Ähnlich wie die Umbruchsjahre 1789 oder 1848 steht das als annus mirabilis in die Geschichte eingegangene Jahr 1989 für ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung. In dieser Zäsur verdichtet sich symbolisch das Ende sowohl des Kalten Krieges als auch der Systemkonkurrenz zwischen West und Ost, zwischen Demokratie und Autoritarismus, zwischen Kapitalismus und Kommunismus.
Gleichwohl handelte es sich bei den friedlichen Revolutionen in Osteuropa nicht um Revolutionen im herkömmlichen Sinne. Die Forderungen von Dissidenten wie Václav Havel in der Tschechoslowakei, Adam Michnik in Polen oder György Konrád in Ungarn waren im Grunde "anti-politisch" (Konrád) und nicht darauf gerichtet, die politische Macht zu erringen. Sie riefen vielmehr nach allgemeinen Menschenrechten, nach einem würdevollen "Leben in der Wahrheit" (Havel), nach einer "Rückkehr nach Europa", und hielten die Werte einer von staatlichen Eingriffen freien Zivilgesellschaft hoch.
Gleichzeitig wurden diese vor allem moralischen und philosophischen Forderungen der osteuropäischen Dissidentinnen und Dissidenten im Westen als Wiederentdeckung und Neubelebung des politischen und ökonomischen Liberalismus gefeiert. Bestärkt durch den westlichen Sieg über den implodierenden "real existierenden Sozialismus" schienen plötzlich die zahlreichen Agonien und Widersprüche der liberalen Demokratie und des Kapitalismus vergessen – der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama ging sogar so weit, das "Ende der Geschichte" auszurufen und proklamierte die unaufhaltsame globale Ausbreitung von Demokratie und marktwirtschaftlicher Ordnung.
In der Tat bedeutete das Weltereignis 1989 nicht nur das Ende einer Ära, sondern auch den Anfang eines grundlegenden Systemwandels. Die historisch einmalige Aufgabe in den osteuropäischen Staaten bestand darin, Demokratie und Kapitalismus gleichzeitig aufzubauen. In den Nachfolgestaaten der Tschechoslowakei, der Sowjetunion und Jugoslawiens kam erschwerend auch noch die Etablierung funktionierender (National-)Staaten hinzu. Im Gegensatz zu Fukuyama wies der deutsche Soziologe Claus Offe bereits früh auf die ob der ihr immanenten Widersprüche kaum zu meisternde Aufgabe hin und sprach von einem "Dilemma der Gleichzeitigkeit"
Demokratie
Folgt man den in der Demokratieforschung etablierten Indikatoren wie dem Freedom House Index oder dem Bertelsmann Transformation Index, so zeigt sich, dass weder Fukuyamas optimistischer noch Offes pessimistischer Vorhersage uneingeschränkt zugestimmt werden kann. Die nach 1989 einsetzende globale Diffusion liberaler Demokratie und marktwirtschaftlicher Ordnung büßte innerhalb eines Jahrzehnts ihre Kraft ein, in vielen Fällen kam es sogar zu einer "Gegenwelle" der Stabilisierung autoritärer Herrschaft. Dies trifft auch für Teile der osteuropäischen Region zu. Vor allem in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion haben sich "defekte Demokratien" und "kompetitive Autoritarismen"
In den Staaten Ostmitteleuropas dagegen, in denen sich in den 1980er Jahren vielfach Proteste gegen die kommunistischen Machthaber formierten, zeigen dieselben Indikatoren – im Großen und Ganzen – eine erstaunlich schnelle und erfolgreiche demokratische Konsolidierung, deren Qualität und Stabilität sich durchaus an westeuropäischen Demokratien messen lassen.
Trotz der bleibenden Probleme der demokratischen Konsolidierung, auf die noch eingegangen werden soll, können zumindest für die ostmitteleuropäische Region deutliche Erfolge verbucht werden. Besonders sichtbar werden diese Errungenschaften im intratemporalen und intraregionalen Vergleich. Gemessen an historischen Maßstäben drängt sich dabei der Eindruck auf, dass die Ausweitung der Demokratie in diesem Teil Europas als großer Erfolg gewertet werden muss: Bessere Jahre als die zurückliegenden zwei Dekaden hat es in der Region kaum gegeben.
