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Antisemitismus und Emotionen | Antisemitismus | bpb.de

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Antisemitismus und Emotionen

Uffa Jensen Stefanie Schüler-Springorum

/ 16 Minuten zu lesen

Tief verwurzelte, gegen Juden gerichtete, "feindliche Gefühle" sind ein zentraler Aspekt des Judenhasses. Eine Emotionsgeschichte des Antisemitismus kann neue Perspektiven eröffnen und zur historischen und politischen Erklärung des zählebigen Ressentiments beitragen.

Vor einiger Zeit erregte ein Buch große mediale Aufmerksamkeit, das unter dem reißerischen Titel "Warum die Deutschen? Warum die Juden?" versprach, das große "Warum" zu erklären, das der von Deutschen begangene, industriell betriebene Massenmord an den europäischen Juden bis heute bei allen auslöst, die sich damit befassen – sei es nach einem entsprechenden Film, bei einem Besuch in einer Gedenkstätte oder in Jahrzehnten akademischer Arbeit. Zwar konnte das Buch dieses Versprechen bei Weitem nicht einlösen, seinen argumentativen, in mancher Hinsicht nicht unproblematischen Furor aber gewann es genau dadurch, dass es wortgewaltig und in Wiederholungsschleifen immer wieder auf die große Leerstelle fast aller bisherigen Erklärungsversuche verwies: auf die Wucht der Emotionen. In der Tat waren (und sind) tief verwurzelte, gegen Juden gerichtete, "feindliche Gefühle" – mithin Neid, Wut, Ekel, Abscheu, Verachtung – nicht erst nach 1933, sondern schon in den Dekaden zuvor ein zentraler Aspekt des Judenhasses.

Antisemitismus als emotionsgeschichtliches Problemfeld

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Feld der historischen Antisemitismusforschung haben sich bisher nur sehr selten für die emotionalen Anteile ihres Forschungsgegenstands interessiert, was auch damit zu tun hat, dass sie ohnehin nicht oft über ihre konzeptionellen und theoretischen Grundlagen nachdenken. Große Bereiche der historischen Forschung untersuchen vornehmlich antisemitische Texte, Bewegungen und Ereignisse und verzichten auf eine konzeptionelle Durchdringung des Materials. In einigen Arbeiten wird Antisemitismus sogar zu einem überzeitlichen Phänomen, das in fast allen nichtjüdischen Gesellschaften auftritt.

Kommt es doch zu einer theoretischen Einordnung, geschieht dies zumeist mit Bezug auf einen bestimmten Teil der sozialwissenschaftlichen und sozialpsychologischen Debatten, nämlich der weitgehend empirisch arbeitenden Vorurteilsforschung. Judenfeindschaft dient hierbei als ein besonders markantes Beispiel für andere Vorurteilsstrukturen. Dadurch erbt die Antisemitismusforschung allerdings auch die systematischen Schwächen solcher Ansätze, die sich nicht selten in einer Einstellungsforschung erschöpfen, die mit Fragebögen und Interviews arbeitet, aber ebenfalls auf einer empirisch-deskriptiven Ebene verbleibt.

Insgesamt muss das Urteil also kritisch ausfallen: Die Antisemitismusforschung ist, so das Fazit des Soziologen Werner Bergmann, nach einem "starken Auftakt" in der Mitte des 20. Jahrhunderts heute durch die "Entstehung und Verfestigung eines Methoden- und Theoriedefizits" und die fehlende Vermittlung von Empirie und Theorie geprägt. Diese konzeptionelle und theoretische Unzufriedenheit mit der Gegenstandsbeschreibung und dem Vorgehen der Antisemitismusforschung bildet für unsere Argumentation einen wichtigen Hintergrund. Unser Ziel ist es, die Forschung zu öffnen, neue Fragen zu stellen und die historische Herangehensweise zu vertiefen und zu radikalisieren. Eine wichtige Dimension stellt dabei die Frage nach den Gefühlen gegen Juden dar. Entsprechende Überlegungen sind schon andernorts als ein möglicher Ausweg aus den vorherrschenden "kategoriale(n) und definitorische(n) Unschärfen und Verwirrungen" beschrieben worden.

