Das Thema Antisemitismus steht seit Mitte der 2000er Jahre wieder stärker als eigenständiger Gegenstand im Fokus der außerschulischen Bildungsarbeit,
In den vergangenen Jahren sind zunehmend selbstreflexive und multiperspektivische Ansätze entstanden. Zum einen wird damit die Auseinandersetzung der professionellen Akteurinnen und Akteure mit ihren Perspektiven auf Antisemitismus verstärkt. Zum anderen wird versucht, die heterogenen Beziehungen der Teilnehmenden zur Thematik aufzugreifen. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft verankert ist und aus ganz unterschiedlichen sozialen Positionierungen heraus benutzt und artikuliert wird. Neben der Wissensvermittlung über Geschichte, Ideologie und Ausdrucksformen geht es um die Funktionen des Antisemitismus, die seine Langlebigkeit und Flexibilität ausmachen. Die selbstreflexive Komponente ist für das Feld der Bildungsarbeit zum Antisemitismus ausgesprochen relevant, da es sich hier vor dem Hintergrund der Aufarbeitungsgeschichte zum Nationalsozialismus in besonderem Maße um ein Themenfeld handelt, mit dem gesellschaftliche Selbstbilder verbunden sind.
Deutlich ist eine Entwicklung in der Bildungsarbeit, bei der versucht wird, von den Alltagserfahrungen insbesondere der jugendlichen Teilnehmenden auszugehen und ihnen nicht eine manifeste antisemitische Auffassung zu unterstellen. Konfrontative Strategien sind nur da angebracht, wo letzteres der Fall ist. Meistens handelt es sich jedoch um die Verwendung von Versatzstücken aus dem antisemitischen Repertoire, um sich die Welt vereinfachend zu erklären oder um eine Dominanzgesellschaft zu provozieren, zu deren Konsens es zu gehören scheint, gegen Antisemitismus zu sein. Dem wiederum liegt eine Verkennung des bürgerlichen Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft zugrunde.
Subjektorientierung als Bildungsprinzip
Die Bildungsarbeit gegen Antisemitismus wendet sich häufig unausgesprochen an nichtjüdische Teilnehmende. Darin spiegelt sich die Dominanzstruktur einer Gesellschaft, die jüdische Präsenz über lange Zeit nicht vermisst hat. Zudem rechnet die Bildungsarbeit nicht immer damit, dass sich Teilnehmende bereits klar gegen Antisemitismus äußern. In einer Arbeitshilfe für die Jugend- und Erwachsenenbildung macht die Bildungsreferentin Tami Ensinger demgegenüber deutlich, wie vielfältig der Raum der Thematisierung von Antisemitismus ist und dass dabei auch immer diejenigen wahrzunehmen sind, die bewusst Gegenpositionen einnehmen und die selbst Erfahrungen mit antisemitischen Zuordnungen gemacht haben. Für eine multiperspektivische Bildungspraxis ist die Präsenz jüdischer Teilnehmender im Bildungsraum zu beachten. Da dies hierzulande noch immer nicht als selbstverständliche Möglichkeit betrachtet wird, sollte dieser Aspekt zu einem Kriterium für Multiperspektivität werden. Dem "Schutz der Betroffenen"
Die Pädagogin Anne Klein schlägt für die antisemitismuskritische Bildungsarbeit eine "subjektorientierte Perspektive" vor, die Antisemitismus nicht sozialpsychologisch auf "Judenhass" verengt, sondern nach den subjektivierenden Wirkungen antisemitischer Praktiken fragt.
Mit antisemitischen Botschaften werden Zugehörigkeiten geordnet. Das bedeutet einen Machtgewinn auf der Seite derer, die sich antisemitisch äußern und eine Zurückweisung für die als nichtzugehörig adressierten Anderen. Antisemitisches Sprechen verhindert systematisch eine direkte Auseinandersetzung mit Individuen, da es nicht interpersonal strukturiert ist, sondern nur ein Bild bedient, das schon vor jeder Begegnung existiert und auch nicht durch Begegnung aufzulösen ist. Es geht hier um ein Selbstbild, hinter dem der konkrete Andere verschwindet. Klein plädiert deshalb dafür, in der Bildungsarbeit über subjektive Erfahrungen mit Antisemitismus zu informieren, um die getroffenen Anderen aus der antisemitischen Verobjektivierung heraustreten zu lassen und sie als Subjekte mit Gefühlen und Verarbeitungsstrategien wahrzunehmen.
