Vor einiger Zeit erregte ein Buch große mediale Aufmerksamkeit, das unter dem reißerischen Titel "Warum die Deutschen? Warum die Juden?"
Antisemitismus als emotionsgeschichtliches Problemfeld
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Feld der historischen Antisemitismusforschung haben sich bisher nur sehr selten für die emotionalen Anteile ihres Forschungsgegenstands interessiert, was auch damit zu tun hat, dass sie ohnehin nicht oft über ihre konzeptionellen und theoretischen Grundlagen nachdenken. Große Bereiche der historischen Forschung untersuchen vornehmlich antisemitische Texte, Bewegungen und Ereignisse und verzichten auf eine konzeptionelle Durchdringung des Materials. In einigen Arbeiten wird Antisemitismus sogar zu einem überzeitlichen Phänomen, das in fast allen nichtjüdischen Gesellschaften auftritt.
Kommt es doch zu einer theoretischen Einordnung, geschieht dies zumeist mit Bezug auf einen bestimmten Teil der sozialwissenschaftlichen und sozialpsychologischen Debatten, nämlich der weitgehend empirisch arbeitenden Vorurteilsforschung.
Insgesamt muss das Urteil also kritisch ausfallen: Die Antisemitismusforschung ist, so das Fazit des Soziologen Werner Bergmann, nach einem "starken Auftakt" in der Mitte des 20. Jahrhunderts heute durch die "Entstehung und Verfestigung eines Methoden- und Theoriedefizits" und die fehlende Vermittlung von Empirie und Theorie geprägt.
Grundsätzlich stellt Antisemitismus eine soziale Praxis dar. Daher muss zunächst nach dem Verhältnis von Emotion und Handlung gefragt werden. In einem alltäglichen Verständnis von Emotionen – und nicht selten auch in deren wissenschaftlicher Erforschung – wird häufig eine direkte Verbindung von Emotion und Handlung angenommen. Wer auf einen Bären, eine Schlange oder einen Tiger – so oder ähnlich die Beispiele in der Forschungsliteratur
Allerdings gibt es schwerwiegende Einwände gegen einen direkten Zusammenhang von Emotionen und Handlungen. Zunächst ist es bei vielen Emotionen schwer, die angeblich automatisch folgenden Handlungen anzugeben. Oft sind mehrere Handlungen denkbar; selbst bei Angst reagiert nicht jeder Mensch mit Flucht. Zudem ist die Gegenüberstellung von Emotionen und Handlungen auf einer theoretischen Ebene fragwürdig, weil Emotionen bereits Praktiken darstellen. Emotionen haben wir nicht nur, wir machen sie auch.
Aus der Kritik an eindeutig verlaufenden Affektprogrammen lassen sich zwei Rückschlüsse für die historische Antisemitismusforschung ziehen: Entweder man unterlässt die Erforschung von Emotionen und konzentriert sich auf die kognitiven Anteile des Antisemitismus, da die beteiligten Emotionen gar nicht untersucht werden können oder aber stets gleich funktionieren und somit keinem historischen und gesellschaftlichen Wandel unterworfen sind. Oder man versucht nachzuweisen, warum Emotionen für die historische und politische Erklärung von Antisemitismus relevant sind und wie man sich ihnen theoretisch nähern muss. Hier soll dieser zweite Weg beschritten werden, weil er aus unserer Sicht eine zutreffendere Beschreibung des Phänomens Antisemitismus verspricht. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass kognitive Anteile des "Jüdischen" Antisemitismus mitprägen, vielmehr kann die jeweils historisch spezifische Wechselwirkung von Emotionen und Kognitionen konsequent in den Mittelpunkt der Forschung gerückt werden.
Emotionen in der sozialpsychologischen und sozialwissenschaftlichen Vorurteilsforschung
Die Forschungsdebatten, die in den Sozialwissenschaften, insbesondere in der Sozialpsychologie, der Soziologie, der Politikwissenschaft und in der Geschichtswissenschaft über Vorurteile und Stereotypen geführt wurden, standen in den vergangenen Jahrzehnten unter kognitivistischen Vorzeichen. Kognitive und emotionale Prozesse schienen in getrennten Systemen abzulaufen. In gewisser Hinsicht befanden sie sich in einem beständigen Kampf um die psychische Vorherrschaft: rationale Kalkulation gegen irrationale Überwältigung.
Vor allem die empirische Sozialpsychologie hatte sich unter dem Einfluss kognitivistischer Modelle von einer Berücksichtigung der Emotionen abgewandt.