Grundsätzlich stellt Antisemitismus eine soziale Praxis dar. Daher muss zunächst nach dem Verhältnis von Emotion und Handlung gefragt werden. In einem alltäglichen Verständnis von Emotionen – und nicht selten auch in deren wissenschaftlicher Erforschung – wird häufig eine direkte Verbindung von Emotion und Handlung angenommen. Wer auf einen Bären, eine Schlange oder einen Tiger – so oder ähnlich die Beispiele in der Forschungsliteratur – trifft, bekommt Angst und flieht. In diesen Affektprogrammen, die in der Regel evolutionsbiologisch als Überlebensstrategie unserer menschlichen Vorfahren dargestellt werden, wird die Handlung auf einen Affekt zurückgeführt, der wiederum eine direkte Reaktion auf einen externen Reiz bildet.

Allerdings gibt es schwerwiegende Einwände gegen einen direkten Zusammenhang von Emotionen und Handlungen. Zunächst ist es bei vielen Emotionen schwer, die angeblich automatisch folgenden Handlungen anzugeben. Oft sind mehrere Handlungen denkbar; selbst bei Angst reagiert nicht jeder Mensch mit Flucht. Zudem ist die Gegenüberstellung von Emotionen und Handlungen auf einer theoretischen Ebene fragwürdig, weil Emotionen bereits Praktiken darstellen. Emotionen haben wir nicht nur, wir machen sie auch. Der Ansatz des doing emotions schließt dabei nicht aus, dass sich sozial erlernte Emotionsstrukturen in einem sozialen Habitus und damit auf einer körperlichen Ebene so verfestigen, dass sie zur zweiten Natur einer Person werden. Damit wird es möglich, nicht einfach Affektprogramme ahistorisch vorauszusetzen, sondern die Entstehung, den Wandel und das Verschwinden von Emotionen sowie die wechselnden Zusammenhänge mit Handlungen historisch zu untersuchen.

Aus der Kritik an eindeutig verlaufenden Affektprogrammen lassen sich zwei Rückschlüsse für die historische Antisemitismusforschung ziehen: Entweder man unterlässt die Erforschung von Emotionen und konzentriert sich auf die kognitiven Anteile des Antisemitismus, da die beteiligten Emotionen gar nicht untersucht werden können oder aber stets gleich funktionieren und somit keinem historischen und gesellschaftlichen Wandel unterworfen sind. Oder man versucht nachzuweisen, warum Emotionen für die historische und politische Erklärung von Antisemitismus relevant sind und wie man sich ihnen theoretisch nähern muss. Hier soll dieser zweite Weg beschritten werden, weil er aus unserer Sicht eine zutreffendere Beschreibung des Phänomens Antisemitismus verspricht. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass kognitive Anteile des "Jüdischen" Antisemitismus mitprägen, vielmehr kann die jeweils historisch spezifische Wechselwirkung von Emotionen und Kognitionen konsequent in den Mittelpunkt der Forschung gerückt werden.

Emotionen in der sozialpsychologischen und sozialwissenschaftlichen Vorurteilsforschung

Die Forschungsdebatten, die in den Sozialwissenschaften, insbesondere in der Sozialpsychologie, der Soziologie, der Politikwissenschaft und in der Geschichtswissenschaft über Vorurteile und Stereotypen geführt wurden, standen in den vergangenen Jahrzehnten unter kognitivistischen Vorzeichen. Kognitive und emotionale Prozesse schienen in getrennten Systemen abzulaufen. In gewisser Hinsicht befanden sie sich in einem beständigen Kampf um die psychische Vorherrschaft: rationale Kalkulation gegen irrationale Überwältigung.

Vor allem die empirische Sozialpsychologie hatte sich unter dem Einfluss kognitivistischer Modelle von einer Berücksichtigung der Emotionen abgewandt. Hierbei wurde der Begriff der "Einstellung" zentral, durch den sich die Grundunterscheidungen zwischen Stereotypen (als Vorstellungen von anderen Gruppen), Vorurteilen (als oft negative Einstellungen gegenüber anderen Gruppen) und Diskriminierung (als einstellungsbasiertes Handeln gegen Gruppen) besonders gut ordnen und analysieren ließen.

