Die beiden Jahre 1989/1990 markieren eine tief greifende Zäsur der deutschen, der europäischen und der Weltgeschichte. Das "kurze 20. Jahrhundert" (Eric Hobsbawm) nahm seinen Abschied, die Blockkonfrontation des Kalten Krieges lief aus. Aber ging damit ein von den westdeutschen Zeitgenossen empfundener politischer Aufbruch einher und – wenn ja – welche gesellschaftliche Eindringtiefe und Nachhaltigkeit wies er auf? Welche Faktoren standen ihm entgegen?
Nach einem Blick auf Stimmungen in der Bevölkerung und Konstellationen des politischen Streits um die deutsche Einheit in der Bundesrepublik nach Mauerfall und Ende der DDR soll eine Skizze der seit Mitte der 1990er Jahre öffentlich diskutierten Aufbruchsbegriffe "Berliner Republik", "Generation 89" und "Generation Berlin" erfolgen, bevor nach Gründen gefragt wird, die diese Elitendiskurse ihrer Durchschlagskraft beraubten.
Kurze Euphorie – rasche Ernüchterung
Einschneidende politische Ereignisse werden in ihrer ganzen Tragweite zwar erst aus zeitlicher Distanz als solche deutlich, gerade in der neueren deutschen Geschichte gibt es jedoch gewichtige Beispiele für die nachhaltige Prägung der politischen Kultur durch große Brüche, die schon während des Geschehens als Aufbruch in neue Zeiten wahrgenommen wurden. So war es bei der blutigen Reichseinigung "von oben", deren Erleben sich über Jahrzehnte in "sozialmilitaristischen" (Hans-Ulrich Wehler) Dispositionen tradierte. Der Ausgang des Zweiten Weltkrieges mit dem tief empfundenen Ende nationalistischer Hybris ist in etlichen Erzählungen, insbesondere der sogenannten 45er, als Aufbruch zu neuen Horizonten illustriert worden. In komplizierten Entwicklungen und über Jahrzehnte hinweg, so die Wahrnehmung einer ganzen Generation im Westen, mündete die Nachkriegszeit in eine postnationale und postheroische Zivilgesellschaft, die wegen ihrer ökonomischen Überlegenheit im Systemwettbewerb mit dem ostdeutschen Staat – nicht zuletzt durch Rundfunk und Fernsehen – auch auf die Bewohnerinnen und Bewohner der DDR werbend ausstrahlte.
Verglichen damit fällt es schwer, von einem Aufbruch 1989/1990 im westlichen Deutschland zu sprechen, und es verwundert nicht, dass schon der Begriff selbst als Chiffre für subjektive Phänomene, eine Stimmung der Begeisterung und Freude, bisher kein Thema der jüngsten, allerdings erst in Fragmenten und Skizzen vorliegenden Zeitgeschichtsschreibung darstellt. Wir kennen die anrührenden Fernsehbilder von der Maueröffnung in Berlin am 9. November 1989, die den Aufbruch von Bewohnern Ost-Berlins in den Westteil der Stadt in seiner Wortbedeutung zeigen. Freude und Aufregung herrschten angesichts des Zerfalls der SED-Diktatur auch im Westen. Die Begeisterung angesichts des Mauerfalls und die Empathie mit den Bürgerinnen und Bürgern der DDR waren an Ort und Stelle, in West-Berlin wie in den grenznahen Gebieten, nachzuempfinden, die Gefühle der Bundesbürger am Fernsehschirm werden ähnlich gewesen sein.
Aber handelte es sich nicht doch eher um eine situativ begrenzte Medialisierung eines Ereignisses, das eine kurze Euphorie der Einheit schuf, der aber keine nachhaltige Prägung der politischen Kultur folgte?
Noch rascher als im Osten mischten sich im Westen zunehmend bedenkliche Töne in die anfängliche Begeisterung. Nicht von "Aufbruch", sondern von "Wende" war meist sehr vage die Rede. Und je weiter westlich man wohnte, desto weniger nahm man sie wahr. Mit einer glatten Fehlanzeige ist die Frage nach dem Aufbruch im Westen gleichwohl nicht zu beantworten, weil damit die heftige politische Debatte um das Ende der Zweistaatlichkeit und die deutschen Zukunftsaufgaben ignoriert würde, die den Einheitsprozess begleitete.
