Dass Kaiser Franz Joseph seine Hühneraugen schmerzen, Alma Mahler das gemeinsame Kind mit Oskar Kokoschka abtreibt, Erzherzog Franz Ferdinand, vom höfischen Leben ausgeschlossen, sich zum Spielen mit seiner Modelleisenbahn zurückzieht, Franz Kafkas Heiratsantrag an Felice Bauer zu einem Fiasko gerät, zwischen Sigmund Freud und Carl Gustav Jung ein Gelehrtenstreit par excellence ausbricht oder sich Robert Musil einmal vor seiner Frau schlafen legt und sodann zum liebenden Beobachter wird; ja wer, wann, wo, mit wem urlaubt oder gar das Bett teilt, sich Drogen hingibt oder in Eifersucht vergräbt – all das macht für Florian Illies den "Sommer des Jahrhunderts" aus.
Jene Unwissenheit ist es, die 1913 mit 1988 verbindet. Beide stehen im Schatten der ihnen folgenden Jahre, die von Geschichtsschreibung sowie Erinnerungskultur wenig überraschend ungleich stärker beachtet werden. Die Ereignisse von 1989 bringen die des Jahres "vor dem Aufbruch" fast zum Verschwinden, überlagern sie, färben sie ein. Denn kaum einmal werden sie nicht vom Ende her gedacht. Wer jedoch innehält, vermag Besonderheiten, Wechselwirkungen und Wirkmechanismen im deutsch-deutschen Kräftefeld auszumachen. An die Stelle eines Narrativs, das die DDR als hoffnungslose Alternative zur Bundesrepublik zeigt, tritt eines, das die relative Stabilisierung der Beziehungen beider deutscher Staaten betont.
Für eine solche Geschichtsschreibung reicht es allerdings kaum aus, allein das Who’s who der kulturellen Avantgarde und der politischen Entscheidungsträger in den Blick zu nehmen. An ihre Seite müssten Alltagsphänomene treten, kleine Schlaglichter auf private Sorgen, Herausforderungen und individuelle Glücksmomente ebenso geworfen werden, wie Glanzpunkte gezeigt, die zwar in keinem Jahresrückblick fehlen, die Weltgeschichte indes kaum merklich veränderten. Das Jahr 1988 müsste, wie es der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht nach dem prognostizierten Verblassen der "großen Erzählungen" für das Jahr 1926 erarbeitet hat, aus sich selbst heraus gedacht werden, als "unmittelbare und sinnlich spürbare Illusion".
Gemeinsames und Trennendes
1988 legte der Bielefelder Zeitgeschichtsprofessor Christoph Kleßmann den zweiten Teil seiner deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte vor. Sechs Jahre nach seinem Werk zur "doppelten Staatsgründung",
Zementierung und Verstetigung der Trennung – so ließe sich der Eindruck zum deutsch-deutschen Verhältnis kurz vor der "Implosion" der DDR im Herbst 1989 wohl am ehesten zusammenfassen. Schon der Staatsbesuch Erich Honeckers 1987 in Bonn als symbolischer Höhepunkt der Zweistaatlichkeit,
Wie unter den größtenteils verblüfften Zeitgenossen stiftete das Eruptive von 1989 übrigens auch in der Geschichtswissenschaft allerhand Verwirrung, stellten die Ereignisse nicht nur unter den an langfristigen Prozessen interessierten Sozialhistorikerinnen und -historikern "etwas professionell Irritierendes" dar.
Eine produktive Erweiterung erfuhren Kleßmanns Ideen ein gutes Jahrzehnt später durch Konrad H. Jarausch. Eine "chronologisch sensible und inhaltlich plurale Sequenzperspektive" habe den Reiz, die ostdeutsche Teilgeschichte nicht a priori geringzuschätzen und gängige Großdeutungen zu reproduzieren, die der "Erfolgsgeschichte" Bundesrepublik vereinfachend eine gescheiterte Gegenerzählung gegenüberstellt. Gerade systematische, inhaltlich klar definierte Teilkapitel könnten dabei helfen, fuhr der Potsdamer Zeithistoriker fort, insbesondere die 1980er Jahre nicht teleologisch zu deuten, sondern zunächst als offene Konstellation "zwischen endgültiger Verfestigung und schleichender Überwindung der Zweistaatlichkeit".