In der sozialpsychologisch orientierten Forschung lassen sich Stereotype als Wissensstrukturen besonders gut empirisch untersuchen, indem man Probanden nach ihren Vorstellungen über andere Gruppen befragt. Aus diesen Vorstellungen können dann Vorurteile werden, wenn sich die stereotypen Wahrnehmungen zu einer Grundhaltung verdichten. Eine solche Einstellung – so die Annahme – legt dann in der Regel dem Einzelnen eine Handlungstendenz nahe. Die klassische Einstellungsforschung, die auf individuelle Wahrnehmungsprozesse reduziert blieb, konnte mit Ansätzen der "Social Identity Theory" kombiniert werden, um zu untersuchen, wie die Mitgliedschaft in sozialen Gruppen die Entstehung von Vorurteilen beeinflusst und steuert.

All diesen Ansätzen sind wesentliche Annahmen gemein; vor allem verbleiben sie vornehmlich – und bewusst – auf der kognitiven Ebene. Erst seit den 1990er Jahren gibt es in der Sozialpsychologie verstärkt Bemühungen, die Bedeutung emotionaler Prozesse für Vorurteilsstrukturen hervorzuheben, wobei vor allem die "Intergroup Emotion Theory" (IET) von Belang war: Wenn die soziale Identität eines Gruppenmitglieds angesprochen sei, werde es wahrscheinlicher, dass diese Person ähnliche emotionale Reaktionen zeige wie andere Gruppenmitglieder. Anders ausgedrückt: Wenn sich eine einzelne Person einer bestimmten Gruppe zuordnet, verstärkt dies die emotionale wie kognitive Ausrichtung auf die Gruppe und zugleich die entsprechende Abgrenzung zu anderen Gruppen. Die IET kritisiert an den älteren Ansätzen zur Vorurteilsforschung vor allem die Nichtberücksichtigung von Emotionen, die dazu führe, dass die stereotype Wahrnehmung und die Vorurteilsbildung ungenau beschrieben werden. Insbesondere würden die kognitivistischen Ansätze davon ausgehen, dass eine andere Gruppe nur auf zwei unterschiedliche Weisen wahrgenommen werden könne: als positiv oder negativ.

Hingegen ließen sich, wenn man die emotionalen Anteile in solchen sozialen Bewertungsprozessen anschaue, sehr viel genauere Unterscheidungen vornehmen: Eine Gruppe könne als bedrohlich, als schmutzig oder als anmaßend bewertet werden, weshalb jeweils unterschiedliche emotionale Reaktionen wie Angst, Ekel oder Wut zu vermuten seien – und damit letztlich auch unterschiedliche Handlungstendenzen wie Flucht, Distanzwahrung oder Entrüstung. Der Vorteil dieser Konzeption liegt in den Augen der IET-Anhänger darin, Verhalten durch die Kenntnis der beteiligten Emotionen viel genauer vorhersagen zu können, denn Emotionen laufen auch in diesen neueren Forschungen, obwohl sie zumeist eine Bewertungsebene (appraisals) vorsehen, auf relativ eindeutige Handlungsoptionen hinaus.

Bis in die unmittelbare Gegenwart beeinflussen sozialpsychologische Theorien die wichtigsten Ansätze der sozialwissenschaftlichen Einstellungsforschung. Die Untersuchungen zu "Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit" greifen auf das entsprechende Instrumentarium zurück. Das wichtigste Ergebnis dieser Langzeituntersuchungen scheint bisher zu sein, dass sich empirische Wechselwirkungen zwischen Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Sexismus und Ähnlichem nachweisen lassen, sodass von einem gemeinsamen Syndrom der "Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" gesprochen werden kann.

Auch im Rahmen dieser Langzeitstudien ist jedoch vor Kurzem festgestellt worden, dass die empirische Vorurteilsforschung die Frage vernachlässigt hat, welche Emotionen mit entsprechenden Vorurteilsstrukturen einhergehen. Grundsätzlich steht hierbei ebenfalls die prognostische Bedeutung von gruppenbasierten Emotionen im Fokus, da man voraussetzt, dass diese Emotionen nach bestimmten Mustern diskriminierende Handlungen induzieren: auf Bedrohung folgt Angst folgt Flucht/Aggression. Es ist letztlich der Wunsch, soziales Verhalten vorhersagen und kontrollieren zu können, der den Blick auf die Wirkung von Emotionen prägt und ihnen ein gewisses Maß an Automatismus unterstellt.

