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Von der Judenfeindschaft zum Antisemitismus | Antisemitismus | bpb.de

Antisemitismus Editorial "Man wird doch noch mal sagen dürfen …" Antisemitismus in Hoch- und Populärkultur Von der Judenfeindschaft zum Antisemitismus. Ein historischer Überblick Antisemitismus und Emotionen Antisemitische Einstellungen in Deutschland und Europa Vehementer Säkularismus als Antisemitismus? Bildungsarbeit in der Auseinandersetzung mit gegenwärtigem Antisemitismus

Von der Judenfeindschaft zum Antisemitismus Ein historischer Überblick

Gideon Botsch

/ 15 Minuten zu lesen

Der moderne Antisemitismus beerbt ältere Formen der Judenfeindschaft. Wurzelnd im christlichen Antijudaismus löst sich der neuzeitliche Judenhass von religiösen Motiven ab, gipfelt im NS-Vernichtungsantisemitismus und wirkt bis in die Gegenwart fort.

Antisemitismus ist eine verbreitete Bezeichnung für Judenfeindschaft. Ein weiter Begriff des Antisemitismus, wie er in den Politik-, Sozial- und Kulturwissenschaften üblich ist, umfasst sämtliche Formen von Hass, Vorurteilen und Ressentiments gegen Juden, egal in welchen historischen Kontexten sie auftreten. In diesem Sinne wird Antisemitismus auch in der öffentlichen Debatte wahrgenommen. Demgegenüber untersucht die geschichtswissenschaftliche Antisemitismusforschung ihn zumeist als spezifische Form der modernen Judenfeindschaft. Einer möglichen Universalisierung als quasi zeit-, ort- und kontextloses Phänomen begegnet sie mit Skepsis. Beide Perspektiven können, je nach Fragestellung, sinnvoll sein. Für den vorliegenden Beitrag wird die historische Terminologie maßgeblich sein, die für ältere oder anders gelagerte Phänomene Begriffe wie Antijudaismus oder Judenfeindschaft verwendet.

Damit sollen historische Kontinuitäten nicht geleugnet werden. Die Judenfeindschaft hat "ihre Wurzeln in religiösen Vorurteilen und Stereotypen, in der christlich-jüdischen Differenz, oder genauer: in der traditionellen Ablehnung des Judentums durch das Christentum und die christliche Welt". Der moderne Antisemitismus hat sie im 19. Jahrhundert beerbt, in sich aufgenommen und tendenziell abgelöst.

Dabei lassen sich mehrere "Schichten" erkennen: erstens, vorchristliche antike Judenfeindschaft; zweitens, spätantiker und mittelalterlicher christlicher Antijudaismus; drittens, neuzeitliche Judenfeindschaft, die noch im christlichen Antijudaismus wurzelt, aber schon moderne Formen des Judenhasses aufnimmt; viertens, der moderne Antisemitismus, der im Rassenantisemitismus und schließlich in der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik kulminiert; fünftens, Antisemitismus "nach Auschwitz", mit seinen beiden bedeutendsten Erscheinungsformen, sekundärem und israelbezogenem Antisemitismus.

Antike Judenfeindschaft

In der "jüdischen" Wahrnehmung handelt es sich beim Antisemitismus um ein universales Phänomen. Dies ergibt sich aus der kulturellen Überlieferung des Judentums. Schon die Bibel schildert Anfeindungen und Verfolgungen des Volkes Israel durch seine Nachbarvölker. Und erzählt nicht die Geschichte der Esther, derer beim Purim-Fest gedacht wird, von einem in letzter Minute vereitelten Anschlag eines grausamen Vernichtungsantisemitismus? Mit Rasseln und Lärm übertönen die Kinder den Namen Hamans, des Anstifters dieses legendären Pogroms. Verbreitet ist die Wendung: In jeder Generation gibt es einen Haman.

Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive handelt es sich bei den biblischen Überlieferungen um Mythen, deren möglicher historischer Kern sich nicht belegen lässt. Fixierbar wird Judenfeindschaft, wo ergänzende Quellen und Überlieferungen sie bestätigen. Dies gilt für die hellenistisch-römische Epoche, vor allem die Zeit nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 unserer Zeitrechnung (u.Z.) und der Zerstreuung der Juden über das Römische Reich. Der römisch-jüdische Historiker Flavius Josephus (etwa 37/38–nach 100) dokumentierte in seiner Schrift "Gegen Apion" bereits um 96 u.Z. antijüdische Stereotype. Einige davon, wie die berüchtigte Ritualmordlegende, ziehen sich dann hartnäckig durch die Geschichte des Judenhasses beziehungsweise werden später neu belebt.

Der Ägyptologe Jan Assmann führt antike Formen von Judenfeindschaft auf eine "mosaische Unterscheidung" zurück. Aus Perspektive des heidnischen Polytheismus, mit seiner prinzipiellen Akzeptanz anderer Götter, sei der jüdische Monotheismus eine Provokation gewesen. Diese These legt nahe, das Judentum als Religion zu verstehen, die sich "im Besitz einer absoluten, in geoffenbarten Schriften niedergelegten Wahrheit" befindet. Die These bleibt umstritten. So verkündet das rabbinische Judentum im Unterschied zu Christentum und Islam keine offenbarte Wahrheit, diese muss durch Disput und Rechtsauslegung vielmehr ständig gesucht werden. Hier besteht ein bis heute wirksames grundsätzliches Missverständnis christlicher Theologie gegenüber dem Judentum. Die wohlwollende Betonung der Verwandtschaft beider Religionen kann derartige Unterschiede nicht nivellieren.

Christlicher Antijudaismus

Die theologische Differenz liegt in der Frage begründet, ob Jesus der verheißene Messias sei oder nicht. Mit seinem missionarischen Verkündigungsanspruch sah sich das Christentum in Konkurrenz zum Judentum, aus dem heraus es entstanden war, von dem es sich aber bald absetzte. Bereits im 1. und 2. Jahrhundert wuchsen die Spannungen zwischen (Ur-)Christen und Juden. Im Zuge der Verbreitung des Christentums im Römischen Reich und seiner Etablierung als Staatsreligion an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert erließen verschiedene Konzile antijüdische Edikte, die aus den Juden eine geduldete, aber diskriminierte Minderheit machten. Theologisch ausformuliert wurde die Verwerfung des Judentums unter anderem durch die Kirchenväter in den Adversos-Iudaeus-Schriften, so bei Johannes Chrysostomos (etwa 349–407) und Augustinus (354–430).

Schon in der Spätantike kam es zu gewalttätigen Übergriffen von Christen gegen Juden. Als im Mittelalter die ersten christlichen Eiferer 1096 zum Volkskreuzzug aufbrachen, vernichteten sie unter dem Schlachtruf "deus lo vult!" ("Gott will es!") die Zentren jüdischer Gelehrsamkeit am Mittelrhein: Speyer, Worms und Mainz.

Die paradoxe Situation der Juden im christlichen Abendland ergab sich aus einer theologischen Annahme über die heilsgeschichtliche Rolle Israels. Aus christlicher Perspektive führten die Böswilligkeit und Blindheit der Juden, denen die Kreuzigung Jesu zugeschrieben wurde, zu ihrer Verwerfung als auserwähltes Volk Gottes. Doch wurden sie gerade in ihrem selbst verschuldeten Elend zu Zeugen für den Anspruch des christlichen Glaubens, die Wahrheit zu verkünden. Daher waren sie zwar auszugrenzen, aber nicht zu vernichten, denn am Ende der Heilsgeschichte stünde ihre Bekehrung. Diese Theologie wurde bildlich dargestellt durch das Figurenpaar Ecclesia und Synagoga, das sich in gotischen Domen des Mittelalters findet. Der Figur der Synagoga sind die Augen verbunden, ihr Stab ist gebrochen und ihre Krone herabgerutscht; doch Ecclesia, Sinnbild der Kirche, wendet ihr Antlitz mitleidsvoll der irre geleiteten Schwester zu (vgl. Abbildungen 1 und 2 in der PDF-Version).

