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Aus Politik und Zeitgeschichte

Fragen an 1848/49 Ein Forschungsüberblick

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Die historische Forschung hat die Revolutionen von 1848/49 aus sich wandelnden Perspektiven betrachtet. Ein Überblick über die Entwicklungen der vergangenen 175 Jahre eröffnet eine neue Sicht auf die aktuellen Debatten – oder auch: auf deren Verstummen.

Um die Revolutionen von 1848/49 ist es ruhig geworden. Eine französische Überblicksdarstellung sprach 2009 von einer "vergessenen Revolution". Zur Auflösung der Fußnote[1] Im deutschsprachigen Raum lässt sich Ähnliches feststellen: Nach einem enormen Boom des öffentlichen Gedenkens und der historischen Forschung rund um das 150-jährige Jubiläum 1998/99 ist das Thema vom Radar der Öffentlichkeit weitgehend verschwunden. Auch das bevorstehende 175-jährige Jubiläum hat bisher keine großen Begeisterungswellen hervorgerufen. Das "Jubiläumsnetzwerk 175 Jahre Revolution 1848/49" bündelt die üblichen Verdächtigen der Gedächtnispolitik zum Thema. Deren Neuvernetzung hat einmal mehr die Vielfalt an Perspektiven des Revolutionsgedenkens im deutschen Raum unter Beweis gestellt und vor allem auch die digitale Präsenz des Themas gestärkt. Zur Auflösung der Fußnote[2] Von großen neuen Deutungsentwürfen oder Kontroversen fehlt bisher jedoch jede Spur.

Auf dem historischen Buchmarkt zeigt sich ein ähnliches "Weiter so". Von einigen einschlägigen Forschungsmonografien und -handbüchern erscheinen überarbeitete Neuausgaben, Zur Auflösung der Fußnote[3] für die breitere Öffentlichkeit liegen neue Überblicksdarstellungen vor. Zur Auflösung der Fußnote[4] Doch aus historischen Fachkreisen ist bislang eher wenig Neues zu verzeichnen. Von den angekündigten Monografien werden nur wenige mit Spannung erwartet, wie etwa Frank Engehausens Buch über die Frankfurter Nationalversammlung oder die von Christopher Clark angekündigte europäische Gesamtdarstellung. Zur Auflösung der Fußnote[5] Ob diese oder andere Beiträge die Revolutionsforschung in den kommenden Jahren tatsächlich aus ihrem Halbschlummer aufrütteln werden, wird sich zeigen.

Im Folgenden soll der aktuelle Stand der deutschsprachigen Forschung vor dem Hintergrund ihrer langfristigen Entwicklung erörtert werden. Weniger als um bibliografische Vollständigkeit geht es darum, die sich wandelnden Fragen hervorzuheben, die in den vergangenen 175 Jahren an die Revolutionen von 1848/49 gestellt wurden. Zur Auflösung der Fußnote[6] Daraus ergibt sich auch eine neue Sicht auf die aktuellen Forschungsdebatten – oder auch: auf deren Verstummen.

Postrevolutionäre Deutungskämpfe

Die publizistischen Auseinandersetzungen, die das Revolutionsgeschehen 1848/49 begleitet hatten, gingen unmittelbar in die geschichtspolitischen Debatten der postrevolutionären Ära über. Den deutschen Obrigkeiten galt 1848/49 als "tolles Jahr", dessen Entgleisungen schnellstmöglich rückgängig gemacht werden mussten. Ihnen standen allerdings die Achtundvierziger selbst gegenüber, die durch die Publikation von Memoiren oder historischen Retrospektiven um ihren Ruf kämpften. Zur Auflösung der Fußnote[7]