Emotionsgeschichtliche Erforschung von Stereotypen und Vorurteilen

Eine emotionsgeschichtliche Perspektive wird gerade diesen Automatismus problematisieren müssen. Es lassen sich drei Einwände gegen diese sozialwissenschaftlichen und sozialpsychologischen Versuche formulieren, Emotionen in die Vorurteilsforschung zu integrieren. Zunächst wird dabei mit einer Gegenüberstellung von Emotion und Kognition argumentiert, obwohl eine solche Trennung von einer wachsenden Anzahl unterschiedlicher Disziplinen inzwischen angezweifelt wird.

Zweitens untersucht diese Forschungstradition nur selten die Gruppenbildungsprozesse selbst, was in anderen Bereichen der Sozialpsychologie geschieht. Die Gruppen, denen sich Individuen zugehörig fühlen (oder nicht), denen gegenüber sie verschiedene Emotionen empfinden (oder nicht), existieren eben nicht "einfach so", sondern werden durch diese unterschiedlichen Haltungen erst mitkonstituiert. Die sozialwissenschaftliche Forschung läuft Gefahr, die Gruppen, die sie zu analysieren vorgibt, bereits vorauszusetzen – und damit mittels Fragebögen, wissenschaftlichen Gestus und politischer Einflussnahme eine realitätsgenerierende und -normierende Funktion auszuüben.

Schließlich – so lautet der dritte Kritikpunkt – enthistorisieren und dekontextualisieren diese Forschungen auch die Kategorie Emotion. Dabei werden Emotionen als eigenständiges Gebilde mehr gesetzt denn analysiert, um eine Prognose über die folgende Handlung zu ermöglichen. In der Regel erscheinen sie stets als klar abgrenzbare, unterschiedliche Einheiten – die Angst, die Wut, der Hass –, obwohl diese weder ontologisch noch in der sozialen Wirklichkeit so einfach voneinander zu unterscheiden sind. Letztlich kulminiert die doppelte Abstrahierung – die von der Gruppen- wie die von der Emotionsgenese – in einer entscheidenden, auch politisch problematischen Leerstelle der interdisziplinären Vorurteilsforschung: Wenn vorurteilsbehaftete Gruppen und handlungsleitende feindliche Emotionen de facto existieren, wieso sollte sich dann etwas an ihnen ändern lassen, nicht zuletzt durch derartige Forschung? Erst die historische Perspektive auf die Herausbildung von Gruppen und Emotionen lässt auch in Zukunft einen historischen Wandel möglich erscheinen und erlaubt es, über etwaige Bedingungen für diesen Wandel nachzudenken. Eine emotionsgeschichtliche Vorurteilsforschung muss somit bestimmte Kriterien erfüllen: Sie sollte von historisch wandelbaren Emotionen ausgehen, vorgefasste, eindeutige Gruppenzuschreibungen vermeiden und eine strikte Unterscheidung zwischen Emotion und Kognition unterlassen.

Mit dem Ziel, eine Emotionsgeschichte zu begründen, die sowohl die psychologischen Erkenntnisse über die Funktionsweise von Emotionen zur Kenntnis nimmt als auch offen für einen Begriff von historischer Wandelbarkeit sein kann, soll hier ein theoretisches Angebot unterbreitet werden: der Core-affect-Ansatz des Psychologen James A. Russell. Russell argumentiert zunächst gegen die Vorstellung von klar abgrenzbaren Einzelemotionen wie Angst, Wut oder Hass. Beschreiben lässt sich hingegen lediglich ein neurologischer Zustand, den Russell core affect nennt. Diesen könnte man als eine Art "emotionales Grundrauschen" beschreiben, das man gelegentlich als Stimmung wahrnehmen kann, das in der Regel aber vorbewusst bleibt. Dieser core affect ist nur vage nach Vergnügen/Missvergnügen und Erregung/Trägheit unterschieden. Aus dem Grundrauschen können dann Emotionen entstehen, sollte man sich in einer bestimmten Situation darauf konzentrieren – oft ausgelöst durch ein bestimmtes Objekt oder einen bestimmten Anlass. Je nach Objekt, Situation und kulturellem Kontext sowie nach bestimmten Regeln und kognitiven Bewertungen bildet man dann Emotionen aus. Ein individueller Körper, so lassen sich Russells Überlegungen radikal-historistisch wenden, hat also bestimmte Fähigkeiten erworben, wie aus einer körperlichen Grundstimmung ein konkretes Gefühl gebildet wird.