In Judengassen und Judenvierteln von der mittelalterlichen Mehrheitsgesellschaft abgesondert, wurden die Juden durch Kleiderordnungen und andere Markierungen (Judenhut, gelber Fleck) stigmatisiert. Von den wichtigsten beiden Wirtschaftszweigen, der Landwirtschaft und dem Handwerk, waren sie ebenso ausgeschlossen wie vom Klerus. Das christliche Zinsverbot galt indes nicht für Juden. In der Nische des Geldverleihs, wie in manchen anderen Bereichen des Handels, wurden sie geduldet. Mit der Expansion der Geldwirtschaft seit dem Hochmittelalter wuchs die Bedeutung dieses Sektors, während sich das Zinsverbot aufweichte und die Konkurrenz zu christlichen Geldverleihern stieg. Das Stereotyp des jüdischen Wucherers verbreitete sich. Eine angeblich besonders enge Verbindung des Judentums zum Geld zählt seither zu den festen Bestandteilen judenfeindlicher Agitation.

Gegen Ende des Mittelalters wurden die religiösen Feindseligkeiten durch Elemente des Volksaberglaubens ergänzt. Mitte des 14. Jahrhunderts kam es zu grausamen Überfällen und der Vernichtung ganzer jüdischer Gemeinden, als den Juden vorgeworfen wurde, durch Vergiftung der Brunnen die Pestepidemie verursacht zu haben. Ende des 13. Jahrhunderts wurden die Juden von den britischen Inseln vertrieben, während des 14. Jahrhunderts aus Frankreich und gegen Ende des 15. Jahrhunderts von der iberischen Halbinsel. Doch auch in den mitteleuropäischen Fluchtorten waren sie vor Verfolgungen und systematischen Austreibungen nicht sicher. Bis etwa 1520 wurden sie aus den meisten wichtigen Städten und Ländern des alten Reichs verdrängt.

Charakteristisch für den Wandel der mittelalterlichen Judenfeindschaft ist die Ausbreitung des Motivs der "Judensau" seit dem 13. Jahrhundert (vgl. Abbildung 3 in der PDF-Version). Es illustriert die beginnende Ablösung der Judenfeindschaft von ihren religiösen Quellen. Die Juden werden nun als Artverwandte der Schweine dargestellt; die Feindseligkeit bezieht sich nicht mehr nur auf das religiöse Bekenntnis, das ein Jude individuell ändern kann, sondern auf die Herkunft. Die Möglichkeit der Erlösung fehlt: Keine gütige Schwester Ecclesia wendet sich den Juden zu.

Frühe Neuzeit

Schweine, marranos, war das im Spanien des 15. Jahrhunderts aufkommende Schimpfwort für getaufte Juden, denen man vorwarf, insgeheim weiter an ihrer Religion festzuhalten. Ein Klima der Verdächtigung breitete sich aus und verband sich mit den ersten Äußerungsformen eines neuzeitlichen Rassismus. Die spanischen Blutsgesetze, die limpieza di sangre, diskriminierten Menschen jüdischer und muslimischer Herkunft. 1492, nach der Verdrängung der Muslime von der iberischen Halbinsel, verkündeten die "katholischen Könige" Ferdinand II. (1452–1516) und Isabella I. (1451–1504), nun seien auch die Juden nicht länger zu dulden. Am Epochenbeginn der Frühen Neuzeit stehen Zwangstaufen, brutale Übergriffe mit zahlreichen Opfern und die Vertreibung der nicht Bekehrten aus Spanien. Verdächtigt, angefeindet und verfolgt wurden nun zunehmend nicht mehr nur Angehörige der religiösen und kulturellen Minderheit des Judentums, sondern auch ihre Nachkommen und darüber hinaus diejenigen, denen eine jüdische Herkunft oder zu große Nähe zu Juden unterstellt wurde.