Eine Untersuchung zu den Haltungen und Sichtweisen von Pädagoginnen und Pädagogen, die Antisemitismus in der offenen Jugendarbeit thematisieren, hat die Erziehungswissenschaftlerin Heike Radvan vorgelegt. Sie fragt, wie die Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter ihre Arbeit beschreiben, und setzt sich damit auseinander, wie sie ihre Reaktionen auf antisemitische Äußerungen darstellen. Erst eine reflektierte Wahrnehmung der Situation, in der sich die Jugendlichen befinden, ermöglicht es, ihnen anerkennend zu begegnen und damit die Kommunikation aufrechtzuerhalten, ohne ihre Positionen zu übernehmen.
Der Wunsch, nicht antisemitisch zu sein
Mit Alltagsantisemitismus ist an vielen Stellen zu rechnen, er variiert kontextuell je nach den Zuordnungen derer, die ihn artikulieren. Zugleich will kaum jemand antisemitisch sein, so dass sich eine paradoxe Konstellation von antisemitischen Artikulationen bei gleichzeitiger Abgrenzung ergibt. In einer qualitativen Studie konnte die Soziologin Barbara Schäuble zeigen, wie sich der Großteil der von ihr befragten Jugendlichen in Deutschland vom Antisemitismus distanziert und gleichzeitig Jüdinnen und Juden als Gegenbild zum eigenen Selbst positioniert.
In einer empirisch gestützten Untersuchung von Barbara Schäuble und dem Soziologen Albert Scherr zu Artikulationsformen des aktuellen Antisemitismus in heterogenen Jugendszenen kommt zum Ausdruck, welche Differenzanordnungen vorgenommen werden und wie diese begleitet sind von der Beteuerung, nicht antisemitisch zu sprechen. Insbesondere zeigen sich drei Stereotype: "Differenzkonstruktionen, die Juden als vom jeweiligen ‚Wir‘ klar zu unterscheidende Gruppe thematisieren; eine problematische Kritik deutscher Erinnerungspolitik sowie eine Kritik israelischer Politik, in der zum Teil Juden generalisierend zugeschrieben wird, sie seien dafür verantwortlich".
Weil die aktuellen Ausdrucksformen des Antisemitismus in erziehungswissenschaftlicher Hinsicht insbesondere in Jugendszenen untersucht werden, entsteht leicht der Eindruck, es handle sich um ein Jugendproblem. Dem ist entschieden zu widersprechen, da in einer solchen Sichtweise wiederum die Tatsache verdrängt wird, dass es um eine gesamtgesellschaftliche Problematik geht. Der Wunsch, nicht antisemitisch zu sein, wird von Teilnehmenden wie pädagogisch Handelnden in diesem Bildungsfeld getragen. Dieser geteilte Wunsch ist in erster Linie von einem Distanzierungsbedürfnis gegenüber der nationalsozialistischen Verbrechensgeschichte motiviert.
Kontext Migrationsgesellschaft
Der Antisemitismus derer, die auch in der dritten Generation immer noch als "Migranten" bezeichnet werden, knüpft sowohl an den in der deutschen Gesellschaft nach wie vor vorhandenen Antisemitismus als auch an Antisemitismen an, wie sie in den Herkunftsländern eingewanderter Familien ausgeprägt werden. Um Antisemitismus politisch und pädagogisch bearbeiten zu können, sind die jeweiligen Bedingungen zu berücksichtigen, unter denen er auftritt. In der gegenwärtigen Gesellschaft gehören zu diesen Bedingungen neben den prekären rechtlichen und sozialen Verhältnissen, unter denen viele Migranten leben, antimuslimische Ressentiments und der Einfluss islamistischer und nationalistischer Gruppen.
Eine migrationsgesellschaftliche Perspektive in der Bildungsarbeit orientiert sich an der Wirklichkeit der Migration, die ein Phänomen der gegenwärtigen Gesellschaft und der globalen Verhältnisse darstellt. Gleichzeitig umfasst diese Perspektive eine Auseinandersetzung mit diskriminierenden Praktiken und Strukturen und geht von einem Alltagsrassismus aus, mit dem diejenigen konfrontiert sind, die zu Anderen gemacht werden, weil ihr Aussehen, ihr Akzent oder ihre kulturellen Praktiken nicht als zugehörig zur deutschen Gesellschaft anerkannt werden. Eine grundsätzliche Anerkennung von Ausgrenzungserfahrungen und von Kämpfen um Zugehörigkeit kennzeichnet eine migrationsgesellschaftliche Bildungsarbeit.