In Bezug auf die Wahrnehmungs- und Emotionsprozesse, die bei der Vorurteilsbildung eine Rolle spielen, impliziert dies schematisch folgenden Ablauf: Man trifft auf eine Person (Ereignis), die man in dieser konkreten Situation als unangenehm empfindet (affektive Qualität). Die eigene Stimmung (core affect) verschlechtert sich; man nimmt eine körperliche Veränderung wahr. Wenn man erfährt (oder schon weiß), dass diese Person einer bestimmten Gruppe angehört, kann man für diese emotionale Erfahrung ihre Gruppenzugehörigkeit verantwortlich machen (Zuschreibung). Ist der Stimmungsumschwung markant genug, beginnt man darüber nachzudenken (Reflexion): "Warum habe ich ein schlechtes Gefühl, wenn ich eine solche Person treffe? Was fühle ich? Was sollte ich fühlen? Was fühlen andere, wenn sie auf einen Angehörigen einer solchen Gruppe treffen? Warum haben sie auch schlechte Gefühle?"

Schließlich kann man aufgrund der Bewertung der Situation, des impliziten, kulturgebunden und historischen Emotionswissens und der normativen Einschätzungen angeben, welche Emotion man empfindet: Abneigung, Ärger, Wut, Ekel, Hass. Gegebenenfalls wird man dann entsprechend handeln: das Gespräch beenden, die Person meiden. Zugleich besteht hier die Möglichkeit, die eigenen Emotionen zu beeinflussen und zu steuern (emotionale Regulierung).

Ein weiterer wichtiger Aspekt lässt sich zudem annehmen, obwohl er keine Rolle in Russells Modell spielt: Derartige Abläufe können erinnert werden. Wenn man erneut auf diese Person trifft, wird man sich möglicherweise an die emotionale Reaktion erinnern und diese erneut aktivieren. Es ist auch möglich (aber keineswegs zwingend), dass man solche Gefühlserfahrungen auf andere Personen gleicher Gruppenzugehörigkeit überträgt, sodass sich das Gefühl gegen diese Person zu einem Gefühl gegen deren Gruppe verstetigt, wie auch immer man deren Beschaffenheit imaginiert.

Obwohl Modelle wie das von Russell wichtige Einsichten auch für die Geschichtswissenschaft bieten können, darf man bei der Übertragung auf konkrete historische Fälle deren schematischen Charakter nicht außer Acht lassen. Insbesondere an zwei Punkten geraten die dargestellten Überlegungen an ihre Grenzen. Zunächst ist natürlich auch ein anderer Verlauf dieser schematischen und zugespitzten Darstellung eines Zusammentreffens denkbar – und dies geschieht in historischen Situationen ständig. So kann man eine positive Reaktion auf die betreffende Person haben; es kann dann einigen Aufwand erfordern, die sich entwickelnden positiven Gefühle zu begründen. Wenn man bereits eine negative Haltung der entsprechenden Gruppe gegenüber besitzt, muss man in der Regel auf die Figur der Ausnahme rekurrieren: "Generell mag ich die Menschen dieser Gruppe nicht, aber dieser ist mir aufgrund seines außergewöhnlichen Charakters sympathisch." Gespeichert werden kann mit dieser Begegnung dann nicht nur die "Ausnahme", sondern ein weiteres Mal auch die negative Sichtweise.

Wichtig ist darüber hinaus die Erkenntnis, dass eine Situation, in der eine emotionale Erfahrung gemacht werden kann, niemals losgelöst ist von ihrem Kontext. Erfahrung "an sich" ist eine Chimäre. Vorwissen strukturiert jede Erfahrung, sodass sich bestimmte Haltungen zu anderen Gruppen, die in einer Gruppe geteilt werden, dem einzelnen Gruppenmitglied gleichsam aufdrängen können. Sie nicht zu teilen, stellt nicht selten die Gruppenmitgliedschaft in Frage, insofern sind Gruppenbildungsprozesse für die Produktion von Vorurteilen und Emotionen elementar. In radikalster Form braucht man die Begegnung mit einer Person, die sich als Mitglied einer anderen Gruppe herausstellt oder so vorgestellt wird, auch gar nicht mehr, weil das entsprechende gruppenbezogene Vorwissen sich durch kulturelle und mediale Vermittlung verselbstständigt hat. Vorwissen beinhaltet dabei stets Emotionswissen, das Teil des moralischen Gewebes von Gruppen ist: "Welche Emotionen habe ich anderen gegenüber zu haben? Wie fühlen die sich an? Wie kommuniziere ich sie?" Und so weiter. Emotionen basieren insofern auch stets auf sozialen Einübungsprozessen in Gruppen und sogar ganzen Gesellschaften.