Uneinheitlich ist das Bild der Reformatoren. Martin Luther (1483–1546) hoffte zunächst, dass eine erneuerte Kirche die Juden für Christus gewinnen werde. Aus seinen späteren Schriften spricht dann glühender Judenhass. Luther forderte ihren radikalen Ausschluss, ein gewaltsames Vorgehen und betonte, dass die getauften Juden eine besonders große Gefahr darstellten.

Die jüdische Existenz hing fast überall von der Duldung der Obrigkeit ab, die sich an den Juden bereicherte. Für sozialrevolutionäre Bewegungen "von unten" wurden sie wegen dieser vermeintlichen Nähe gleichzeitig zur Zielscheibe. Den Finanzakteuren, die den Aufstieg der neuzeitlichen Territorialstaaten mitfinanzierten, den sogenannten Hofjuden, wurde ihre Treue selten gedankt. Traten Krisen auf, wurde ihnen die alleinige Verantwortung aufgebürdet, und nicht selten erreichte ein Thronfolger einen "Schuldenschnitt", wenn er sich des Hofjudens seines Vorgängers entledigte, indem er ihn gemeinsam mit den anderen Juden seines Landes verwies oder gar physisch verfolgen ließ. In Osteuropa standen jüdische Verwalter zwischen Gutsbesitzern und Landbevölkerung. Während des Kosakenaufstands seit 1648 kam es in der heutigen Ukraine zu grausamen Massakern an den Juden.

1700 kompilierte Johann Eisenmenger (1654–1704) eine antijüdische Schrift unter dem Titel "Entdecktes Judenthum". Der deutsche Hebraist griff ein Motiv des mittelalterlichen Antijudaismus auf, die Agitation gegen den Talmud unter Zugrundelegung willkürlich ausgelegter und aus dem Zusammenhang gerissener, wenn nicht gefälschter Zitate. Sprengkraft entfaltete bereits der Titel des Werks, der suggerierte, dass die Juden heimlich und im Verborgenen agieren – gefährlich, gerade weil sie so schwer zu erkennen und zu durchschauen seien. An dieses Motiv konnten die seit dem 18. Jahrhundert entstehenden Verschwörungsfantasien anknüpfen.

Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wird der Status der Juden wieder Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen. Die Forderungen nach Emanzipation oder "bürgerlicher Verbesserung", wie sie beispielsweise in Preußen 1781 durch den Juristen Christian Dohm (1751–1820) erhoben wurden, wiesen christlich und gleichzeitig national argumentierende Judenfeinde wie der Historiker Friedrich Rühs (1781–1820) scharf zurück.

Moderner Antisemitismus

Im Laufe des 19. Jahrhunderts verändert sich der Charakter der Judenfeindschaft. Sie richtet sich nun gegen die rechtliche und soziale Gleichstellung der Juden, will deren Emanzipation verhindern oder rückgängig machen. Zugleich werden "die Juden" immer stärker zu einer Chiffre für alle gesellschaftlichen Fehlentwicklungen, die im Zuge der Modernisierung bemängelt werden. Miteinander verwobene "fundamentale gesellschaftliche Umwälzungen" prägen die Entstehungszeit des Antisemitismus. Hierzu zählen unter anderem Industrialisierung und Urbanisierung, Säkularisierung und Nationalisierung. Die dichotomische Unterscheidung zwischen Fremdem und Eigenem, die dem nationalistischen Deutungsschema zu Grunde liegt, wird durch die Existenz einer uneindeutigen Sondergruppe im Inneren in Frage gestellt. Klaus Holz spricht von der "Figur des Dritten": Die Juden gelten als Element, das sich nicht in die "nationale Ordnung der Welt" einpassen lasse.