Neben der Legitimität der revolutionären Ziele und Taten stand in diesen Debatten die Frage nach den Ursachen des Scheiterns im Vordergrund. Auf linker Seite des politischen Spektrums orientierte man sich langfristig an der von Karl Marx und Friedrich Engels vertretenen Sicht, dass die revolutionäre Energie der Massen in der Zaghaftigkeit des Bürgertums versandet sei. Vor allem die Frankfurter Nationalversammlung erschien ihnen als "bloßer Debattierklub (…) bestehend aus einer Ansammlung leichtgläubiger Tröpfe, die sich von den Regierungen als parlamentarische Marionetten mißbrauchen ließen". Zur Auflösung der Fußnote[8] Weiter rechts wurde das Scheitern vor allem mit dem unpraktischen Idealismus der Revolutionäre erklärt. Viele schlossen sich August Ludwig von Rochau an, der aus seinen Erfahrungen im Frankfurter Vorparlament den Schluss zog, dass Reformen nur auf der Basis einer konsequenten "Realpolitik" erfolgreich umgesetzt werden konnten. Zur Auflösung der Fußnote[9]

Links wie rechts ging man also gleichermaßen davon aus, dass die Revolution in einer Politik der bloßen Worte erstickt sei, der nun endlich eine Politik der Taten folgen müsse. Als Johannes Scherr, der 1848 selbst als Abgeordneter im Württembergischen Landtag aktiv gewesen war und es inzwischen zum Geschichtsprofessor in Zürich gebracht hatte, 1868 seine Revolutionsdarstellung im Untertitel als "Komödie der Weltgeschichte" bezeichnete, traf er den Ton vieler Zeitgenossen. Zur Auflösung der Fußnote[10]

Abgesehen von den unterschiedlichen politischen Perspektiven wurden die frühen Debatten um die Bedeutung von 1848 maßgeblich vom repressiven Klima in den postrevolutionären Staaten bedingt, deren Zensur die Verbreitung von vielfach im Exil verfassten revolutionsfreundlichen Deutungen zwar nicht grundsätzlich verhindern, aber doch erheblich erschweren konnte. Das galt zumal für die akademische Geschichtswissenschaft. Die ehemaligen Paulskirchenabgeordneten Wilhelm Zimmermann und Karl Hagen wurden wegen ihrer allzu "differenzierten" Revolutionsgeschichten aus dem Dienst der Universitäten Stuttgart respektive Heidelberg entlassen. Zur Auflösung der Fußnote[11] Spätestens nachdem ein weiterer ehemaliger Kollege, Georg Gottfried Gervinus, 1853 für seine liberalen Äußerungen vom Mannheimer Hofgericht wegen Hochverrats verurteilt worden war, ließen prominente Fachkollegen mit einem ähnlichen Hintergrund wie Friedrich Christoph Dahlmann und Johann Gustav Droysen das Thema lieber auf sich beruhen. Zur Auflösung der Fußnote[12]

Das Kaiserreich als Gegenmodell

Nach der Reichsgründung wirkten diese Tendenzen weiter. Vereinzelte Alt-Achtundvierziger, wie der ehemalige Präsident der Frankfurter Nationalversammlung Eduard von Simson, sahen ihre früheren Ziele im Bismarck'schen Reich verwirklicht. Mehrheitlich wurde das Kaiserreich jedoch als endgültige Beseitigung der revolutionären Verirrungen und Illusionen betrachtet. Nach den erfolgreichen Einigungskriegen und der Reichsgründung von oben erschien Bismarcks zynischer Kommentar zum "Fehler von 1848 und 1849", dass die großen Fragen der Zeit nun einmal "nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse", sondern durch "Eisen und Blut" entschieden würden, plausibel. Zur Auflösung der Fußnote[13]

Die Folge war, wenn nicht gar eine Verdrängung, so doch ein eher herablassender Umgang mit der revolutionären Vergangenheit. Als der Leiter der Preußischen Staatsarchive, Heinrich von Sybel, der Revolution einen etwa 200-seitigen Abschnitt seiner siebenbändigen Geschichte der Reichsgründung widmete, betonte er ihre Irrtümer und Widersprüche, die in ihrem "jämmerlichen" Scheitern gegipfelt seien. Allerdings gestand er der Frankfurter Nationalversammlung zu, den ersten "Samen einer großen Zukunft" ausgeworfen zu haben, der im Nationalstaat seine Erfüllung gefunden habe. Zur Auflösung der Fußnote[14] So wurde 1848 in das borussisch-nationale Narrativ integriert, das die Historiografie dieser Jahre dominierte. Als eigenständiges Thema fand die Revolution nur in sozialdemokratischen Kreisen, als Vorgeschichte der Arbeiterbewegung, eine gewisse Anerkennung. Zur Auflösung der Fußnote[15]