Trotz dieser Einschränkungen erscheint es für den Fall gruppenbezogener Vorurteilsstrukturen und auch für den Antisemitismus sinnvoll, die spezifische Eigenlogik von Emotionen näher zu definieren oder genauer: die Eigenlogik jener körperlichen "Erfahrungen", die in einem bestimmten historischen Kontext gemeinhin als Emotionen bezeichnet und wahrgenommen werden. Für diese Eigenlogik sind drei Dimensionen maßgeblich:

1. Intensität:

Emotionen bewegen den Körper. Die von Russell beschriebenen komplexen Prozesse der Aktivierung, Bewertung und Mobilisierung eines core affect in konkrete Emotionen materialisieren sich im Körper. Dabei unterliegen beide Entitäten – Emotionen wie Körper – einem historischen Wandel mit eigener Zeitlichkeit. Gefühle gegen spezifische Gruppen stellen Verkörperlichungen dar, die insbesondere aus dieser Qualität ihre Evidenz und Intensität erhalten, wodurch subjektiv eine Dramatisierung erfahrbar wird. Man glaubt, Abneigung gegen andere buchstäblich am eigenen Körper zu erfahren.

2. Speicherung:

Über Erinnerungsprozesse und Gedächtnisspeicherung lassen sich emotionale Reaktionen reaktivieren. Durch eine solche Archivierung werden Vorurteile übertragen, verallgemeinert und damit verstetigt. Dies eröffnet eine Erklärungsmöglichkeit für die Langfristigkeit und Zählebigkeit von Vorurteilen. Allerdings brauchen diese auch die beständige Wiederholung, Einübung und damit Speicherung, um nicht doch irgendwann vergessen zu werden.

3. Übertragung:

Emotionen können ansteckend wirken, weil sie nicht nur per Sprache, sondern auch mit dem Körper kommuniziert werden können. Als Verkörperlichungen, die in sozialen Prozessen entstehen und als solche ebenso an sie gebunden bleiben, steuern sie diese mit. Kognitive Ansprache vermag die verkörperlichten Reaktionsmuster möglicherweise auch nur unter bestimmten Bedingungen zu beeinflussen. Zugleich kann die emotionalisierte Sprache besonders eindrücklich wirken.

Plädoyer für eine Emotionsgeschichte des modernen Antisemitismus

Was also trägt die Emotionsgeschichte zur modernen Antisemitismusforschung bei? Eine entsprechende Erweiterung der Antisemitismusforschung wirft neue Fragen auf; sie fordert dazu auf, neue Quellen zu analysieren und alte mit Blick auf ihre emotionale Qualität neu zu interpretieren. In ihr wird nach der jeweiligen Bedeutung von feindlichen Gefühlen wie Hass, Ekel, Neid, Verachtung oder Ressentiment für antisemitische Praktiken verschiedener Art gefragt. Zugleich können ambivalente Gefühlslagen und emotionale Mischzustände ebenso berücksichtigt werden wie die Blockade von positiven Gefühlen für Juden. Letztlich fallen sogar Versuche in den Arbeitsbereich der Emotionsgeschichte, Antisemitismus möglichst nüchtern und emotionslos zu verstehen – denn auch darin wird eine Emotionspraktik sichtbar. In diesem Sinne erweist sich die Emotionsgeschichte als eine Perspektive, die der Geschichtswissenschaft neue Erkenntnisse beschert.