Ausschreitungen gegen Juden im Russischen Reich erregten große Aufmerksamkeit in Europa. Das russische Wort Pogrom wurde seit dem 19. Jahrhundert in vielen Sprachen zum Ausdruck für derartige spontane kollektive Gewaltakte gegen Minderheiten. Doch auch die mitteleuropäischen Juden wurden im Abstand von etwa 30 Jahren von gewalttätigen Verfolgungen heimgesucht, beginnend mit den "Hep-Hep-Unruhen" von 1819, über Krawalle im Nachgang der 1848er Revolution bis zum sogenannten Radauantisemitismus um 1881.

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wird der Begriff Antisemitismus von politischen Judengegnern als Eigenbezeichnung aufgegriffen. Der Journalist Wilhelm Marr (1819–1904) gründete 1879 eine "Antisemiten-Liga" und publizierte seine Schrift "Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nichtconfessionellen Standpunkt aus betrachtet". Noch im selben Jahr kam es auch zu einer Kontroverse um die Rolle der Juden in der deutschen Gesellschaft, die durch den Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) ausgelöst wurde und heute als Berliner Antisemitismusstreit bekannt ist. Deutschland gilt seither als der Standardfall für derartigen "intellektuellen" Antisemitismus. Aber ebenso wenig, wie sich gewalttätige Pogrome nur in Russland ereigneten, blieb der Antisemitismus des Worts auf Deutschland beschränkt. Frankreich erschütterte und spaltete in den 1890er Jahren die Dreyfus-Affäre, die "nachhaltigste Gesellschaftskrise der Dritten Republik".

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts strebten zahlreiche Antisemiten eine Fundierung ihrer Judenfeindschaft durch die modernen Rassentheorien an. Als Abstammungsgemeinschaft oder Rasse verstanden, wurden den Juden alle denkbaren negativen Eigenschaften zugeschrieben. Nationalismus und Rassismus verbanden sich wiederum mit sozialen Statusängsten, kulturell-religiösen Ungewissheiten und politischen Herausforderungen. Während Teile der sozialen Bewegungen Juden und das Judentum für Ungerechtigkeit und Elend, ja allgemein für den Kapitalismus verantwortlich machten, tauchte auf der anderen Seite das Stereotyp des jüdischen Revolutionärs und Unruhestifters auf. Nach dem Ersten Weltkrieg kursierten in ganz Europa die "Protokolle der Weisen von Zion", ein von der zaristischen Geheimpolizei fabriziertes, angebliches Konzept der Juden für die Erringung der Weltherrschaft. Obgleich bald fest stand, dass das Dokument gefälscht war, ging es in den Kernbestand antisemitischen Denkens ein. Die Vorstellung, dass eine besonders perfide Verschwörung der Juden für die Fehlentwicklungen der Moderne verantwortlich ist, dass es sich um ein planvolles Vorgehen zur Zersetzung der Völker handelt, und dass oberflächlich einander bekämpfende politische Strömungen in Wirklichkeit gleichermaßen dem Weltjudentum dienen, übt in unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten immer wieder und bis heute eine verblüffende Faszination aus.

In Deutschland schlossen sich die antisemitischen Kräfte in schlagkräftigen Kampforganisationen zusammen, die insgesamt in der nationalsozialistischen Bewegung aufgingen. Die Nationalsozialisten verstanden es, breite Teile der Bevölkerung anzusprechen und gleichzeitig den brutalen Radauantisemitismus der eigenen Basisklientel zu bedienen. Mit Hitlers Machtantritt 1933 wurde der Antisemitismus zu einem Kernelement staatlicher Politik. Ein diskriminierendes rassistisches Regelwerk von Gesetzen, Verordnungen und Maßnahmen grenzte die Juden wirksam aus der deutschen Gesellschaft aus. Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs radikalisierten sich die Maßnahmen der nationalsozialistischen Judenpolitik von der Entrechtung über die Ghettoisierung und Konzentration bis zu groß angelegten Massenmorden. Spätestens um die Jahreswende 1941/1942 zielte die NS-Politik auf die Ermordung sämtlicher Juden in Europa.

