf die personelle Auswahl der Kommissare Einfluss zu nehmen, da diese ausschließlich von den Regierungen der Mitgliedsstaaten nominiert werden. Die Zusammenstellung der Kommission reflektiert insofern eher die nationalen Wahlergebnisse als das Ergebnis der Europawahlen. Lediglich über die Ressortzuteilung kann der Kommissionspräsident weitgehend selbst entscheiden.

Wie könnte man die beiden Probleme lösen? Was die Verkleinerung der Kommission angeht, würde es schon ausreichen, wenn man die Länderparität etwas flexibler handhabt. Denkbar wäre zum Beispiel, dass man die Vertretung rotieren lässt oder sie unter den Mitgliedsstaaten auslost. Dabei müsste den großen Ländern ein gewisser Vorrang eingeräumt werden. Gleichzeitig könnte man eine Abstufung nach Kommissaren und Vizekommissaren vornehmen, sodass jedem Land zumindest ein Stellvertreterposten sicher wäre. Bei der Bestellung der Kommissare sind ebenfalls verschiedene Varianten denkbar. Der Kommissionspräsident könnte etwa das Recht erhalten, einen Teil der Kommissare selbst zu nominieren. Oder man verpflichtet die Regierungen, mehrere Kandidaten vorzuschlagen, damit er aus einem größeren Pool auswählen kann. Vorstellbar wäre auch, dass man das Nominierungsrecht von den Regierungen in die Hände der Wähler legt. Diese würden dann in der Europawahl zugleich über die jeweiligen nationalen Kandidaten für die Kommission entscheiden.

Ein anderer Verstoß gegen das Demokratieprinzip, der insbesondere von rechtswissenschaftlicher Seite immer wieder moniert wird, dürfte demgegenüber überbewertet sein: die Verletzung der Wahlrechtsgleichheit. Die Sitzverteilung im Europäischen Parlament orientiert sich bekanntlich am Grundsatz der degressiven Proportionalität. Kleinere Länder werden so gegenüber den großen begünstigt. Dies hat zum Beispiel zur Folge, dass in Deutschland für ein Mandat elfmal so viel Wählerstimmen benötigt werden wie in Malta. Will man den kleinen Ländern eine faire Vertretungschance belassen, lässt sich eine solche Verzerrung nicht vermeiden, es sei denn, man würde das ohnehin schon große Parlament weiter aufblähen. Außerdem wird sie zum Teil dadurch ausgeglichen, dass die unterschiedlichen Bevölkerungsgrößen auch in den Abstimmungsregeln des Rates Berücksichtigung finden. Die EU folgt also nicht dem Modell klassischer Zweikammersysteme wie die USA oder die Schweiz, wo die eine Kammer strikt nach dem demokratischen und die andere nach dem föderativen Gleichheitsprinzip zusammengesetzt ist, sondern "mischt" die Prinzipien in ihren beiden Kammern.

Die Verletzung des Gleichheitsprinzips könnte allerdings ein zusätzliches Argument für zwei andere, hier diskutierte Reformansätze bereithalten: die Schaffung eines einheitlichen Wahlsystems und die Direktwahl der Kommissionsspitze. Was das Wahlsystem betrifft, bleibt es zwar eine offene Frage, ob man dabei ganz ohne Länderkontingente auskommt. Ein einheitliches Wahlrecht würde aber die Chance eröffnen, die gewünschte Bevorzugung der kleinen Länder auf die Ebene der Kandidatenaufstellung und damit der Parteien zu verlagern. Die Direktwahl hätte wiederum den Vorteil, dass die Stimmengleichheit zumindest bei der Bestellung des exekutiven Zweigs der Union gewahrt bliebe. Dies gilt allerdings nur, wenn der Kommissionspräsident tatsächlich direkt gewählt wird. Die Alternative wäre ein indirektes Verfahren wie in den USA, wo die Wahl des Präsidenten bis heute formal getrennt nach Bundesstaaten erfolgt und die bevölkerungsschwachen Staaten im Wahlmännergremium leicht begünstigt sind. Die EU müsste, wenn sie dieses Verfahren übernimmt, die föderative Komponente vermutlich noch stärker betonen. Um Sorgen der kleineren Länder vor einer Majorisierung zu zerstreuen, könnte sie die Stimmverteilung etwa am Länderproporz im Europäischen Parlament ausrichten. Das demokratische Gleichheitsprinzip wäre dann bei einer Volkswahl des Kommissionspräsidenten genauso verletzt wie bei der heutigen parlamentarischen Bestellung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Frank Decker, Vereint gegen Europa, in: Berliner Republik, 15 (2014) 2, S. 26–28.

  2. Vgl. Lupenreine Demokraten, in: Der Spiegel vom 2.6.2014.

  3. So der Vorsitzende der sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament, Gianni Pittella.

  4. Vgl. Jared Sonnicksen, Ein Präsident für Europa. Zur Demokratisierung der Europäischen Union, Wiesbaden 2014, S. 121ff.

  5. Der Lissabonner Vertrag besteht aus dem "Vertrag über die Europäische Union" (EUV) und dem "Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union" (AEUV), die zusammen anstelle des vorherigen "Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft" (EGV) getreten sind.

