Sieben Monate nach der Dreifach-Katastrophe vom 3. März 2011 erschien in Japan ein Taschenbuch mit dem Titel "Komikku: Mienai kumo" ("Comic: Die unsichtbare Wolke"). Es handelte sich dabei um Anike Hages preisgekrönte Comicadaption von Gudrun Pausewangs 1987 erschienenem Roman "Die Wolke".
Ob "Die Wolke" sich in Japan als Manga behaupten kann oder soll, sei dahingestellt. Doch verdeutlicht die Rezeption der japanischen Übersetzungsausgabe einige Aspekte, die außerhalb der Mangakultur leicht übersehen werden – sogar in Japan. Sie erschien beim auch als Mangaverlag bekannten Haus Shōgakukan, doch war dort keine Mangaredaktion zuständig, sondern diejenige für ausländische Literatur, die auch Pausewangs Roman betreut. Dass Manga einer sorgfältigen Kontextualisierung bedürfen, um Nicht-Romanleser zu erreichen, war der Redaktion vielleicht sogar bewusst, als sie sich für ein manga-untypisches Kleinformat entschied und dem Titel das Lehnwort komikku hinzufügte. Beides signalisiert, dass es sich hier nicht um das vertraute genrespezifische Konsumgut, aber doch immerhin um eine Bilderzählung und damit um eine Jugendlichen zugängliche Form handelt. Die Annahme, ein kritisches Thema könne durch den bloßen Rückgriff auf die Comicform besser transportiert werden, bestätigte sich allerdings nicht. Dafür gibt es mindestens drei Gründe.
Erstens sprechen unbewegte, tonlose und monochrome Bilder junge Menschen nicht mehr unbedingt an. Zumindest in Asien ist die gedruckte Mangaerzählung dabei, das Terrain der Jugendkultur zugunsten digitaler Medien zu räumen. Bereits 2005 soll das Durchschnittsalter der Konsumentinnen und Konsumenten von Mangamagazinen wie "Young Jump" und "Big Comic Spirits" bei über 30 Jahren gelegen haben.
Zweitens gehen viele Jugendliche heutzutage eher als user denn als klassische Leser mit Manga um. Abgesehen davon, dass sie normalerweise eher mit Anime (Zeichentrickserien) und Video- beziehungsweise Computerspielen als mit Comics in Berührung kommen, interessieren sie die gezeichneten Erzählungen nicht nur als Kontemplationsvorlagen. Bereits die cartoonesken Gesichter der Charaktere und der Verzicht auf detaillierte Hintergründe, die "organisierte Leere",
Drittens ist beim Manga neben den Lesergruppen mit ihren unterschiedlichen Nutzungsweisen und Qualitätskriterien die Kategorisierung von Titeln nach Genres entscheidend. Auf Deutsch profiliert sich Anike Hages Comicadaption einerseits durch ihre Unterscheidung von der Romanvorlage und andererseits durch ihren Kontrast zur nordamerikanischen und franko-belgischen Comictradition. Das Publikationsformat des tankōbon – broschierte Bücher mit etwa 200 Seiten in einem Format von 12 mal 18 Zentimetern –, der Verzicht auf Kolorierung, die Konzentration auf Gesichter und damit auf die Gefühle der Figuren sowie die im Gegensatz dazu eher abstrakt bleibenden Räume sind Alleinstellungsmerkmale, die dazu verleiten, den Manga als ein Comicgenre neben anderen zu sehen. Insider halten dagegen, dass Manga ein Medium mit einer Vielzahl von Genres sei. Natürlich gibt es Werke aus japanischer Produktion, die sich jeglicher Konvention zu entziehen versuchen. Aber das, was von außen betrachtet unterschiedslos als Manga erscheinen mag, wird in Japan nochmals unterteilt. Versierte Leser weisen einem Comic im Mangastil wie "Die Wolke" unwillkürlich eine entsprechende Position zu – shōjo manga in diesem Fall.
Vielfalt an Genres
Der shōjo manga
Ergänzt um ebendiese thematische Kategorie hält sich im deutschsprachigen Raum vor allem der Verlag Tokyopop an die traditionellen japanischen Genres. Carlsen hingegen lehnt sich mit den Kategorien Action, Fantasy, Mystery, Comedy, Science Fiction, History, Romance und Erotika an Nordamerika an, was dazu führt, dass einige Titel in verschiedenen Kategorien gleichzeitig auftauchen. Wenn in Japan thematisch klassifiziert wird, dann vor allem in Horror, Science Fiction und Gag. Konventionelle Manga zeichnen sich tendenziell dadurch aus, dass sie Elemente thematischer Genres munter mischen: So wechselt Ikeda Riyokos Shōjo-Klassiker "Die Rosen von Versailles" unvermittelt vom romantischen Register in den cartoonesken Slapstick und schiebt sogar noch historiografische Erklärungen zur Französischen Revolution ein. Erotika wiederum verbinden die eigentlichen Sexszenen gern mit Comedy, Action oder Fantasy.