In der sozialpsychologisch orientierten Forschung lassen sich Stereotype als Wissensstrukturen besonders gut empirisch untersuchen, indem man Probanden nach ihren Vorstellungen über andere Gruppen befragt. Aus diesen Vorstellungen können dann Vorurteile werden, wenn sich die stereotypen Wahrnehmungen zu einer Grundhaltung verdichten. Eine solche Einstellung – so die Annahme – legt dann in der Regel dem Einzelnen eine Handlungstendenz nahe. Die klassische Einstellungsforschung, die auf individuelle Wahrnehmungsprozesse reduziert blieb, konnte mit Ansätzen der "Social Identity Theory" kombiniert werden, um zu untersuchen, wie die Mitgliedschaft in sozialen Gruppen die Entstehung von Vorurteilen beeinflusst und steuert.
All diesen Ansätzen sind wesentliche Annahmen gemein; vor allem verbleiben sie vornehmlich – und bewusst – auf der kognitiven Ebene. Erst seit den 1990er Jahren gibt es in der Sozialpsychologie verstärkt Bemühungen, die Bedeutung emotionaler Prozesse für Vorurteilsstrukturen hervorzuheben, wobei vor allem die "Intergroup Emotion Theory" (IET) von Belang war:
Hingegen ließen sich, wenn man die emotionalen Anteile in solchen sozialen Bewertungsprozessen anschaue, sehr viel genauere Unterscheidungen vornehmen: Eine Gruppe könne als bedrohlich, als schmutzig oder als anmaßend bewertet werden, weshalb jeweils unterschiedliche emotionale Reaktionen wie Angst, Ekel oder Wut zu vermuten seien – und damit letztlich auch unterschiedliche Handlungstendenzen wie Flucht, Distanzwahrung oder Entrüstung. Der Vorteil dieser Konzeption liegt in den Augen der IET-Anhänger darin, Verhalten durch die Kenntnis der beteiligten Emotionen viel genauer vorhersagen zu können, denn Emotionen laufen auch in diesen neueren Forschungen, obwohl sie zumeist eine Bewertungsebene (appraisals) vorsehen, auf relativ eindeutige Handlungsoptionen hinaus.
Bis in die unmittelbare Gegenwart beeinflussen sozialpsychologische Theorien die wichtigsten Ansätze der sozialwissenschaftlichen Einstellungsforschung. Die Untersuchungen zu "Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit" greifen auf das entsprechende Instrumentarium zurück.
Auch im Rahmen dieser Langzeitstudien ist jedoch vor Kurzem festgestellt worden, dass die empirische Vorurteilsforschung die Frage vernachlässigt hat, welche Emotionen mit entsprechenden Vorurteilsstrukturen einhergehen.
Emotionsgeschichtliche Erforschung von Stereotypen und Vorurteilen
Eine emotionsgeschichtliche Perspektive wird gerade diesen Automatismus problematisieren müssen. Es lassen sich drei Einwände gegen diese sozialwissenschaftlichen und sozialpsychologischen Versuche formulieren, Emotionen in die Vorurteilsforschung zu integrieren. Zunächst wird dabei mit einer Gegenüberstellung von Emotion und Kognition argumentiert, obwohl eine solche Trennung von einer wachsenden Anzahl unterschiedlicher Disziplinen inzwischen angezweifelt wird.
Zweitens untersucht diese Forschungstradition nur selten die Gruppenbildungsprozesse selbst, was in anderen Bereichen der Sozialpsychologie geschieht. Die Gruppen, denen sich Individuen zugehörig fühlen (oder nicht), denen gegenüber sie verschiedene Emotionen empfinden (oder nicht), existieren eben nicht "einfach so", sondern werden durch diese unterschiedlichen Haltungen erst mitkonstituiert. Die sozialwissenschaftliche Forschung läuft Gefahr, die Gruppen, die sie zu analysieren vorgibt, bereits vorauszusetzen – und damit mittels Fragebögen, wissenschaftlichen Gestus und politischer Einflussnahme eine realitätsgenerierende und -normierende Funktion auszuüben.
Schließlich – so lautet der dritte Kritikpunkt – enthistorisieren und dekontextualisieren diese Forschungen auch die Kategorie Emotion. Dabei werden Emotionen als eigenständiges Gebilde mehr gesetzt denn analysiert, um eine Prognose über die folgende Handlung zu ermöglichen. In der Regel erscheinen sie stets als klar abgrenzbare, unterschiedliche Einheiten – die Angst, die Wut, der Hass –, obwohl diese weder ontologisch noch in der sozialen Wirklichkeit so einfach voneinander zu unterscheiden sind.