"Die deutsche Revolution hat ihren Historiker noch nicht gefunden", stellte der Leipziger Ordinarius Erich Marcks im Jubiläumsjahr 1898 fest. Er beobachtete, dass die Revolutionsjahre auf jüngere Zeitgenossen inzwischen den "Eindruck von etwas entschieden Fremdem" machten. Allerdings begrüßte der Neo-Rankeaner diese Distanz als Chance. Er forderte, die Revolution endlich "nicht mehr als einen Teil der Gegenwart zu behandeln, dessen Tugenden oder Fehler wir eben heraussuchen um sie für uns selber noch nutzbar oder um sie unschädlich zu machen; sondern als Vergangenheit". Zur Auflösung der Fußnote[16] Doch blieb Marcks Aufforderung ohne nennenswerten Widerhall. Die Revolutionszeit erschien vielen Zeitgenossen als eine blasse Vorvergangenheit, die von der Gegenwart überholt worden war. In Heinrich Manns "Der Untertan" aus dem Jahr 1918 wird die zeittypische Verkörperung des Wilhelminismus, Diederich Heßling, im Kontrast zum "alten Buck" skizziert, der als Achtundvierziger als Überrest einer vergangenen Epoche dargestellt wird. Folgerichtig schließt das Buch mit dem Tod des alten Liberalen, der so endgültig dem Typus der neuen Zeit Platz macht.

Historiografische Kontroversen seit der Weimarer Republik

Eine genuin historische Auseinandersetzung mit den Revolutionen, die über die unmittelbaren zeitgenössischen Deutungskämpfe hinausging, setzte erst in der Weimarer Republik ein. Auch hier blieb die aktuelle politische Konstellation entscheidend für die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Revolution. Im Kontext von 1918/19 waren Rückbezüge auf die Ereignisse von 1848/49 kurzfristig wieder brisant geworden. Während sich daraus für Teile der Weimarer Linken ein durchaus positives Revolutionsgedächtnis ergab, bildete die Verkopplung von 1918/19 und 1848/49 auf rechter Seite eher einen weiteren Anlass, die beiden Revolutionen gleichermaßen abzulehnen. Nicht zuletzt auch in der konservativ geprägten Geschichtswissenschaft blieb eine klassische Sicht dominant, die auf nationalstaatliche und außenpolitische Themen fokussiert war und der idealistischen Professorenpolitik der Paulskirche die machtstaatliche Realpolitik der Fürsten gegenüberstellte.

Neue Impulse kamen von Außenseitern wie dem Frankfurter Archivar Ludwig Bergsträsser und dem Marcks-Schüler Veit Valentin, dessen Lehrbefugnis an der Universität Freiburg wegen eines Konflikts mit dem Alldeutschen Verband aberkannt worden war. Besonders Valentins "Geschichte der Deutschen Revolution von 1848–49" gilt bis heute als entscheidendes Grundlagenwerk. Zur Auflösung der Fußnote[17] Neben der stark erweiterten Quellenbasis zeichnet sich die Arbeit durch die Synthese von ereignisgeschichtlicher Erzählung und sozialhistorischer Strukturanalyse aus, sodass erstmals alle beteiligten Akteursgruppen, inklusive der bäuerlichen und unterbürgerlichen Schichten, berücksichtigt wurden. Über die empirische Grundlagenforschung hinaus stand der neue Blick auf die Revolution für Bergsträsser wie Valentin auch im Zeichen eines politischen Projekts. Als engagierte Demokraten betrachteten sie 1848/49 als Zwischenstation einer freiheitlichen Tradition auf deutschem Boden, an die die Weimarer Republik anknüpfen konnte. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden Bergsträsser und Valentin entlassen. Letzterer ging ins Exil.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ordnete sich die Forschung im Rahmen des Jubiläumsjahres 1948 zunächst wieder in altbekannte Bahnen ein. Namhafte Historiker wie Friedrich Meinecke legten den Akzent auf den Kampf um die liberalen Grundrechte, die sie in der Nachkriegsordnung endlich verwirklicht sahen. Zur Auflösung der Fußnote[18] Dem stand die skeptische Perspektive eines Rudolf Stadelmann gegenüber, der die Frage aufwarf, ob die Ereignisse von 1848/49, die "aus den Bahnen der Loyalität nie herausgefunden, den Weg der Gewalt weder äußerlich noch innerlich gewagt" hatten, Zur Auflösung der Fußnote[19] überhaupt verdienten, eine Revolution genannt zu werden.

Schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit zeichneten sich damit zwei Debatten ab, die in der Folge verstärkt in den Fokus rücken würden. Einerseits erschien vor dem Hintergrund der jüngeren Vergangenheit die schon von Heinrich Mann popularisierte Vorstellung, dass die gescheiterte Revolution dem liberalen Bürgertum im deutschen Raum das Genick gebrochen und einem servilen Untertanengeist den Weg freigeräumt habe, als entscheidender Moment in der Vorgeschichte des deutschen Untergangs. Britische Historiker wie Lewis Namier und A.J.P. Taylor betrachteten 1848 als Moment, in dem die deutsche Geschichte "reached its turning-point and failed to turn": "it recapitulated Germany's past and anticipated Germany's future. Echoes of the Holy Roman Empire merged into a prelude of the Nazi 'New Order'." Zur Auflösung der Fußnote[20] Für die deutsche Geschichtswissenschaft bedeuteten solche Thesen eine Herausforderung, die langfristig Sprengstoff für Kontroversen bereitstellte.

Andererseits lag ein neuer Schwerpunkt auf den inneren Widersprüchen der Revolution. Schon zuvor waren die Gegensätze zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft sowie zwischen Barrikadenkampf und Parlamentarismus als zentral für die Revolutionsdynamik betrachtet worden. Im beginnenden Kalten Krieg erhielten solche Gegensätze aber eine neue, geopolitische Dimension. Wie es Hans Rothfels ausdrückte: "the antithesis of Frankfort-Berlin has (…) taken on a world-wide meaning". Zur Auflösung der Fußnote[21]

Als die Geschichtswissenschaften in DDR und Bundesrepublik weitgehend eigene Wege gingen, schlug sich die Systemkonkurrenz zeitweilig in einer Art historiografischer Arbeitsteilung nieder. Während in der DDR das Herz der Revolution auf der Straße, in den Barrikadenkämpfen in Berlin im März 1848, im Heckerzug in Baden und in den gewaltsamen Auseinandersetzungen in Leipzig und Dresden im Jahr 1849 verortet wurde, lag der Fokus der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft auf der Frankfurter Nationalversammlung und den verfassungsrechtlichen Traditionslinien, die von der Reichsverfassung vom 28. März 1849 zum Grundgesetz der Bundesrepublik von 1949 führten.

Diese Situation wandelte sich jedoch mit dem Aufstieg der Historischen Sozialwissenschaft ab den 1970er Jahren. Unter dem Schlagwort der "Gesellschaftsgeschichte" wurden die strukturgeschichtlichen Impulse der Weimarer Zeit wieder aufgegriffen. Daraus ergab sich eine verstärkte Berücksichtigung der sozialen und wirtschaftlichen Hintergründe der Revolution, während statistische Untersuchungen eine präzisere Sicht auf das Spektrum revolutionärer Akteure ermöglichten. Organisations- und mediengeschichtliche Ansätze nahmen die Eigendynamik von Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft in den Blick. Zur Auflösung der Fußnote[22] Schließlich erlaubte es die Einbettung der Revolution von 1848/49 in die längere Geschichte von Protest und Revolution, teilweise auch wieder Brücken zur zeitgenössischen DDR-Forschung zu schlagen. Zur Auflösung der Fußnote[23] Gewissermaßen als Kulmination dieser Forschung behandelte Hans-Ulrich Wehler die Revolution in seiner "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" auf der Basis des Kontrasts zwischen der erfolgreichen industriellen und der gescheiterten politischen Revolution. Zur Auflösung der Fußnote[24]