Andere Historiker machten sozial-, kultur- und alltagsgeschichtliche Phänomene als potenziell ebenso fruchtbare Themen aus, wie die Wahrnehmungen des jeweiligen Gegenübers. Verzichte die Forschung dabei auf eine Überbetonung systemvergleichender politischer Faktoren, so Andreas Wirsching, ließe sich ein prinzipieller historiografischer Grundkonsens zusammenfassen. Dann gelänge es, "den gemeinsamen Erfahrungsraum (zu) vermessen"
Vor dem "annus mirabilis"
Gerade weil 1988 ein oft übersehenes Jahr ist, es weder wie 1964 als Ausgangsjahr der "68er-Revolution" charakterisiert werden kann,
Die Beschreibungen jenes annus mirabilis
Auf der anderen Seite befand sich die Bundesrepublik im Jahr vor dem Mauerfall in einem "fundamentalen gesellschaftlich-kulturellen Veränderungsprozess",
1988: Schlaglichter auf ein vergessenes Jahr
Im "Literarischen Quartett", das am 25. März 1988 im ZDF erstmals auf Sendung geht, wird im ganzen Jahr lediglich ein Titel aus der DDR besprochen – Werner Mittenzweis "Das Leben des Bertolt Brecht", das pünktlich zu Brechts 90. Geburtstag erscheint. Die Feier wird auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs begangen, ein Beleg mehr für die "ideelle Fortexistenz der Kulturnation".
Dies zeigt sich auch auf dem Feld der Musik: Wie schon im Jahr zuvor, als Westberlin anlässlich der 750-Jahrfeier der Stadt zu Pfingsten ein Festival unter anderem mit David Bowie veranstaltete, bei dem auf der anderen Seite der Mauer dank der Windrichtung eine große Anzahl Musikbegeisterter bis zum Einschreiten der Volkspolizei seine Freude hatte, kommt es auch 1988 zu spektakulären Großkonzerten in West und Ost. Da im Ostteil der Stadt jene intern als Krawallszenarien diskutierten Ereignisse aus dem Vorjahr noch in lebhafter Erinnerung sind, organisiert die FDJ gemeinsam mit dem westdeutschen Friedensbündnis "Künstler in Aktion" kurzerhand eine Konkurrenzveranstaltung. Während also vor dem Reichstag beim "Berlin Open Air" zunächst Pink Floyd (16. Juni) und drei Tage später Michael Jackson die Massen begeistern, rocken mit James Brown und Bryan Adams an den selben Tagen internationale Topstars auch im Osten Berlins. Katharina Witt, die im Februar 1988 bei den Olympischen Winterspielen in Calgary erneut Gold im Eiskunstlauf gewinnen konnte, wird als Moderatorin der Veranstaltung allerdings gnadenlos ausgepfiffen.
Im Rahmen des 5. Berliner Rocksommers, der unter dem Motto "Nikaragua im Herzen" veranstaltet wird, findet schließlich am 19. Juli das größte Open-Air-Konzert in der Geschichte der DDR statt: Der von den Ostmedien zum working class hero ernannte Bruce Springsteen zieht auf der Radrennbahn Berlin Weißensee mehr als 160.000 Zuschauerinnen und Zuschauer in seinen Bann – unzählige Musikfans verschaffen sich an den Ordnern vorbei Zugang zum Gelände. Dass es so weit kommen kann, liegt auch an einem Richtungswechsel der Veranstaltungspolitik der DDR, die aus den Ereignissen aus dem Vorjahr die richtigen Lehren gezogen hat und nun versucht, sich die Rockbegeisterung zu Nutze zu machen. Die Rock-Musik vereint das geteilte Deutschland? Nicht nur diese, denn auch Bobby McFerrins Song "Don’t Worry, Be Happy" steht wochenlang an der Spitze der bundesdeutschen Hitparade und begeistert die Hörerinnen und Hörer östlich der Mauer gleichermaßen.
Auch andere mediale Phänomene vermögen die Massen hüben wie drüben mitzureißen. Der Film "Dirty Dancing", der in beiden deutschen Staaten bereits im Oktober 1987 Premiere hatte, löst eine regelrechte Mambo-Epidemie aus und dominiert das Kinojahr 1988 hier wie dort. Überhaupt eröffnen gerade kulturelle Phänomene neue Gelegenheiten, sich einander anzunähern: Mit Loriots "Ödipussi" kommt es am 10. März zum ersten Mal in der deutsch-deutschen Kinogeschichte zu einer doppelten Uraufführung. Diese gerät zu einem medialen Spektakel, entfacht doch die slapstickartig vorgeführte Absurdität kleinbürgerlicher Borniertheit in Bundesrepublik wie DDR Heiterkeit: Fünfzehn Fernsehsender aus beiden Teilen Deutschlands berichten über den Film. Die west- wie ostdeutsche Presse feiert Vicco von Bülow – auch im Osten Deutschlands bereits eine Kultfigur – einen Tag später unisono als "Satire-Gentleman" ("Bild"), "Grandseigneur des deutschen Humors" ("Frankfurter Allgemeine Zeitung"), Mann "mit einer ganz besonderen Art von Witz" ("Neue Zeit") oder "Humor-Multitalent" ("Berliner Zeitung"), der, wie das "Neue Deutschland" festhält, auch den Bürgerinnen und Bürgern der DDR "seit Jahren nahesteht". Er selbst erzählt zwei Tage vor der Premiere in einem Interview mit dem "Spiegel", dass er eine gute Beziehung zu den Menschen in Ostdeutschland habe – es sei ja auch seine "Heimat, und die Menschen sind dieselben wie früher. Daß sie in einem anderen politischen System leben, das ist eine andere Frage."
