Waffenkultur – gibt es so etwas in Deutschland? Waffen und Kultur sind im bundesdeutschen Selbstverständnis so weit voneinander entfernt, dass ein Kompositum kaum vorstellbar ist. Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg ist das deutsche Selbstverständnis von einer wachsenden Fremdheit gegenüber privatem Waffenbesitz geprägt. Warum sollte man sich mit privaten Schusswaffen beschäftigen? Die Amokläufe der vergangenen Jahrzehnte haben erwiesen, dass selbst in einer Gesellschaft, in der privater Waffenbesitz öffentlich marginalisiert ist, private Schusswaffen eine Rolle spielen können.
Wer verstehen will, in welchen Kontexten privater Waffengebrauch
Dafür gilt es zunächst, den Begriff der Waffenkultur idealtypisch zu bestimmen. Unter diesem werden nachfolgend alle Normen, Regeln und Gewohnheiten verstanden, die den Gebrauch und Besitz von Schusswaffen leiten. Eine solche Definition offenbart, dass jede Gesellschaft, egal wie liberal oder restriktiv ihr Waffenrecht verfasst ist, ihre eigene Waffenkultur besitzt. In diesem Sinne lässt sich die Distanz weiter Teile der deutschen Gesellschaft zu privaten Schusswaffen und die klare Regulierung privaten Waffenbesitzes als Ausdruck einer spezifischen Facette bundesdeutscher Waffenkultur verstehen. Was sind ihre Wurzeln und Kontexte?
Zum Status quo und zur Amnesie des deutschen Waffengedächtnisses
Bemerkenswert ist weniger die mehrheitlich distanzierte Haltung von Medien, Politik und Öffentlichkeit zu privaten Schusswaffen als die unreflektierte Mutmaßung, dies sei schon immer so gewesen – quasi zeitloser deutscher Normalzustand. Die Annahme, dass in deutschen Ländern private Waffen stets und streng reguliert worden seien, ist ein junges Phänomen. Die hohe politisch-moralische Aufladung zeigt, dass diese Einschätzung sich primär aus aktuellen politischen Identifikationen und weniger aus historisch-rechtlichen Fakten speist.
Die demonstrative öffentliche Abkehr vom privaten Waffenbesitz ist das Ergebnis zweier verlorener Weltkriege und einer politischen Kultur, die sich programmatisch seit 1945 der Demokratisierung verpflichtete. Zur spezifisch deutschen Spielart der gesellschaftlich-demokratischen Umorientierung gehörte dabei die explizite Absage an jegliche Form von Militarismus. Dies bedingte einen unmittelbaren Bedeutungsverlust privater und militärischer Waffenpraktiken. Mit Blick auf militärische Waffenpraktiken erodierte diese Programmatik schnell im politischen Pragmatismus von Bündniserwägungen und wirtschaftlichen Überlegungen. Hinsichtlich der zivilen Waffenkultur behauptete sich jedoch die Haltung strikter Abkehr. Private Waffenpraktiken wurden in der jungen Bundesrepublik kontinuierlich randständiger. Seit den 1970er und 1980er Jahren verfestigte sich schließlich ein öffentlicher Konsens, der privaten Waffenbesitz und Waffengebrauch zunehmend marginalisierte und lediglich in den Milieus von Schützen und Jäger verortete.
Diese Entwicklung und mit ihr die Einschätzung, Deutschland sei ein Land ohne Waffenkultur, ist um den Preis erheblicher Verdrängung erkauft. Nicht nur angesichts der jüngsten Amokläufe, auch in Anbetracht der bemerkenswerten Zahl privater Schusswaffen – je nach Schätzung zwischen fünf und zehn Millionen – ist evident,
Vormoderne Traditionsbestände
Einige Ausläufer reichen bis in die Vormoderne zurück. Manche (vor allem mittelalterliche) Äste sind inzwischen abgestorben oder verkümmert, andere haben in modernisierter Form eine Wiederauflage erlebt und neue Zweige sind als invented traditions im Laufe des 19. Jahrhunderts neu gesprossen. Kontinuität lässt sich vor allem für das Prinzip der Sicherung der körperlichen Unversehrtheit der Mitmenschen finden, das seit jeher die eherne Grenze darstellte, an die keine private Waffe rühren durfte. Bereits in der Vormoderne war das Schießen an bewohnten Orten verboten.