Es gab viele Journalistinnen und Journalisten, die nicht nur ihrer Begeisterung über das Ende der SED-Diktatur Ausdruck gaben, sondern deren Siegesgefühl sich an der endgültigen Niederlage aller Linken und jeder Form des Sozialismus für alle Zukunft delektierte. Manche freuten sich besonders über die endgültige Abrechnung mit den verhassten 68ern. Zugleich fühlten sich viele Publizistinnen und Publizisten, die das "machtvergessene" Bonner Provisorium bereits in den 1980er Jahren kritisiert und eine der ökonomischen Stärke entsprechende selbstbewusste Außenpolitik angemahnt hatten, von der Geschichte bestätigt; für eine Bonn-Nostalgie hatten sie kein Verständnis. Auch wenn sich lange gepflegte Rechtsansprüche, die über die vereinigten Territorien von Bundesrepublik und DDR hinaus nach Osten griffen, durch den "Zwei plus Vier"-Vertrag schließlich als obsolet herausstellten, war doch das kleinere Provisorium durch einen größeren Staat ersetzt worden, der Reminiszenzen an preußische Kernlande und an die alte Reichshauptstadt evozierte. Kaum zu unterscheiden war im aufgeregten Ton der Publizistik, wer dabei "nur" an eine selbstbewusstere Rolle der erweiterten Bundesrepublik innerhalb der NATO und der Europäischen Gemeinschaft dachte und wer tatsächlich von neuer weltpolitischer Größe jenseits überkommener "Westbindung" träumte.
In der Spätzeit der Bonner Republik wurzelten auch die Positionen derjenigen, die keine nationalen Aufbruchsgefühle empfanden oder sich vor diesen sogar fürchteten. Von milder Melancholie angesichts des Ablebens der "alten" Bundesrepublik waren viele linke Intellektuelle erfüllt, die sich gerade erst – in den 1980er Jahren – mit dem einst abgelehnten Staat ausgesöhnt hatten. Verbreitet war die Befürchtung einer Entsorgung der NS-Verbrechen, die im "Diktaturvergleich" mit dem "Unrechtsstaat" DDR verschwinden würden. Moralische Begründungen einer Ablehnung der Einheit "wegen Auschwitz", prominent bei Günter Grass, oder die bizarre Bewegung der "Antideutschen", die mit Parolen wie "Deutschland, halt’s Maul" demonstrierten und vor einem nationalistischen "IV. Reich" warnten, blieben allerdings Randerscheinungen.
Dass sich hinsichtlich der Einheit weder die Hoffnungen auf der rechten noch die Ängste auf der linken Seite bewahrheiteten, ist hinlänglich bekannt. Die von Jürgen Habermas gefürchtete "Deutschtümelei der Liberalkonservativen" entfaltete keine größere Wirkung, eine Renaissance des Nationalismus gab es ebenso wenig wie eine Militarisierung der Gesellschaft. Die Erinnerung an die NS-Vergangenheit wurde in erhöhtem Maß zur deutschen Staatsraison und die Diskussion über die DDR versachlichte sich im Zuge empirischer Aufarbeitung, etwa im Rahmen zweier Enquête-Kommissionen des Bundestages, gerade weil kein restloser geschichtspolitischer Konsens entstand. Die im Zusammenhang mit der "Asyldebatte" Anfang der 1990er Jahre – im Wortsinn – aufflammende Ausländerfeindlichkeit betraf beide Teile des vereinten Deutschlands und war nicht ein erst durch die Einheit entstandenes Problem.
Inszenierungsversuche eines Aufbruchs
Unter Einbeziehung eines weiteren semantischen Feldes lassen sich einige Versuche dokumentieren, den Vereinigungsprozess mit publizistischen Vorstößen zu flankieren, die einen politischen Aufbruch postulierten. Die eigentliche Kernzeit der Kreation von Aufbruchsbegriffen waren nicht die Jahre 1989/1990, sondern die mittleren 1990er Jahre, als die "Berliner Republik" zum zentralen Streitpunkt wurde. Die Prominenz dieses Begriffs speiste sich aus den vielfältigen Möglichkeiten seiner Besetzung. Er stand zunächst für die Empfindung und den Wunsch nach der Betonung einer tiefen Zäsur 1990, ob als simple Möglichkeit der Unterscheidung von Epochen in der Trias der Weimarer, Bonner und Berliner Republik oder als Sehnsucht nach einer Metropole als Hauptstadt in Verbindung mit dem Narrativ von Deutschlands Mitte und dem Postulat einer auch Ostdeutschland integrierenden politischen Formel für die erweiterte Bundesrepublik. Rückblickend wird häufig der Publizist Johannes Gross, ein Bewunderer des Staats- und Völkerrechtlers Carl Schmitt, als Begriffsschöpfer genannt. 1995 legte er eine schmale Schrift zur "Begründung der Berliner Republik" vor, die von ihm als Ende der "Binnenisolation der deutschen Politik" begrüßt wurde. Die Bundesrepublik sei "durch die Wiedervereinigung nicht nur größer, sondern dank der sie begleitenden Veränderungen der internationalen Politik von Grund auf anders geworden." Deutschland solle wieder die Rolle einer "Führungsmacht mit gleichberechtigter Mitentscheidung in Weltfragen" beanspruchen.