Selbstverständlich verliefen diese Entwicklungen nicht einheitlich. Bereits Mitte der 1990er Jahre kristallisierte sich eine Vorreitergruppe aus Polen, der Tschechischen Republik, Ungarn und Slowenien heraus. Mit Ausnahme Polens etablierten sich hier bald konsolidierte Parteiensysteme, die für relativ stabile Regierungen sorgten und wichtige Reformen durchsetzen konnten. In den baltischen Staaten, der Slowakei, aber auch in Rumänien und Bulgarien verlief die demokratische Konsolidierung aufgrund ungelöster Minderheitenfragen oder der anhaltenden Vormachtstellung reformunwilliger Eliten mit einiger Verzögerung. Allerdings gab es bis zum Ende des Jahrzehnts auch hier klare Fortschritte, die zumindest teilweise auf den reformeinhegenden Einfluss der Europäischen Union (EU) zurückgeführt werden können.
Während der institutionelle Rahmen der demokratischen Rechtsordnung erfolgreich eingeführt werden konnte und mehreren Transformationskrisen standhielt, war ein weiteres Versprechen der Dissidenten – die Etablierung einer aktiven Zivilgesellschaft – von weniger Erfolg begleitet. Nach den ersten Jahren hoher politischer Partizipation während der demokratischen Euphorie der frühen 1990er Jahre folgten zwei Jahrzehnte sinkender Teilhabe und auf niedrigem Niveau verbleibender zivilgesellschaftlicher Aktivitäten. Sicherlich stecken hinter diesen Entwicklungen zumindest teilweise die Erbschaften des Staatssozialismus: Nach der faktischen Zwangsmitgliedschaft in der Partei oder der Einheitsgewerkschaft war es mehr als verständlich, dass Parteimitgliedschaften oder das Engagement in Vereinen weit unter dem westeuropäischen Durchschnitt blieben. Zusammen mit der fehlenden gesellschaftlichen Einbindung der politischen Parteien und der kontinuierlich sinkenden Wahlbeteiligung weist diese Entwicklung in Richtung einer stark elitär geprägten Parteiendemokratie, die sich immer mehr von ihren eigentlichen Wurzeln entfernt.
Marktwirtschaft
Anders als erwartet schien im ersten Jahrzehnt nach dem Systemwechsel die Etablierung der Marktwirtschaft in Osteuropa keineswegs im Widerspruch zur demokratischen Entwicklung zu stehen – vielmehr bestärkten sich beide Prozesse. Wie schon bei der Konsolidierung des demokratischen Institutionenrahmens wiesen insbesondere die ostmitteleuropäischen Länder schnelle Fortschritte bei der Etablierung marktwirtschaftlicher Reformen auf. Vieles basierte dabei auf Imitation: Es wurden keine Experimente des "Dritten Weges" gewagt, sondern die neoliberalen Reformen des Washington Consensus bereitwillig aufgenommen, dessen Zielsetzungen – weniger Staat, mehr Markt – sich als passende Lösung für den Umgang mit den staatssozialistischen Erblasten anbot. Trotz ähnlicher Ausgangsbedingungen waren die oft ressourcenreicheren Nachfolgestaaten der Sowjetunion bei der Umsetzung solcher Reformen weit weniger erfolgreich. Nicht nur die Etablierung demokratischer Spielregeln, auch die wirtschaftliche Transformation verlief hier ungleich konfliktreicher und führte oft erst zur Stabilisierung, nachdem der Staat oder ihm nahestehende Oligarchengruppen ihre Macht ausbauen konnten.
Aber auch in den Staaten Ostmitteleuropas kann man trotz der vielfach bestehenden strukturellen Analogien kaum von einer Homogenisierung der sich herausbildenden Institutionen sprechen. Vielmehr haben sich verschiedene regionale "Spielarten des Kapitalismus"
Nach dem dramatischen Einbruch der Wirtschaftsproduktion Anfang der 1990er Jahre sind die gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtseffekte der wirtschaftlichen Entwicklung in den zurückliegenden 25 Jahren in Ostmitteleuropa kaum zu übersehen. Die früher üblichen Pferdekarren sind von den Straßen verschwunden, die Innenstädte wirken herausgeputzt. Betrachtet man nur die acht Länder aus der ersten EU-Beitrittswelle 2004, haben diese zwischen 1993 und 2012 ihre Wirtschaftsleistung durchschnittlich von 41 Prozent des EU-Durchschnitts auf 61 Prozent gesteigert.