Eine zweite Kontinuitätslinie, die sich ebenfalls von der Vormoderne bis zur Moderne findet, ist die Regulierung des Waffengebrauchs für die Jagd. Wem das Recht auf die Jagd (besonders die hohe Jagd) zugestanden wurde, war in Zeiten feudaler Gesellschaftsordnung unmittelbar durch soziale Positionen bestimmt: Adelige Personen – Männer wie Frauen – besaßen Zugang zur Jagd, während Bürgern und Bauern das Tragen von Gewehren in Wald und Flur verboten war. Diese Regulierung übersetzte sich später in die unpräzise Erinnerung, dass Waffenrecht sei das Recht der Freien gewesen.
Zur Distinktion von ziviler und militärischer Waffenkultur als moderner Differenz
Von besonderem Interesse ist das Verhältnis von Schützen und Waffenrechten, stellen doch die Schützen eine im aktuellen bundesdeutschen Waffenrecht privilegierte Gruppe dar. In der Tat lässt sich auch für die Vormoderne eine spezifische Relation zwischen Schützen und Waffen beobachten. Anders als heute war dies jedoch kein herausgehobenes Privilegienverhältnis, sondern eine oft ungeliebte Verpflichtung. Vor allem die Städte bedurften zu ihrer Verteidigung der Mitwirkung der Bürger. Daher banden sie die Gewährung des Bürgerrechts an Pflichten. Neben der Steuerpflicht mussten die Bürger Dienst in den städtischen Schützenwehren leisten. Die dafür notwendigen Waffen mussten aus privatem Vermögen angeschafft und bei Ableistung des Bürgereides vorgewiesen werden. Sie durften nicht verpfändet werden, und die geputzte und gewartete Waffe musste regelmäßig bei städtischen Sicherheitsinspektionen vorgezeigt werden.
Bereits im 18. Jahrhundert war die militärische Bedeutung der Schützenverbände immer randständiger geworden. Die Söldnerheere der Frühmoderne hatten die städtischen Schützenregimenter zunehmend von militärischen Aufgaben entlastet. Bürgerschaftlich blieben die Schützenvereine, die sich über gesellige Vergemeinschaftung und sportliches Wettschießen definierten, wichtig, wurden doch dort gesellschaftliche, politische und ökonomische Kontakte geknüpft. Waffenpraktiken in diesem Kontext waren durch soziale Identitäten – Männlichkeit, berufliche und städtische Zugehörigkeit – geprägt.
Auch mit Blick auf die Schützen definierte die bürgerliche Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts die Verhältnisse neu: Die Volksbewaffnung sollte Grundlage politischer Emanzipation und männlicher Wahlrechte werden. War der Dienst in den städtischen Bürgerwehren einst Last und Zwang, so priesen bürgerliche Reformer die Volkswehr nun als Mittel zur sittlichen Veredelung und als Hort freier deutscher Männlichkeit.
Auch wenn die Idee, privat bewaffnete Männer in Schützenkompanien zur regulären Landesverteidigung heranzuziehen, sich in Deutschland nicht durchzusetzen vermochte, so änderte dies nichts daran, dass private Waffen weiterhin besessen und geführt werden durften. Die einzelstaatlichen Polizeistrafgesetzbücher gingen im Wesentlichen von dem Grundsatz aus, dass der Besitz und Gebrauch von Feuergewehren Jedermann erlaubt sei und nur in Einzelfällen reguliert werden müssten.
Ebenfalls im Kontext der bürgerlichen Revolution fand die Hypostasierung eines vermeintlich exklusiv männlichen Waffenrechts statt. Um das geforderte allgemeine, gleiche, männliche Wahlrecht zu legitimieren, konstruierten liberale Theoretiker ein seit germanischen Zeiten bestehendes männliches Waffenrecht, das an das Recht und die Pflicht militärischer Kriegsführung gebunden war. Verknüpft damit war der komplementäre Ausschluss von Frauen von politischen Rechten und Waffenrechten.