Mit dem Ziel, eine Emotionsgeschichte zu begründen, die sowohl die psychologischen Erkenntnisse über die Funktionsweise von Emotionen zur Kenntnis nimmt als auch offen für einen Begriff von historischer Wandelbarkeit sein kann, soll hier ein theoretisches Angebot unterbreitet werden: der Core-affect-Ansatz des Psychologen James A. Russell.
In Bezug auf die Wahrnehmungs- und Emotionsprozesse, die bei der Vorurteilsbildung eine Rolle spielen, impliziert dies schematisch folgenden Ablauf: Man trifft auf eine Person (Ereignis), die man in dieser konkreten Situation als unangenehm empfindet (affektive Qualität). Die eigene Stimmung (core affect) verschlechtert sich; man nimmt eine körperliche Veränderung wahr. Wenn man erfährt (oder schon weiß), dass diese Person einer bestimmten Gruppe angehört, kann man für diese emotionale Erfahrung ihre Gruppenzugehörigkeit verantwortlich machen (Zuschreibung). Ist der Stimmungsumschwung markant genug, beginnt man darüber nachzudenken (Reflexion): "Warum habe ich ein schlechtes Gefühl, wenn ich eine solche Person treffe? Was fühle ich? Was sollte ich fühlen? Was fühlen andere, wenn sie auf einen Angehörigen einer solchen Gruppe treffen? Warum haben sie auch schlechte Gefühle?"
Schließlich kann man aufgrund der Bewertung der Situation, des impliziten, kulturgebunden und historischen Emotionswissens und der normativen Einschätzungen angeben, welche Emotion man empfindet: Abneigung, Ärger, Wut, Ekel, Hass. Gegebenenfalls wird man dann entsprechend handeln: das Gespräch beenden, die Person meiden. Zugleich besteht hier die Möglichkeit, die eigenen Emotionen zu beeinflussen und zu steuern (emotionale Regulierung).
Ein weiterer wichtiger Aspekt lässt sich zudem annehmen, obwohl er keine Rolle in Russells Modell spielt: Derartige Abläufe können erinnert werden. Wenn man erneut auf diese Person trifft, wird man sich möglicherweise an die emotionale Reaktion erinnern und diese erneut aktivieren. Es ist auch möglich (aber keineswegs zwingend), dass man solche Gefühlserfahrungen auf andere Personen gleicher Gruppenzugehörigkeit überträgt, sodass sich das Gefühl gegen diese Person zu einem Gefühl gegen deren Gruppe verstetigt, wie auch immer man deren Beschaffenheit imaginiert.
Obwohl Modelle wie das von Russell wichtige Einsichten auch für die Geschichtswissenschaft bieten können, darf man bei der Übertragung auf konkrete historische Fälle deren schematischen Charakter nicht außer Acht lassen. Insbesondere an zwei Punkten geraten die dargestellten Überlegungen an ihre Grenzen. Zunächst ist natürlich auch ein anderer Verlauf dieser schematischen und zugespitzten Darstellung eines Zusammentreffens denkbar – und dies geschieht in historischen Situationen ständig. So kann man eine positive Reaktion auf die betreffende Person haben; es kann dann einigen Aufwand erfordern, die sich entwickelnden positiven Gefühle zu begründen. Wenn man bereits eine negative Haltung der entsprechenden Gruppe gegenüber besitzt, muss man in der Regel auf die Figur der Ausnahme rekurrieren: "Generell mag ich die Menschen dieser Gruppe nicht, aber dieser ist mir aufgrund seines außergewöhnlichen Charakters sympathisch." Gespeichert werden kann mit dieser Begegnung dann nicht nur die "Ausnahme", sondern ein weiteres Mal auch die negative Sichtweise.
Wichtig ist darüber hinaus die Erkenntnis, dass eine Situation, in der eine emotionale Erfahrung gemacht werden kann, niemals losgelöst ist von ihrem Kontext. Erfahrung "an sich" ist eine Chimäre.