Allerdings sagen diese Zahlen nichts über die sozialen Kosten der ökonomischen Transformation aus. Zum einen führte der Wandel für Teile der strukturell benachteiligten Bevölkerung in die Armut. Zu den Transformationsverlierern gehören oft Menschen mit niedrigem Ausbildungsniveau, die sich nicht mehr an die Herausforderungen anpassen konnten, ältere Menschen oder Gruppen wie die Roma, die nach der Auflösung der Staatsbetriebe in die Arbeitslosigkeit entlassen wurden und wegen starker Diskriminierung nur schlecht Fuß fassen konnten. Zum anderen ist die Ungleichheit in den früher stark egalitären Gesellschaften überall deutlich angestiegen. Auch trotz absoluter Wohlstandsgewinne führt das relative Empfinden einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage zu Frustration.
Reformanker EU
Ein zentraler Grund für die erfolgreiche doppelte Konsolidierung von Demokratie und Kapitalismus in den Ländern Ostmitteleuropas liegt in einem Faktor, der in Offes These vom "Dilemma der Gleichzeitigkeit" noch außen vor blieb: die Rolle externer Akteure, insbesondere der EU.
Anders als bei der Aufnahme der südeuropäischen Staaten Spanien, Portugal und Griechenland bestand die EU diesmal auf harte Kriterien, bevor sie den elf osteuropäischen Staaten sowie Malta und Zypern ein Beitrittsversprechen machte. Die Kopenhagener Beitrittskriterien der EU umfassten – mehr oder weniger – konkrete Vorstellungen über das Vorhandensein von Demokratie und einer funktionierenden Marktwirtschaft in den Beitrittsstaaten. Hinzu kam das Acquis-Kriterium, also die Verpflichtung, europäische Gesetzesmaterien bereits vor dem Beitritt in die nationale Legislation zu überführen. Anders als in den postsowjetischen und postjugoslawischen Staaten, wo dieser Faktor fehlte, hat die Beitrittskonditionalität der "transformativen Macht" EU dafür gesorgt, dass auch in sensiblen Bereichen, wie etwa bei der Frage von Minderheitenrechten, Erfolge erzielt werden konnten und Reformhindernisse mit dem Verweis auf das übergeordnete Ziel des Beitritts ausgeräumt werden konnten.
In vielen Mitgliedsstaaten wurde die "Big-Bang"-Erweiterung der EU kritisch beäugt. Zehn Jahre nach dem Beitritt der ersten Gruppe osteuropäischer Staaten zur EU im Mai 2004 muss jedoch festgestellt werden, dass die meisten Befürchtungen nicht eingetreten sind. Weder ist die Entscheidungsfindung in den europäischen Gremien durch größere Abstimmungszwänge blockiert, noch gibt es allzu auffällige Probleme bei der Einhaltung europäischer Gesetzgebung. Fünf der elf Beitrittsstaaten haben schon eine EU-Ratspräsidentschaft absolviert (Slowenien, Ungarn, Tschechien, Polen, Litauen), vier haben den Euro eingeführt (Slowenien, Slowakei, Estland, Lettland). Auch die vielfach befürchtete große Migrationswelle aus dem Osten blieb aus, gleichzeitig konnten Firmen aus den alten Mitgliedsstaaten von den zunehmenden Ausfuhren und den günstigeren Produktionsbedingungen in Osteuropa profitieren.
Gleichwohl gibt es eine Reihe von Ermüdungserscheinungen, die darauf hindeuten, dass die transformative Macht der EU im Reformprozess vor allem auf die Vorbeitrittsphase beschränkt blieb. Die europäische Währungs- und Finanzkrise verdeutlichte, welche Gefahren eng miteinander verschränkte Märkte mit sich bringen können: Die baltischen Staaten gingen durch eine tiefe Rezession, Slowenien befand sich am Rand des Bankrotts. Und sowohl in Ungarn als auch in Rumänien kam es zu institutionellen Veränderungen, durch welche das etablierte Gleichgewicht der Gewaltenteilung gehörig ins Wanken geriet. Zwar kritisierten das Europäische Parlament, die Kommission und die meisten Mitgliedsländer diese Änderungen als undemokratisch, dennoch waren die betroffenen Staaten nur teilweise zur Aufgabe ihrer Positionen bereit.