Eingeführt wurde der Begriff "Berliner Republik" allerdings einige Jahre zuvor in pejorativem Sinne. Auf einer lokalen "Donnerstagsdemonstration" gegen die Verlegung des Regierungssitzes nach Berlin 1991 rief der CSU-Bundestagsabgeordnete Günther Müller auf dem Bonner Marktplatz unter dem Beifall der Menge: "Der Bürger soll wissen, was ihn dieses Vergnügen, aus der Bonner Republik eine Berliner Republik zu machen, kostet." Geradezu instinktiv wehrten sich an erster Stelle Regierungspolitikerinnen und -politiker gegen den Begriff der "Berliner Republik". Hier wirkte die Negativformel von der "anderen Republik" aus den 1980er Jahren nach, die es zu verhindern galt. Bundeskanzler Helmut Kohl bezeichnete den Begriff als "ausgemachten Unsinn". Die föderalistisch grundierte Kritik wurde von jenen linken Intellektuellen geteilt, die für die Verwestlichung der "alten" Bundesrepublik standen. Habermas erklärte, dass ihm der europäisch denkende "Kohl auch sympathisch geworden" sei, demonstriere er doch in seiner Zivilität das "beinahe schon körperliche Dementi jener Art von Staatsästhetik, die von unseren elitären Geistern, vor allem seit 1989, eingefordert wird".
Parallel zur "Berliner Republik" verbreitete sich der Begriff "Generation 89". Ursprünglich eine zugleich ironische und selbstbewusste Eigenbezeichnung von Akteuren der großen Streikbewegung an den Universitäten der "alten" Bundesrepublik 1988/1989, wurde er von dem Politikwissenschaftler Claus Leggewie als Label für den erhofften erneuten Aufbruch des akademischen Nachwuchses benutzt. Die dem Generationenkonzept inhärente Suggestion der Überwindung des Älteren durch das Jüngere verlockte allerdings auch junge Rechtsintellektuelle, diesen Begriff für sich zu reklamieren. Die Vorstellung der Überwindung der alten 68er, die sich mit der Zweistaatlichkeit abgefunden hätten und mit der nationalen Einheit nichts anzufangen wüssten, durch eine jüngere Generation, die genau hier ihren Ausgangspunkt nehmen würde, beherrschte die Pressespalten wohl deshalb nur kurzzeitig, weil sie mit der empirischen Realität wenig zu tun hatte. Anhaltende Begeisterung für die deutsche Einheit war im jüngeren Teil der westdeutschen Bevölkerung seltener als in anderen Alterssegmenten anzutreffen.
Zum Generationenprojekt wurde stattdessen bald der Regierungswechsel 1998 stilisiert, der ansonsten als Sieg einer "Linksunion" erschien. Die rot-grüne Aufbruchsrhetorik ließ eher den krönenden Abschluss des "Marsches durch die Institutionen" assoziieren, den Rudi Dutschke 1968 propagiert hatte, als einen Erfolg der "Mauerfallkinder". Für den dringend herbeigesehnten neuen "Stil" einer ernsthaften Politik jenseits der Bonner "ironischen Nation" wurde eine intellektuelle "Generation Berlin" präsentiert, die allerdings kaum auffindbar war und nur eine kurze Halbwertzeit hatte. Habermas kommentierte den Stilisierungsversuch sarkastisch: "Mein Freund Herbert Marcuse, der ja den Berliner Tonfall nicht einmal im Englischen verleugnete, hätte zu den kursierenden Schnittmustern für eine ‚Generation Berlin‘ nur ‚Kacke mit Lakritze‘ gesagt. Eine neue Generation oder eine neue Kultur, die der Hauptstadt ja zu wünschen wäre, kann man schlecht ankündigen. Man ist eine neue Generation, indem man etwas Neues hervorbringt – mit einem neuen Design ist es nicht getan."