Mit der Konzentration auf thematische Genres rückt die ursprüngliche Zielgruppe in den Hintergrund. Diese ist jedoch für Produktion und Rezeption ausschlaggebend, solange die Mangamagazine das Rückgrat der Industrie bilden, und sie hinterlässt als solche Spuren in den Erzählungen selbst. In der Mangaforschung werden daher nicht nur Titel sowie Zeichnerin oder Zeichner eines Werkes angegeben, sondern auch der Ort der Erstserialisierung, also das entsprechende Magazin, weil dieses Aufschluss über die ursprünglichen Rahmenbedingungen erlaubt: von Genreprofil und Auflagenhöhe bis hin zum oft arbeitsteiligen Wechselverhältnis verschiedener Serien im gleichen Heft. In den vergangenen Jahrzehnten haben die Mangamagazine Zeichnern ein Grundeinkommen gesichert und ihrer Leserschaft die Möglichkeit der Beteiligung geboten. Welchen Verlauf Langserien nehmen, entscheiden oft das Publikum und die als Dramaturgen wie Produzenten wirkenden Redakteurinnen und Redakteure.
Dieses Beziehungsgeflecht gerät aus dem Blick, wenn Manga ausschließlich in der Buchform des tankōbon zirkulieren, wie es außerhalb Japans ohnehin und aufgrund des informationsgesellschaftlichen Wandels zunehmend auch in Japan selbst geschieht. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre hatte sich die Buchausgabe als Zweitverwertung etabliert, doch mittlerweile beginnt sie, Primärstatus zu erlangen. Das hat Vor- und Nachteile. Wenn das Magazin mit seinem gewissermaßen katalogartigen Überblick an Bedeutung verliert, fällt es schwerer, Aufmerksamkeit für bestimmte Titel zu wecken, beispielsweise für einen Comic wie "Die Wolke". Im Gegenzug wiederum werden die alters- und geschlechtsbezogenen Grenzen durchlässiger.
Neben den Genres, die die Mangamagazine mit ihrem Fokus auf serielle Erzählungen vorgeben, zirkulieren Sachcomics – gakushū manga – vorrangig in Buchform, wenngleich nicht in der des tankōbon. Die meisten gakushū manga stammen von unbekannten Zeichnern, was neben der oft hölzernen Umsetzung des vorgegebenen Inhalts bewirkt, dass sie vom Stammpublikum nicht als Manga im eigentlichen Sinne wahrgenommen werden. Dazu zählen beispielsweise Tsuboi Kohs von japanologischer Seite gelobte Version der "Geschichte des Prinzen Genji"
Dem Sachcomic teilweise verwandt ist das neue Genre des Essaymanga. Um 1990 entstanden,
Mit Blick über Japan hinaus ist auch eine andere Genreeinteilung denkbar. In Übersetzungen sind weltweit vor allem drei Arten von Manga zugänglich. Die erste, die auch die meist verbreitete Vorstellung des Manga prägt, umfasst erfolgreiche Langserien für Jugendliche. Seit "Dragon Ball" und "Sailor Moon" in den späten 1990er Jahren den Boom auslösten, steht "Manga" gemeinhin für Hauptfiguren mit hohem Niedlichkeitsfaktor, eine hochgradig kodifizierte Bildsprache und narrative Strukturen, die letztlich an Video- oder Computerspiele erinnern. Dieser Manga ist Medium einer partizipativen Kultur. Schon Scott McCloud hat in seinem dritten Metacomic festgestellt, dass all die spezifischen Erzähltechniken – von den bevorzugt ins Bild gesetzten Gesichtern über die subjektive Bewegung bis hin zum alltäglichen Detail – vor allem einem Zweck dienen: der Einbeziehung des Lesers.