Diese Vernichtungspolitik, an der sich antisemitische Gesinnungsgenossen der verbündeten oder besetzten Länder beteiligten, wirkte sich für das europäische Judentum verheerend aus. Etwa sechs Millionen Menschenleben fielen ihr zum Opfer. Viele Überlebende verließen den Kontinent und siedelten sich in Palästina/Israel oder Übersee an. Die europäischen Gesellschaften scheinen seither vom Antisemitismus geläutert, offene Judenfeindschaft zu einem Randphänomen geworden zu sein. Doch der Schein trügt.

Judenfeindschaft "nach Auschwitz"

Seit der Gründung des Staates Israel 1948 entstand eine neue Form der Judenfeindschaft, die als israelbezogener Antisemitismus bezeichnet wird. In der Sowjetunion und einigen Ländern des sozialistischen Lagers überlagerte sich diese Form des Antizionismus mit überkommenen Motiven und Stereotypen aus der je nationalen antijüdischen Tradition. Im Stalinismus verband sie sich mit der Verschwörungsfantasie des Kosmopolitismus. Schauprozesse und Säuberungen in der Sowjetunion, in Ungarn, Polen und weiteren Ländern trafen Juden nicht direkt als Juden, aber durch die quasi beiläufig erwähnte jüdische Herkunft der Beschuldigten entstand der Eindruck einer Unzuverlässigkeit dieser Minderheit gegenüber dem sozialistischen Staat.

Der Antizionismus bildet eine spezifische Deutungsmöglichkeit des jüdisch-arabischen beziehungsweise israelisch-palästinensischen Konfliktes. Der Antisemitismus ist nicht die Ursache des Konflikts, doch beeinflussten und radikalisierten judenfeindliche Motive den arabischen Nationalismus. Dabei ließ sich an spezifisch islamische Stereotype über Juden anknüpfen. Besonders nach dem "Sechs-Tage-Krieg" 1967 solidarisierten sich viele Angehörige der neuen Protestbewegungen in Westeuropa und Nordamerika mit dem palästinensischen Nationalismus. Antijüdische Motive solcher "Israel-Kritik" lassen sich schwer übersehen. In der jüngsten Diskussion um einen "neuen Antisemitismus" wird unter anderem auf "doppelte Standards" verwiesen, wenn an Israels Politik andere Maßstäbe angelegt werden als an andere Staaten.

In Deutschland kommt ein Motiv hinzu, das eng mit der zweiten Form des Antisemitismus "nach Auschwitz" verbunden ist und in der Literatur als Entlastungsantisemitismus oder "sekundärer Antisemitismus" bezeichnet wird. Bei diesem Phänomen geht es um Abwehr von Scham- und Schuldgefühlen seitens einer Gesellschaft, die sich der schmerzlichen Auseinandersetzung mit historischer Täterschaft stellen muss. Offene Auschwitz-Leugnung ist nur die Spitze des Eisbergs. Typischer und verbreiteter ist das radikale Einfordern eines Schlussstrichs unter die Vergangenheit, begleitet von bagatellisierenden Vergleichen mit anderen Menschheitsverbrechen und aggressiven Vorwürfen an "die" Juden oder "den" Staat Israel. Solcher Antisemitismus äußert sich beispielsweise in Leserbriefen, auf Internetforen oder in spontanen Zuschriften an jüdische oder israelische Institutionen. Seine Träger sind häufig gebildet und unterschreiben mit vollem Namen. Es ist daher zu fragen, ob die für die Bundesrepublik der Zeit bis 1989 konstatierte "Kommunikationslatenz" antisemitischer Einstellungen sich in der Zwischenzeit aufgeweicht hat.