Doch inwieweit liefert die Emotionsgeschichte der Antisemitismusforschung mehr als "nur" eine neue Perspektive? Kommt mit der Emotionsgeschichte etwas Konzeptionell-Theoretisches in den Blick, was man ohne sie gar nicht oder nicht deutlich genug gesehen hat? Ließe sich mit ihr vielleicht die besondere Hartnäckigkeit und Zählebigkeit von Vorurteilen im Allgemeinen und von Antisemitismus im Besonderen erklären? Die Attraktivität des Emotionszugangs liegt – das verdeutlichen die affekttheoretischen Debatten der vergangenen Jahre – in dem Wunsch begründet, soziales Handeln im Rückgriff auf ein automatisiertes, vorbewusstes, schnelles und körperliches Agieren zu erklären. Gleichwohl, so haben wir argumentiert, liegt darin auch die Krux: politisch, weil es damit kaum eine Rettung aus einmal automatisiert ablaufenden Vorurteilsstrukturen zu geben scheint, und konzeptionell, weil viele Argumente gegen derartige Programme geliefert werden können.

Alternativ muss, so meinen wir, bei einer Geschichte des menschlichen Körpers angesetzt werden, in der dieser nicht als ahistorische Einheit gedacht, sondern konsequent historisiert wird. In dieser Perspektive lässt sich über Antisemitismus als eine doppelte körperliche Verankerung neu nachdenken. Einerseits materialisiert er sich im Körper: des Antisemiten – und dies vornehmlich als Gefühle gegen Juden. Andererseits materialisiert sich Antisemitismus stets am Körper: des Juden als Marker für Emotionen. Dass diese Markierungen die Realität sozialer Interaktionen verfehlen, unterminiert nicht die Glaubwürdigkeit solcher Markierungsversuche, sondern befördert diese Bemühungen nur zusätzlich in dem Wunsch, das antisemitische Gefühl mit einer imaginierten Realität in Übereinstimmung zu sehen. In der sorgfältigen Analyse solcher Dynamiken liegt das große Potenzial einer Emotionsgeschichte des Antisemitismus.

Dieser Text ist eine gekürzte Version unserer Einleitung für das Themenheft "Gefühle gegen Juden" der Zeitschrift "Geschichte und Gesellschaft", 39 (2013) 4, S. 413–442. Das Themenheft versammelt zudem vier Detailstudien zum Thema

Fussnoten

Fußnoten

  1. Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800–1933, Frankfurt/M. 2011; vgl. auch die Rezension von Stefanie Schüler-Springorum in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 60 (2012), S. 189f.

  2. Vgl. Aurel Kolnai, Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle, Frankfurt/M. 2007.

  3. Vgl. beispielsweise Robert S. Wistrich, A Lethal Obsession: Anti-Semitism from Antiquity to the Global Jihad, New York 2010.

  4. Es gibt noch einen zweiten Strang der sozialwissenschaftlichen Forschungen, der allerdings kaum noch in der historischen Forschung aufgegriffen wird und deshalb hier nur erwähnt werden soll. Gemeint sind die Sozialtheorien zum Antisemitismus, die in der Tradition der Kritischen Theorie oder/und der Psychoanalyse stehen. Vgl. vor allem Moishe Postone, Die Logik des Antisemitismus, in: Merkur, 36 (1982) 1, S. 13–25; Samuel Salzborn, Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich, Frankfurt/M. 2010.

  5. Vgl. etwa Wolfgang Benz/Angelika Königseder (Hrsg.), Judenfeindschaft als Paradigma. Studien zur Vorurteilsforschung, Berlin 2002.

  6. Vgl. dazu Werner Bergmann, Starker Auftakt – Schwach im Abgang. Antisemitismusforschung in den Sozialwissenschaften, in: ders./Mona Körte (Hrsg.), Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, Berlin 2004, S. 219–239.

  7. Ebd., S. 222.

  8. Neuere Bemühungen um die Begründung der Antisemitismusforschung verfolgen ein ähnliches Interesse, wenn sie auch sozialtheoretisch orientiert und damit anders gelagert sind. Vgl. vor allem Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001.

  9. Vgl. mit einem überzeugenden Argument für ein Konzept von Ressentiment Julijana Ranc, Ressentiment-Kommunikation in actu. Antijüdische Affekte und Argumentationen, in: Mittelweg 36, 19 (2010) 4, S. 20–36, hier: S. 22.