Technische Innovationen als Trigger der Transformation
Während Mitte des 19. Jahrhunderts wesentliche Neuerungen der deutschen Waffenkultur von politischen und sozialen Umbrüchen inspiriert waren, vollzog sich der maßgebliche Wandel seit den 1890er Jahren aufgrund technologischer Innovationen. Industrialisierung, präzise Massenfertigung, neue Zündmittel, Ladetechniken, gezogene Läufe – innerhalb weniger Jahrzehnte machte die Waffentechnologie gewaltige Innovationssprünge, die schließlich moderne Revolver und zuverlässige Selbstladepistolen auf den Markt brachten. Industrielle Fertigung sorgte für gleichbleibend hohe Qualität und günstige Preise, so dass die moderne Feuerwaffe selbst für Lehrlinge und Gymnasiasten kein unerfüllbarer Traum blieb und zu einer enormen Verbreitung in allen Bevölkerungskreisen führte.
Für die modernen Feuerwaffen bedurfte es anderer Normen und Verbote als für die schwachen und unpräzisen Modelle früherer Jahrhunderte. Die Freiheit, eine Waffe zu besitzen, konnte großzügig gewährt werden, wenn es mehr als 30 Sekunden dauerte, diese zu laden, wenn die Schüsse aus diesem Gerät nur aus geringer Entfernung genau trafen und die Verletzungen selten sofort tödlich waren. Das Recht auf Leben und Unversehrtheit geriet jedoch in Gefahr, als die Schusswaffen kleiner wurden, in der Manteltasche verborgen werden konnten und innerhalb weniger Sekunden mehrere Schüsse abzugeben vermochten, von denen jeder einzelne auf große Distanz treffsicher eine tödliche Wirkung zu entfalten vermochte.
Die breite Verfügbarkeit moderner Waffen bildete sich mit etwa 10- bis 15-jähriger Verzögerung in den Polizeistatistiken ab. Trotz des Anstiegs vor allem fahrlässiger Schusswaffendelikte reagierten deutsche Obrigkeiten zunächst überaus abweisend auf die Forderung, private Waffen zu reglementieren. Dem preußischen Justizminister erschien diese Idee "unrathsam",
Regulierung und Politisierung: private Waffenpraktiken bis 1945
Mit Beginn des Ersten Weltkrieges riss die Debatte um die Regulierung privater Waffen jäh ab. Mit Mobilmachung und Kriegszustand wurde die militärische Waffenkultur dominant, während zivile Waffen erstmals umfassend reguliert wurden.
Wesentlicher als der Ausbruch des Krieges war sein Ende, das nicht nur im Zeichen der Niederlage, sondern vor allem der ungeordneten Demobilisierung stand. Viele ehemalige Soldaten trennten sich – entgegen der Vorschriften – nicht von ihren Handfeuerwaffen.
In den folgenden Jahren regulierte die Republik die privaten Waffen statt mit einem Gesetz zunächst mit Notverordnungen des Reichspräsidenten. Diese verfügten zeitlich begrenzte Entwaffnungen zur Sicherung des inneren Friedens. Das Ziel staatlicher Waffenpolitik hatte sich nicht verändert. Modifiziert hatten sich die Waffenpraktiken, die in Zeiten von bürgerkriegsähnlichen Zuständen und aggressiver politischer Polemik politisiert worden waren und den inneren Frieden der jungen Republik bedrohten. Diese reagierte auf die Erosion ihres Gewaltmonopols mit den Mitteln der wehrhaften Demokratie: Sie entwaffnete die politischen Störenfriede, stellte sie vor Gericht und verabschiedete 1928 kein politisch motiviertes Waffengesetz, sondern ein Waffenrecht, das der Logik des Referentenentwurfs von 1912 folgte. Das Reichsgesetz über Schusswaffen und Munition regelte Waffenbesitz und Waffengebrauch erstmals einheitlich für Deutschland und ist bis heute Grundlage des deutschen Waffenrechts.
Die Nationalsozialisten entwaffneten unmittelbar nach der Machtübernahme 1933 ihre politischen Gegner.
Kontinuität Weimarer Regulierungsprinzipien: Waffenrecht nach 1945
Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte die Bundesrepublik nach einem kurzen Intermezzo der Beschränkung privater Schusswaffen während der Besatzungsjahre im Wesentlichen zum Waffenrecht der Weimarer Republik zurück. Mit geringfügigen Modifikationen knüpfte das bundesdeutsche Waffenrecht 1972 an das Gesetz von 1928 an, novellierte und modernisierte es in einigen Aspekten, folgte aber grundsätzlich seinen Strukturen.