"Ein todtes Meer voll Gift und Haß"

Ältere Schichten der Judenfeindschaft verschwinden nicht einfach. Auch heute noch gibt es einen aggressiven, zumeist von Neonazis vorgetragenen Rassenantisemitismus. Überkommene Stereotype bündeln sich zu hysterischen Verschwörungsfantasien – etwa wenn Kritiker des Weltfinanzsystems eine "falsche Konkretheit" in ihre Argumentationen einbauen und versuchen, einen personell greifbaren Gegner zu konstruieren, den sie mit einzelnen Juden oder "dem" Judentum identifizieren. Den Kirchen und Konfessionen gelingt es – trotz beachtlicher Anstrengungen von Theologen, Klerus und Laien – angesichts der tiefen Verwurzelung antijüdischer Elemente in der christlichen Überlieferung nicht, diese Tradition gänzlich hinter sich zu lassen. Und auch in säkularisierter Form wirken antijüdische Stereotype bis in die Gegenwart hinein fort. Die einzelnen Erscheinungsformen von Judenfeindschaft werden diffus und überlagern sich.

Aus "jüdischer" Sicht ist das weder überraschend noch neu. Bereits 1838 nannte der Jurist Gabriel Riesser (1806–1863) die Judenfeindschaft einen "Haß (…) ohne bestimmten Inhalt (…), der seinen einstigen religiösen Gehalt überlebt hat, (…) ein todtes Meer voll Gift und Haß". Für die Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno stellte der Antisemitismus eine "pathische Projektion" dar. Er bezieht seine beharrliche Persistenz auch daher, dass er als Passepartout funktioniert und diffuse, teils widersprüchliche Motive der Feindseligkeit miteinander verbindet. Judenfeindschaft wird zum "beweglichen Vorurteil".

In ihrer Sammlung antisemitischer "Vorurteile und Mythen" führen Julius H. Schoeps und Joachim Schlör allein vierundzwanzig Bilder, die vom "Gottesmörder" über den "Wucherer", die "Dunkelmänner", den "Intellektuellen" und den "Zersetzer" bis zum "Israeli" und zur "Auschwitz-Lüge" reichen. Diese Bilder sind historisch gewachsen, aber in vielfältiger Mischung leben sie bis heute fort.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Werner Bergmann, Geschichte des Antisemitismus, München 20063.

  2. Vgl. Samuel Salzborn, Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich, Frankfurt/M.–New York 2010.

  3. Auf ausführliche Literaturangaben muss hier verzichtet werden. Für die einzelnen beschriebenen Personen, Ereignisse und Phänomene vgl. mit weiterführenden Literaturangaben unter anderem Wolfgang Benz (Hrsg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, 7 Bde., Berlin u.a. 2008ff.

  4. Julius H. Schoeps, Die Juden als konstantes Ärgernis? Christlicher Antijudaismus als historisches, psychologisches und politisches Phänomen, in: Gideon Botsch et al. (Hrsg.), Islamophobie und Antisemitismus – ein umstrittener Vergleich, Berlin–Boston 2012, S. 107–118, hier: S. 108. Vgl. Gerhard Czermak, Christen gegen Juden. Geschichte einer Verfolgung, Frankfurt/M. 1991.

  5. Vgl. Hubert Cancik, Der antike Antisemitismus und seine Rezeption, in: Christina von Braun/Eva-Maria Ziege (Hrsg.), "Das ‚bewegliche‘ Vorurteil". Aspekte des internationalen Antisemitismus, Würzburg 2004, S. 63–79.

  6. Jan Assmann, zit. nach: Eine neue Form der Gewalt, in: Der Spiegel, Nr. 52 vom 22.12.2006; vgl. ders., Die Mosaische Unterscheidung oder Der Preis des Monotheismus, München 2003.