Durch die Auseinandersetzung mit Antisemitismus ergeben sich dabei neue Herausforderungen. Der Soziologe Wolfram Stender charakterisiert die Situation im Forschungszusammenhang als eine "ungewohnte Konfrontation" von Rassismus- und Antisemitismusforschung.
Nahostkonflikt als antisemitische Projektionsfläche
Der von gesellschaftlichen Minderheiten artikulierte Antisemitismus zeichnet sich genauso wie der Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft durch projektive Besetzungen von Opfer- und Täterpositionen aus. Dafür wird zunehmend der Nahostkonflikt herangezogen, der so interpretiert wird, dass ein dichotomes "Bild von Ohnmacht und Übermacht" entsteht.
Daran orientieren sich Ansätze, die ihre Arbeit migrationsgesellschaftlich verstehen und rassismuskritisch reflektieren. Die Instrumentalisierung des Nahostkonflikts wird dabei "im Spannungsfeld von Ausgrenzung und Identitätssuche" verstanden.
Für einen anerkennenden Umgang mit den Themen, die Jugendliche beschäftigen, und mit ihren Geschichts- und Gegenwartsbezügen plädiert die Bildungsreferentin Elke Gryglewski, insbesondere, wenn es sich um Jugendliche handelt, die im Alltag wenig Wertschätzung erfahren.
Antisemitismuskritische Bildungsarbeit – Kritik statt Entlarvung
Um eine antisemitismuskritische Perspektive herauszubilden, ist zunächst anzuerkennen, dass antisemitische Positionen vielfältig eingenommen werden und sich nicht an Herkunftskontexten festmachen lassen. Im Gegenteil zeichnet sich der aktuelle Antisemitismus gerade dadurch aus, dass er verschiedenste politische Lager, kulturelle und nationale Zuordnungen verbindet und soziale Spaltungen überbrückt. Gemeinsam ist den heterogenen Anknüpfungen an antisemitische Ideologieelemente die Neigung, die eigene Handlungsfähigkeit und Verantwortung zu relativieren und sich selbst als Opfer übermächtiger Kräfte darzustellen.
Eine an Kritik statt an Entlarvung orientierte Bildungsarbeit setzt die Selbstreflexion der pädagogisch Handelnden voraus. Während es in pädagogischen Studiengängen und Fortbildungen meist um die Lernprozesse der potenziellen Teilnehmenden geht, verlangt eine antisemitismuskritische Bildungsarbeit, die Perspektive auch auf die Lehrenden zu verschieben. Denn es kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich Pädagoginnen und Pädagogen jenseits antisemitischer Auffassungen und Bilder befinden, also auf der Seite derer, die mit einem kritischen Bewusstsein für die Problematik ausgestattet sind. Im Gegenteil kommt es bei der Thematisierung von Antisemitismus auf pädagogischer Seite leicht zu einer "inneren Resonanz" gegenüber antisemitischen Äußerungen, die eine "mehr oder weniger intensiv gefühlte Zustimmung"
Der Bildungsreferent Bernd Fechler spricht von "unaufgearbeiteten Schuldgefühlen" und "unbewussten Ambivalenzen", durch die Pädagoginnen und Pädagogen Gefahr laufen, "ihren Kampf mit den Schatten der eigenen Vergangenheit projektiv an ihren jugendlichen Adressaten auszutragen".
Ein antisemitismuskritischer Ansatz nimmt den Begriff der Kritik auch für sich selbst in Anspruch und fragt danach, wie Antisemitismus auch dort reproduziert wird, wo er bekämpft werden soll. Motiviert ist dieser Ansatz aus der rassismuskritischen Bildungsarbeit, die Rassismus als allgemeines gesellschaftliches Problem und nicht als persönliches Vorurteil betrachtet und herausarbeitet, wie unterschiedlich positionierte Individuen und Gruppen anderen Zugehörigkeit, Gleichberechtigung und Partizipation verweigern und hierarchische Unterscheidungen von "Wir" und "Nicht-Wir" vornehmen.