Die zweite Art des Manga wird von den Anhängerinnen und Anhängern der ersten nicht unbedingt als "richtiger" Manga akzeptiert, dafür aber von Comicexpertinnen und -experten geschätzt, die mit den US-amerikanischen Underground-Comics und den neueren Alternative Comics vertraut sind. Zu dieser Gruppe zählen sowohl die schockierend-provokanten Arbeiten eines Maruo Suehiro
Manga dieser Art führt Carlsen als Graphic Novel, dabei würde die Bezeichnung besser auf ruhig erzählte und sorgfältig durchkonzipierte Geschichten passen, wie jene von Taniguchi Jirō, Asano Inio, Nananan Kiriko, Takano Fumiko oder Igarashi Daisuke. Unspektakulär im besten Sinne, also weder dem radikalen künstlerischen Experiment noch dem Dienste an der Fankultur zugeneigt, überzeugen diese Comics als Erzählungen. Von einem dritten Weg könnte man sprechen, brächte man damit nicht den alten Gegensatz von Avantgarde und Kulturindustrie ins Spiel. Dieses aber trifft auf Japans Mangakultur nur bedingt zu, denn hier wird eher zusammengeführt als getrennt, spätestens seit dem Ende der 1980er Jahre. Damals fand das produktive Wechselverhältnis zwischen major und minor, wie es auf Japanisch heißt, ein Ende. Minoritäre und radikale Comics waren seit 1964 beispielsweise im alternativen Monatsmagazin "Garo" beheimatet, dessen Auflage nach 25 Jahren allerdings nur noch bei etwa 3000 Exemplaren lag. Kurz nach dessen endgültiger Einstellung 2002 wurde "Ikki" gestartet, das gewissermaßen den "dritten Weg" verkörperte und viele der oben genannten Zeichner als erstes vorstellte.
Stilistische Vielseitigkeit
Fans unterstreichen gerne die Vielfalt, die japanische Comics zu bieten haben, und meinen dabei vor allem die Erzählinhalte und Hauptfiguren, doch von außen betrachtet stellen sich Manga oft als gleichförmig dar: Die Fan-Kreationen scheinen sich bildlich kaum voneinander zu unterscheiden; die Frauenfiguren, insbesondere in "weiblichen" Genres, wirken oft wie Variationen ein und desselben Typs. Atemberaubend lange Beine im Wechsel mit extrem gestauchten, super-deformierten Körpern (chibi), nur vermeintlich blonde Haare, kleine Näschen und vor allem unrealistische "Suppenteller-Augen"
Abbildung 2 (© Quelle: Sugiura Hinako, Yukino, in: dies., Futatsu makura, Tokyo 2010, S. 99, erstmals in: Garo vom Oktober 1981.)
Abbildung 2 (© Quelle: Sugiura Hinako, Yukino, in: dies., Futatsu makura, Tokyo 2010, S. 99, erstmals in: Garo vom Oktober 1981.)
Außerhalb Japans werden große Mangaaugen von der Comicforschung sowie in den Feuilletons meist im referenziellem Sinne verstanden, beispielsweise als Anzeichen einer tiefsitzenden Sehnsucht nach dem "Westen". Mancher sieht sie als konventionelles Stilmittel, "weder für ‚kindlich‘ noch für ‚westlich‘"
Tellergroße Augen sind also kein Erkennungsmerkmal des Manga an sich. Kleine Augen gibt es genauso häufig, und zwar in Erzählungen, die körperliche Aktionen mehr oder weniger realistisch in Szene setzen. Außerdem lassen sich Unterschiede in den Darstellungskonventionen des protomodernen Holzschnitts einerseits, beispielsweise eines Katsushika Hokusai oder Kitagawa Utamaro, und jenen gegenwärtiger Mangageschichten andererseits nicht mehr unbedingt mit dem Verweis auf die Augengröße allein behaupten. Als die Zeichnerin Sugiura Hinako 1981 im alternativen Magazin "Garo" einige Kurzgeschichten publizierte, die im Vergnügungsviertel von Edo spielten und dies durch eine traditionelle Darstellung der Personen wiedergab (vgl. Abbildung 2), wurde das als mutiges Experiment aufgenommen, welches in seiner Andersartigkeit vor allem die modernen Konventionen bestätigte. Seit 2013 veröffentlicht Nakama Ryō im Wochenmagazin "Shōnen Jump", also im Zentrum der Mangaindustrie, seine witzigen Episoden um den kleinäugigen Isobe Isobee, ohne dass jemand diese für schwer lesbar halten würde.
So zeigt sich auch in stilistischer Hinsicht, dass Manga nicht gleich Manga ist. Um das wirklich zu erfahren, reichen Deutschkenntnisse jedoch leider nicht aus. Das vielfältigste Angebot an Mangawerken findet sich – wenn schon nicht auf Japanisch – auf Französisch, das an Sekundärliteratur auf Englisch.