Während der extraterrestrische Bruchpilot in den Wohnzimmern etwas für die deutsch-deutsche Verständigung tut, kommt auch die Politik in Bewegung: So legt die CDU im Februar 1988 jegliche Pläne zur Wiedervereinigung vorerst ad acta und beschließt stattdessen, die bestehenden Kontakte zur DDR zu vertiefen.
Unabhängig von diesen persönlichen Erfahrungen wird im Jahr 1988 aber auch die gemeinsame Vergangenheit als geteilte Herausforderung wieder akut. So stellt die Proklamation des Staates Palästina am 15. November beide Teile Deutschlands vor erinnerungspolitische wie tagesaktuelle Herausforderungen, die zudem noch in die ideologische Konfrontation des Kalten Krieges eingebettet werden müssen. Während die DDR am 13. Dezember bei der Sitzung der UN-Generalversammlung für die Anerkennung der Staatlichkeit Palästinas stimmt, enthält sich die Bundesrepublik. Einen derartigen Affront gegen Israel will sich die Bundesregierung nicht erlauben, erst recht nicht im 50. Jahr nach der "Reichspogromnacht", an die in Ost und West mit Gedenkveranstaltungen, Buchvorstellungen, Lesungen und Ausstellungen erinnert wird. Hier wie dort geht es darum, der Weltgemeinschaft und dem Gegenüber einen verantwortungsvollen Umgang mit dem dunklen Erbe des Nationalsozialismus zu demonstrieren. Während also Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher bereits Ende Januar eine Reise zur israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem unternimmt, erklärt der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker am 29. Mai die grundsätzliche Bereitschaft der DDR, Entschädigungen für die zwischen 1933 und 1945 an Juden begangenen Verbrechen zu leisten – und signalisiert damit der internationalen Staatengemeinschaft, man könne ebenso verantwortungsvoll mit der eigenen Vergangenheit umgehen.
Am 6. Juli kommentiert das "Neue Deutschland" auf der Titelseite zwar stolz eine Pressekonferenz vom Vortag, auf der unter anderem der geplante Wiederaufbau der Neuen Berliner Synagoge angekündigt wurde – dies zeige die Wahrung antifaschistischer Traditionen in humanistischer Weise –, doch wie fügt sich in dieses Bild die Meldung auf Seite vier derselben Ausgabe, welche die Strafen für fünf Jugendliche aufführt, die im März den jüdischen Friedhof in Berlin Prenzlauer Berg geschändet hatten?
Als am 8. November 1988 in Frankfurt am Main das Jüdische Museum im Rothschildpalast am Untermainkai eröffnet, tagt die DDR-Volkskammer in einer Sondersitzung. Geladen sind zahlreiche Gäste, darunter Repräsentantinnen und Repräsentanten jüdischer Organisationen aus dem In- und Ausland. Einen Tag darauf, als der Verband der Jüdischen Gemeinden in der DDR im Deutschen Theater an die Pogromnacht erinnert, hält Helmut Kohl – sein Auftritt ist aufgrund der Bitburg-Kontoverse von 1985 durchaus umstritten – bei einer Gedenkveranstaltung in der Frankfurter Westend-Synagoge eine Rede. Wiederum einen Tag später wird für die in der Pogromnacht geschändete und später zerstörte Neue Synagoge Berlin im Osten der Stadt der Grundstein für den Wiederaufbau gelegt; in der Bundesrepublik führt die rhetorisch verunglückte 45-Minuten-Ansprache des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger (CDU) im Rahmen einer Gedenkveranstaltung im Bundestag zum Eklat. Einen Tag später tritt er zurück.
Keine acht Wochen danach erheben die Menschen in West- und Ostdeutschland ihre Sektgläser zum Jahreswechsel 1988/1989 – Jenniger ist vermutlich kein Gesprächsthema mehr. Dass es nur geschlagene elf Monate später in West und Ost, vor allem aber auch gemeinsam wieder Grund zum Anstoßen geben wird, ahnen an jenem 1. Januar 1989 wohl die Wenigsten.
Gerade solch scheinbar belanglose Anekdoten sind es, die helfen können, deutsch-deutsche Verflechtungen und Kontraste zu konturieren, um "ein Maximum an Wechselbezügen in jeweils ganz unterschiedlichen thematischen Zusammenhängen"