  6. Vgl. Torsten Oppelland, Institutionelle Neuordnung und Demokratisierung, in: Olaf Leiße (Hrsg.), Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon, Wiesbaden 2009, S. 89f.

  7. Über ein faktisches Ernennungs- und Entlassungsrecht verfügt einzig der Präsident in Frankreich, allerdings auch dies nur unter der Voraussetzung, dass er im Parlament eine Mehrheit hinter sich weiß.

  8. Vgl. Frank Schimmelpfennig, Mit Kandidaten an die Spitze, in: Berliner Republik, 15 (2014) 3–4, S. 85.

  9. Vgl. Manuel Müller, Mut vor den Fürsten, in: Süddeutsche Zeitung vom 23.6.2014, S. 2. Dem Europäischen Rat obliegt laut Artikel 17 Absatz 7 EUV auch die förmliche Ernennung der Kommission (mit qualifizierter Mehrheit), nachdem diese als Kollegium die Zustimmung des Parlaments erhalten hat.

  10. Diese These kann hier aus Platzgründen nicht vertieft werden. Vgl. z.B. Winfried Thaa, Weder Ethnos noch Betroffenheit: Repräsentationsbeziehungen konstituieren einen handlungsfähigen Demos, in: Hubertus Buchstein (Hrsg.), Die Versprechen der Demokratie, Baden-Baden 2013, S. 105–124.

  11. Dahinter verbergen sich enorme Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. Während in Belgien und Luxemburg, wo Wahlpflicht besteht, 90 Prozent der Wähler zu den Urnen gingen, waren es in der Slowakei ganze 13 (!) Prozent. Die höchste Wahlbeteiligung unter den 2004 und 2007 beigetretenen Ländern Mittel- und Nordosteuropas verzeichnete Litauen mit knapp 45 Prozent, die niedrigste unter den Gründungsmitgliedern die Niederlande mit 37 Prozent.

  12. Schulz’ Kandidatur dürfte allerdings zum vergleichsweise guten Ergebnis der SPD mit beigetragen haben. Vgl. Viola Neu, Europawahl in Deutschland am 25. Mai 2014 – Wahlanalyse, Berlin 2014, S. 4ff.

  13. Vgl. die an dieser Stelle zu optimistische Einschätzung von Jürgen Habermas, Ein starkes Europa – aber was heißt das?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 59 (2014) 3, S. 94.

  14. So z.B. der frühere Verfassungsrichter Dieter Grimm, Die Stärke der EU liegt in einer klugen Begrenzung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.8.2014, S. 11.

  15. Vgl. Frank Decker/Jared Sonnicksen, Parlamentarisch oder präsidentiell? Die Europäische Union auf der Suche nach der geeigneten Regierungsform, in: Frank Decker/Marcus Höreth (Hrsg.), Die Verfassung Europas, Wiesbaden 2009, S. 143ff.

  16. 24. Parteitag der CDU Deutschlands, Beschluss Starkes Europa – Gute Zukunft für Deutschland, Leipzig, 13.–15. November 2011, S. 19.

  17. Vgl. D. Grimm (Anm. 14).

  18. Bei der Direktwahl der Kommissionsspitze würde sich die Europäisierung von selbst einstellen, da hier ein einheitliches Wahlsystem ohnehin geboten ist. Dies könnte auch auf die gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen ausstrahlen.

  19. Für eine Konkretisierung der nachfolgenden Vorschläge vgl. Frank Decker, Mehr Demokratie für Europa – aber wie?, in: Berliner Republik, 14 (2012) 2, S. 67ff.

  20. Dass sie das freiwillig nicht tun werden, hat sich bei der Zusammenstellung der Juncker-Kommission erneut gezeigt, als entsprechende Bitten des designierten Kommissionspräsidenten an den meisten Mitgliedsstaaten ungehört abprallten. Der Vorschlag, mehrere (jeweils drei) Kandidaten zu nominieren, war im ursprünglichen Entwurf des Verfassungskonvents enthalten, wurde aber von den Staats- und Regierungschefs später verworfen. Vgl. Artikel I-26 Absatz 2 des Vertrags über eine Verfassung für Europa. Entwurf des Europäischen Konvents vom 18. Juli 2003.

  21. Vgl. beispielsweise Peter-Christian Müller-Graff, Der Vertrag von Lissabon auf der Systemspur des Primärrechts, in: Integration, 31 (2008) 1, S. 131.

  22. Ab dem 1. November 2014 gilt die Regel, dass für einen Beschluss nicht nur die Zustimmung einer Mindestzahl von – je nach Materie – 55 oder 72 Prozent der Mitgliedsstaaten erforderlich ist, sondern diese zugleich mindestens 65 Prozent der Bevölkerung ausmachen müssen.

  23. Die in der deutschen Diskussion übliche Gleichsetzung von Volkswahl und Direktwahl geht über diesen Unterschied leider hinweg.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Frank Decker für bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

Dr. rer. pol., geb. 1964; Professor für Politische Wissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Lennéstraße 27, 53113 Bonn. E-Mail Link: frank.decker@uni-bonn.de