Das Waffenrecht des 20. Jahrhunderts orientierte sich grundsätzlich an den gleichen Prinzipien wie die spärlichen Regularien früherer Jahrhunderte: Damals wie heute stand das Recht auf körperliche Unversehrtheit im Zentrum jeglicher Regulierung. Die Großzügigkeit, mit der deutsche Regierungen im 19. Jahrhundert private Waffen gewährten, hörte dort auf, wo die Unversehrtheit von Mitbürgern bedroht war. Nur, wenn man das individuelle Recht auf Sicherheit und Unversehrtheit ins Zentrum stellt, ist die Logik von Waffenregulationen und Waffenkulturen zu verstehen und ein tragfähiges Kriterium für den Umgang mit privaten Waffen zu gewinnen.
In Deutschland war die Forderung, einen effektiven rechtlichen Schutz vor Waffengewalt zu gewährleisten, von Presse und Bürgern, in Parlamenten und Vereinen, durch Leitartikel, Petitionen und Briefe so lange vorgetragen worden, bis auch Politiker sich bereitgefunden hatten, die zahllosen Schießereien im Deutschen Reich durch die Regulierung des privaten Waffenbesitzes zu beenden. Die Waffe in der Hand des Mitbürgers war zunehmend zum Albtraum der Zivilgesellschaft geworden. In diesem Sinne war und ist das deutsche Waffenrecht Ausdruck des Bürgerbegehrens, einer bürgerlichen Sehnsucht nach Sicherheit und der Utopie einer friedlichen Zivilgesellschaft.
Aktuelle Debatten und Herausforderungen
Von besonderem Interesse für die bundesdeutsche Debatte sind die Waffenrechte der Schützen. In Anbetracht eines generellen – nur in Ausnahmefällen aufgehobenen – Waffenverbots für Jedermann ist das Recht der Schützen, Waffen zu besitzen, ein Privileg. Grundlage ist die Bedingung, dass die Schüsse der Schützen niemandem schaden und mit ihren Waffen kein Missbrauch getrieben wird. Wenn Schützenwaffen zum Tatwerkzeug werden, wird das Privileg der Schützen zwangsläufig überprüft und hinterfragt. Die Mehrheit der 1,5 Millionen bundesdeutschen Schützen ist sich der Verantwortung, die aus ihrer Sonderstellung erwächst, bewusst – das belegen Statistiken, die kaum Schützenwaffen in illegalen Kontexten nachweisen.
Im 21. Jahrhundert spielt mediale Kommunikation eine zunehmend wichtige Rolle. Mit Blick auf die Waffenkultur scheint eine ihrer originären Aufgaben – informative Aufklärung – immer schwieriger zu werden. Wesentliche Akteure der Waffenkultur – vor allem die Schützenverbände – fühlen sich marginalisiert. Gleichzeitig entwerfen mediale Berichte über Waffengewalt Skripte, deren Effekte hinsichtlich Nachahmung und Vorbildfunktion bisher nur unzureichend reflektiert worden sind. Zugleich ist offensichtlich, dass sich Waffenpraktiken bis hin zur Genese von Amokläufen keinesfalls unilateral ursächlich auf mediale Präsentationen rückführen lassen, sondern eingebunden sind in ein multikausales Geflecht,
Die Zeichen stehen gut, dass europäische Interventionen den Weg zu einer umfassenden Debatte über differente Waffenkulturen bahnen. Die auf Druck der Europäischen Union
Das deutsche Beispiel bietet für einen solchen Prozess unterschiedliche Anregungen: Zum einen offeriert es eine zivilgesellschaftliche Emanzipationsgeschichte, die die erfolgreiche emotionale Umkodierung privaten Waffenbesitzes vorführt, zum anderen verdeutlicht es, wie hartnäckig sich Traditionsbestände politischen Veränderungen verweigern und wie langlebig Fehldeutungen und Informationsdefizite sind. Es gilt, europäische Differenzen zu verstehen und dieses Wissen für einen souveräneren Umgang mit privatem Waffenbesitz nutzbar zu machen.