Trotz dieser Einschränkungen erscheint es für den Fall gruppenbezogener Vorurteilsstrukturen und auch für den Antisemitismus sinnvoll, die spezifische Eigenlogik von Emotionen näher zu definieren oder genauer: die Eigenlogik jener körperlichen "Erfahrungen", die in einem bestimmten historischen Kontext gemeinhin als Emotionen bezeichnet und wahrgenommen werden. Für diese Eigenlogik sind drei Dimensionen maßgeblich:
1. Intensität:
Emotionen bewegen den Körper. Die von Russell beschriebenen komplexen Prozesse der Aktivierung, Bewertung und Mobilisierung eines core affect in konkrete Emotionen materialisieren sich im Körper. Dabei unterliegen beide Entitäten – Emotionen wie Körper – einem historischen Wandel mit eigener Zeitlichkeit. Gefühle gegen spezifische Gruppen stellen Verkörperlichungen dar, die insbesondere aus dieser Qualität ihre Evidenz und Intensität erhalten, wodurch subjektiv eine Dramatisierung erfahrbar wird. Man glaubt, Abneigung gegen andere buchstäblich am eigenen Körper zu erfahren.
2. Speicherung:
Über Erinnerungsprozesse und Gedächtnisspeicherung lassen sich emotionale Reaktionen reaktivieren. Durch eine solche Archivierung werden Vorurteile übertragen, verallgemeinert und damit verstetigt. Dies eröffnet eine Erklärungsmöglichkeit für die Langfristigkeit und Zählebigkeit von Vorurteilen. Allerdings brauchen diese auch die beständige Wiederholung, Einübung und damit Speicherung, um nicht doch irgendwann vergessen zu werden.
3. Übertragung:
Emotionen können ansteckend wirken, weil sie nicht nur per Sprache, sondern auch mit dem Körper kommuniziert werden können. Als Verkörperlichungen, die in sozialen Prozessen entstehen und als solche ebenso an sie gebunden bleiben, steuern sie diese mit. Kognitive Ansprache vermag die verkörperlichten Reaktionsmuster möglicherweise auch nur unter bestimmten Bedingungen zu beeinflussen. Zugleich kann die emotionalisierte Sprache besonders eindrücklich wirken.
Plädoyer für eine Emotionsgeschichte des modernen Antisemitismus
Was also trägt die Emotionsgeschichte zur modernen Antisemitismusforschung bei? Eine entsprechende Erweiterung der Antisemitismusforschung wirft neue Fragen auf; sie fordert dazu auf, neue Quellen zu analysieren und alte mit Blick auf ihre emotionale Qualität neu zu interpretieren. In ihr wird nach der jeweiligen Bedeutung von feindlichen Gefühlen wie Hass, Ekel, Neid, Verachtung oder Ressentiment für antisemitische Praktiken verschiedener Art gefragt.
Doch inwieweit liefert die Emotionsgeschichte der Antisemitismusforschung mehr als "nur" eine neue Perspektive? Kommt mit der Emotionsgeschichte etwas Konzeptionell-Theoretisches in den Blick, was man ohne sie gar nicht oder nicht deutlich genug gesehen hat? Ließe sich mit ihr vielleicht die besondere Hartnäckigkeit und Zählebigkeit von Vorurteilen im Allgemeinen und von Antisemitismus im Besonderen erklären? Die Attraktivität des Emotionszugangs liegt – das verdeutlichen die affekttheoretischen Debatten der vergangenen Jahre – in dem Wunsch begründet, soziales Handeln im Rückgriff auf ein automatisiertes, vorbewusstes, schnelles und körperliches Agieren zu erklären. Gleichwohl, so haben wir argumentiert, liegt darin auch die Krux: politisch, weil es damit kaum eine Rettung aus einmal automatisiert ablaufenden Vorurteilsstrukturen zu geben scheint, und konzeptionell, weil viele Argumente gegen derartige Programme geliefert werden können.
Alternativ muss, so meinen wir, bei einer Geschichte des menschlichen Körpers angesetzt werden, in der dieser nicht als ahistorische Einheit gedacht, sondern konsequent historisiert wird. In dieser Perspektive lässt sich über Antisemitismus als eine doppelte körperliche Verankerung neu nachdenken. Einerseits materialisiert er sich im Körper: des Antisemiten – und dies vornehmlich als Gefühle gegen Juden. Andererseits materialisiert sich Antisemitismus stets am Körper: des Juden als Marker für Emotionen. Dass diese Markierungen die Realität sozialer Interaktionen verfehlen, unterminiert nicht die Glaubwürdigkeit solcher Markierungsversuche, sondern befördert diese Bemühungen nur zusätzlich in dem Wunsch, das antisemitische Gefühl mit einer imaginierten Realität in Übereinstimmung zu sehen.
Dieser Text ist eine gekürzte Version unserer Einleitung für das Themenheft "Gefühle gegen Juden" der Zeitschrift "Geschichte und Gesellschaft", 39 (2013) 4, S. 413–442. Das Themenheft versammelt zudem vier Detailstudien zum Thema