  7. Vgl. Rolf Schieder (Hrsg.), Die Gewalt des einen Gottes. Die Monotheismus-Debatte zwischen Jan Assmann, Micha Brumlik, Rolf Schieder, Peter Sloterdijk und anderen, Berlin 2014.

  8. Werner Bergmann/Ulrich Wyrwa, Antisemitismus in Zentraleuropa, Darmstadt 2011, S. 5.

  9. Vgl. Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001.

  10. Elke-Vera Kotowski, Der Fall Dreyfus und die Folgen, in: APuZ, (2007) 50, S. 25–32, hier: S. 25.

  11. Vgl. Esther Webman (Hrsg.), The Global Impact of The Protocols of the Elders of Zion. A Century-old Myth, London–New York 2011; Eva Horn/Michael Hagemeister (Hrsg.), Die Fiktion von der jüdischen Weltverschwörung. Zu Text und Kontext der "Protokolle der Weisen von Zion", Göttingen 2012.

  12. Vgl. Lars Rensmann/Julius H. Schoeps (Hrsg.), Politics and Resentment. Antisemitism and Counter-Cosmopolitism in the European Union, Leiden–Boston 2011.

  13. Die komplexe Frage nach Judenfeindschaft und Antisemitismus im Islam muss hier ausgeblendet bleiben.

  14. Doron Rabinovici/Ulrich Speck/Natan Sznaider (Hrsg.), Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt/M. 2004.

  15. Vgl. Lars Rensmann, Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2004.

  16. Vgl. Monika Schwarz-Friesel/Jehuda Reinharz, Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, Berlin–New York 2013.

  17. Werner Bergmann/Rainer Erb, Kommunikationslatenz, Moral und öffentliche Meinung. Theoretische Überlegungen zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 38 (1986), S. 209–222.

  18. Vgl. L. Rensmann (Anm. 15), S. 39; Werner Bergmann/Wilhelm Heitmeyer, Communicating Anti-Semitism. Are the "Boundaries of the Speakable" Shifting?, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 33 (2005), S. 70–89.

  19. Vgl. Rainer Erb/Michael Kohlstruck, Die Funktionen von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit für die rechtsextreme Bewegung, in: Stephan Braun et al. (Hrsg.), Strategien der extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten, Wiesbaden 2009, S. 419–439; Gideon Botsch/Christoph Kopke, A Case Study of Anti-Semitism in the Language and Politics of the Contemporary Far Right in Germany, in: Matthew Feldman/Paul Jackson (Hrsg.), Doublespeak. The Rhetoric of the Far Right Since 1945, Stuttgart 2014, S. 207–221.

  20. Zit. n. Gideon Botsch/Christoph Kopke, "Im Grunde genommen sollten wir schweigen …" Jüdische Studien ohne Antisemitismus – Antisemitismusforschung ohne Juden?, in: Gideon Botsch et al. (Hrsg.), "… und handle mit Vernunft". Beiträge zur europäisch-jüdischen Beziehungsgeschichte, Hildesheim u.a. 2012, S. 303–320, hier: S. 309.

  21. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung, in: dies., Dialektik der Aufklärung und Schriften 1940–1950, Frankfurt/M. 1987, S. 197–238, hier: S. 217ff.; vgl. Lars Rensmann, Kritische Theorie über den Antisemitismus. Studien zu Struktur, Erklärungspotential und Aktualität, Berlin–Hamburg 1998.

  22. Vgl. Ch. v. Braun/E.-M. Ziege (Anm. 5).

  23. Vgl. Julius H. Schoeps/Joachim Schlör (Hrsg.), Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, Frankfurt/M. o.J. (1995).

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Dr. phil., geb. 1970; Politikwissenschaftler, Forschungsschwerpunkt Antisemitismus- und Rechtsextremismusforschung, Moses Mendelssohn Zentrum – Universität Potsdam, Am Neuen Markt 8, 14467 Potsdam. E-Mail Link: botsch@uni-potsdam.de