Nach der Euphorie die Ernüchterung?
Das zehnjährige Jubiläum der EU-Osterweiterung wurde von keiner großen Jubiläumsfeier begleitet. Obwohl das eine Reihe von Maßzahlen nahelegen würde, werden in den meisten Staaten Ostmitteleuropas weder die EU-Mitgliedschaft noch die eigenen Errungenschaften in den Bereichen Demokratie und Marktwirtschaft als besonders positiv gewertet. Umfassende Umfragedaten aus der Life in Transition Survey (LiTS) der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung aus dem Jahr 2010 zeigen, dass in der gesamten postsowjetischen Region die Demokratie als erwünschte Herrschaftsform nur noch etwa von knapp über der Hälfte der Bevölkerung genannt wird.
Welche Gründe könnte es für diese Unzufriedenheit mit dem seit 1989 Erreichten in Osteuropa geben? Mikrodaten aus der LiTS machen deutlich, dass nicht nur die absolute Armut, sondern auch das relative Armutsempfinden von großen Teilen der Bevölkerung zur Enttäuschung über den "real existierenden Kapitalismus" beitragen.
Die auf den Systemwechsel folgenden anderthalb Jahrzehnte der Anpassung an die detaillierten Anforderungen der EU vermittelten den Eindruck von Demokratie als "Politik ohne Alternativen" und zeigten diese dabei nicht von ihrer besten Seite. Während des langen Beitrittsprozesses hatten Parlamente und Parteien weder Kapazitäten noch Zeit, um jenseits der zu implementierenden EU-Blaupausen über eigene Lösungsvorschläge zu debattieren. Es ist daher wenig verwunderlich, dass der parlamentarische Raum in den meisten Staaten Osteuropas mittlerweile als entleert gilt und dies weiter zur Erosion der repräsentativen Demokratie beiträgt: Die Postdemokratie
Ende der Meistererzählung
Lange Zeit galt die Erinnerung an die – mehr oder weniger
Die etablierte triumphalistische Lesart sah in 1989 das Gründungsmoment liberaler Demokratie. Demnach gelang es damals Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft und reformorientierten Mitgliedern der alten Elite Vereinbarungen zu treffen, welche den friedlichen Machtwechsel ermöglichten. Diese Lesart wurde von weiten Teilen der neuen politischen Elite unterstützt, darunter die mittlerweile meist sozialdemokratisch orientierten Nachfolgeparteien der kommunistischen Parteien und die wichtigsten Gruppen der demokratischen Opposition, die 1989 an die Macht kamen. Gegenüber dieser Lesart hat sich im zurückliegenden Jahrzehnt sowohl wissenschaftliche als auch politisch instrumentalisierte Kritik angesammelt. So argumentierte der Historiker Stephen Kotkin, dass hinter den politischen Umwälzungen des Jahres 1989 eher die Implosion des sowjetischen Herrschaftssystems und seiner "unzivilen" Gesellschaft (die Nomenklatur des Parteienstaates) stehe, als die heroischen Taten der systemkritischen Opposition.
Solche dissonanten Töne verdeutlichen, dass es 25 Jahre nach 1989 keine einheitliche Meistererzählung über den Systemwechsel mehr gibt, die in der Lage wäre ein gemeinsames Narrativ für die polarisierten politischen Eliten Ostmitteleuropas zu bieten. Während das Erbe der Dissidenten bereits lange ins realpolitische Abseits geraten ist und die unerwünschten Nebenfolgen der entstandenen demokratischen und marktwirtschaftlichen Ordnung sich zu einer veritablen moralischen Krise der Politik verdichten, bietet die Imitation westlicher Modelle aufgrund der dort herrschenden Krise auch keine Orientierung mehr. Gleichzeitig scheint sich mit den in den vergangenen Jahren in der Region immer wieder aufflammenden Massenprotesten ein historischer Kreis zu schließen.