  10. Für das Bärenbeispiel: William James, What is an Emotion?, in: Mind, 34 (1884) 9, S. 188–205, hier: S. 190; für die Schlange: Joseph LeDoux, Das Netz der Gefühle. Wie Emotionen entstehen, München 20032, S. 176–179; der Tiger findet sich in: Roy F. Baumeister et al., How Emotion Shapes Behavior: Feedback, Anticipation, and Reflection, Rather Than Direct Causation, in: Personality and Social Psychology Review, 11 (2007) 2, S. 167–203.

  11. Zu den Konzeptionalisierungen von Angst in der interdisziplinären Emotionsforschung vgl. Jan Plamper/Benjamin Lazier (Hrsg.), Fear. Across the Disciplines, Pittsburgh 2012.

  12. Vgl. dazu Pascal Eitler/Monique Scheer, Emotionsgeschichte als Körpergeschichte. Eine heuristische Perspektive auf religiöse Konversionen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft, 35 (2009) 2, S. 282–313; Monique Scheer, Are Emotions a Kind of Practice (and Is That What Makes Them Have a History)? A Bourdieuan Approach to Understanding Emotion, in: History and Theory, 51 (2012) 2, S. 193–220.

  13. Vgl. P. Eitler/M. Scheer (Anm. 12), S. 292.

  14. Vgl. David L. Hamilton/Diane M. Mackie, Cognitive and Affective Processes in Intergroup Perception: The Developing Interface, in: dies. (Hrsg.), Affect, Cognition and Stereotyping. Interactive Processes in Group Perception, San Diego 1993, S. 1–11.

  15. Vgl. als eine Zusammenfassung der Ergebnisse David L. Hamilton (Hrsg.), Cognitive Processes in Stereotyping and Intergroup Behavior, Hillsdale, NJ 1981.

  16. Vgl. Eliot R. Smith/Diane M. Mackie, Aggression, Hatred and Other Emotions, in: John F. Dovidio et al. (Hrsg.), On the Nature of Prejudice: Fifty Years After Allport, Malden, MA 2005, S. 361–376.

  17. Vgl. Henri Tajfel (Hrsg.), Social Identity and Intergroup Relations, Cambridge 1982; ders., Social Psychology of Intergroup Relations, in: Annual Review of Psychology, 33 (1982) 1, S. 1–39.

  18. Die IET wurde begründet in Eliot R. Smith, Social Identity and Social Emotions: Toward New Conceptualizations of Prejudice, in: D.M. Mackie/D.L. Hamilton (Anm. 14), S. 297–315.

  19. Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und erste empirische Ergebnisse, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 1, Frankfurt/M. 2002, S. 15–34.

  20. Vgl. Frank Asbrock et al., Das Gefühl macht den Unterschied. Emotionen gegenüber ‚Ausländern‘ in Ost- und Westdeutschland, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsch-deutsche Zustände. 20 Jahre nach dem Mauerfall, Frankfurt/M. 2009, S. 152–167.

  21. Vgl. Cara A. Talaska et al., Legitimating Racial Discrimination: Emotions, Not Beliefs, Best Predict Discrimination in a Meta-Analysis, in: Social Justice Research, 21 (2008), S. 263–296.

  22. Vgl. Luiz Pessoa, Emergent Processes in Cognitive-Emotional Interactions, in: Dialogues in Clinical Neuroscience, 12 (2010) 4, S. 271–286.

  23. Vgl. dazu Jerome Kagan, What Is Emotion? History, Measures, and Meanings, New Haven 2007, S. 8.

  24. Vgl. James A. Russell, Core Affect and the Psychological Construction of Emotion, in: Pychological Review, 110 (2003) 1, S. 145–172.

  25. Vgl. Joan Wallach Scott, The Evidence of Experience, in: Critical Inquiry, 17 (1991) 4, S. 773–797; Harold Mah, The Predicament of Experience, in: Modern Intellectual History, 5 (2008), S. 97–119.

  26. Vgl. dazu gewissermaßen als kleine Pionierstudie Andrea Hopp, Antijüdische Emotionen adeliger Frauen: zwei Fallbeispiele (1824–1945), in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 21 (2012), S. 268–293.

  27. Vgl. Uffa Jensen, Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005.

Dr. phil., geb. 1969; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Lentzeallee 94, 14195 Berlin. E-Mail Link: jensen@mpib-berlin.mpg.de

Dr. phil., geb. 1962; Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, Ernst-Reuter-Platz 7, 10587 Berlin. E-Mail Link: schueler-springorum@tu-berlin.de