Es ist nicht zu bestreiten, dass sich die Bundesrepublik ein Jahrzehnt nach der Herstellung der deutschen Einheit nicht nur innen- (Stichwort: Agenda 2010), sondern auch außenpolitisch stark verändert hatte. Die Gründung der "Berliner Republik" wird denn auch häufig erst in der Beteiligung an der NATO-Intervention gegen Serbien 1999 oder, als "der wahre Geburtsakt der Berliner Republik", in der deutschen Verweigerung einer Teilnahme am Irakkrieg drei Jahre später gesehen, also in einer selbstbewussteren deutschen Außenpolitik. Aber selbst wenn die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer die "Berliner Republik" realisiert haben sollte, so drückte sich dies nicht in einem "Aufbruch" aus. Die "Windmaschine" der Presse in der "Berliner Medienrepublik" bildet zwar einen deutlichen Kontrast zum "Bundesdorf" Bonn der 1980er Jahre, aber die eingetretene kommunikative Beschleunigung hatte wohl mehr mit revolutionären technischen Neuerungen und weniger mit der deutschen Einheit und dem Wechsel des Regierungssitzes zu tun.
Gründe für den ausgebliebenen Aufbruch
Zu resümieren ist, dass es einen politischen Aufbruch in Westdeutschland nur als Inszenierungsversuche im Kampf um publizistische Deutungshoheit gab. Die darum kreisenden elitären Diskurse entfalteten keine größere gesellschaftliche Mobilisierung. Die Gründe dafür sind politische, wirtschaftliche und ideologische.
An erster Stelle ist die Form der Vereinigung als Beitritt zu nennen, bei dem von der Fahne bis zur Hymne – abgesehen vom immer wieder zitierten "Ampelmännchen" – kaum etwas aus der DDR stammte oder gemeinsam neu geschaffen wurde. Der Historiker Andreas Rödder konstatierte zu Recht: "Die Bundesregierung gestaltete die Wiedervereinigung ganz aus den Denkmustern der ‚alten Bundesrepublik‘." Der Verzicht auf eine entsprechende Symbolik spiegelte den Wunsch nach Kontinuität wider. Warum sollte es im Westen Deutschlands einen Aufbruch geben, wenn man den Systemwettbewerb gewonnen hatte und alles so weiter gehen sollte wie gewohnt? Die beruhigende Nachricht, die Einheit könne aus der Portokasse bezahlt werden, bildete das Pendant zum Versprechen an die neuen Bundesbürger, man werde den erfolgreichen Wiederaufbau wiederholen und "blühende Landschaften" schaffen. Konterkariert wurde jeglicher Aufbruchswille zudem durch die Fortsetzung der Bonner Koalition, die nur durch den "Mauerfall für Kohl (als) ein Geschenk der Geschichte" überdauerte.
Hinzu kam, dass sich in der Öffentlichkeit bald herumsprach, dass die Kosten der Einheit weit höher lagen als zunächst dargestellt. Zwar konnte grassierenden Befürchtungen, ohne den Systemwettbewerb werde sich ein Kapitalismus sans phrase durchsetzen, mit der Formel vom "rheinischen Kapitalismus" (ein in den 1990er Jahren eingeführter Begriff) – also der "sozialen Marktwirtschaft" – glaubhaft entgegengetreten werden. Aber in den Medien wurde zugleich die Gefahr eines sich vergrößernden internationalen Rückstandes der Bundesrepublik ausgemalt.
Schließlich ist auf die international herrschende ideologische Grundstimmung eines selbstgewissen Quietismus der Siegerseite hinzuweisen, die sich im Titel des noch vor dem Mauerfall 1989 verfassten Textes des US-Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama "The End of History?" ausdrückte. Gemeint war damit der endgültige Sieg des Liberalismus, der sich unweigerlich vollziehen würde und keines kollektiven Aufbruchs, sondern individueller karrieristischer Aufbrüche bedurfte.
In diesem Sinne verschwand die – politisch gelöste – nationale Dimension der deutschen Einheit hinter der europäischen Integration und einem enormen Globalisierungsschub, der sich lebensweltlich vor allem in revolutionären kommunikativen und medialen Beschleunigungen ausdrückte. Der Journalist Frank Schirrmacher erklärte vor diesem Hintergrund die "deutsche Revolution, die ganz Osteuropa ergriff" zu "Deutschlands Beitrag zur Globalisierung".
So wurden die sozialpolitischen Einschnitte der 2000er Jahre nicht von nationalem Pathos begleitet, sondern nüchtern mit dem Argument des globalen ökonomischen Wettbewerbs durchgesetzt. Am Ende steht eine – angenehme – Enttäuschung. Die politische Aufbruchsrhetorik verpuffte in der Normalität einer Gesellschaft, die ihrer offenbar nicht bedurfte.