Über die theoretischen und methodischen Innovationen hinaus hatte die Revolution von 1848/49 für die Historische Sozialwissenschaft auch thematisch eine Schlüsselstellung, insofern sie es sich zur Aufgabe ihrer "kritischen" Geschichtsschreibung machte, die strukturellen Ursachen der deutschen Katastrophe ausfindig zu machen. Die Frage nach dem deutschen "Sonderweg" griff dabei auf ältere Deutungen zurück, stand als neues Schlagwort in den 1980er und 1990er Jahren aber an der Basis einer intensivierten Auseinandersetzung mit den langfristigen Kontinuitäten der deutschen Geschichte. Zur Auflösung der Fußnote[25]

Die Impulse der sozialhistorischen Revolutionsgeschichte wurden in den folgenden Jahrzehnten weiter vertieft, aber auch kritisch erweitert. Im Rahmen der kulturgeschichtlichen Wende wurde eine stärkere Berücksichtigung des Sprachgebrauchs, der Ikonografie und der symbolischen Praktiken der Revolution eingefordert. Zur Auflösung der Fußnote[26] Obwohl die neuen Ansätze der politischen Kulturgeschichte meist zunächst auf die Französische Revolution von 1789 gemünzt wurden, profitierte auch die Forschung zu 1848/49 davon. Eine andere Erweiterung des Blickfeldes bestand darin, dass nun verstärkt auch "die andere Hälfte" der an der Revolution Beteiligten in den Blick geriet. Frauen- und geschlechtergeschichtliche Fragestellungen erwiesen sich nicht nur als Ergänzung zur bisherigen Forschung als ertragreich, sondern bildeten mittelfristig auch ein Sprungbrett für weitere Neuperspektivierungen, die die Revolutionsgeschichte etwa mit Blick auf Subjektivierungsformen oder um performanz-, körper- oder emotionsgeschichtliche Dimensionen bereicherten. Zur Auflösung der Fußnote[27]

1998/99 und danach

Zumindest quantitativ erreichte die Aufmerksamkeit für 1848 in den Jahren 1998/99 einen Höhepunkt. Die Revolutionsforschung wurde zum Schlachtfeld, auf dem die Grabenkämpfe zwischen der klassischen Verfassungsgeschichte, der Historischen Sozialwissenschaft und der neueren Kulturgeschichte ausgefochten wurden. Neben dem runden Jubiläum trug zur öffentlichen Aufmerksamkeit für das Thema auch die geschichtspolitische Lage Deutschlands nach der Wiedervereinigung bei, in der eine Rückbesinnung auf die langfristige Demokratiegeschichte im deutschen Raum mit der Suche nach gemeinsamen, in Ost wie West gleichermaßen anknüpfungsfähigen Gedächtnisorten verbunden wurde. Zur Auflösung der Fußnote[28]

Die Masse an neuen Publikationen stellte die Vielfalt unterschiedlicher Ansätze unter Beweis. Ein besonderer Schwerpunkt lag auf den Räumen der Revolution und ihren Verbindungen untereinander. Einerseits wurden die Eigenlogiken unterschiedlicher revolutionärer Arenen – vom Wahllokal zur Barrikade und vom Plenarsaal zum Wirtshaus – vertiefend berücksichtigt. Andererseits wurde nach Verbindungen zwischen den lokalen, regionalen, nationalen und übernationalen Perspektiven gesucht. Erstmals gelang es, lokalhistorische Initiativen stärker mit der eher national orientierten Perspektive der akademischen Geschichtswissenschaft zu verknüpfen. Gleichzeitig wurde die nationalgeschichtliche Engführung der Revolutionsgeschichte problematisiert und die Frage aufgeworfen, ob von einer Vielzahl von Revolutionen im europäischen Raum oder vielmehr von einer übergreifenden europäischen Revolutionsdynamik gesprochen werden müsse. In Ermangelung genauerer Erkenntnisse über die Verflechtungen zwischen den verschiedenen europäischen Revolutionsschauplätzen blieb diese Debatte zu diesem Zeitpunkt jedoch relativ abstrakt. Zur Auflösung der Fußnote[29]

Wie die Hochkonjunktur der Jahre 1998/99 hatte auch das nachlassende Interesse an den Revolutionen von 1848/49 danach teilweise innerwissenschaftliche Gründe. Der gigantische Forschungsboom der Jahrtausendwende erwies sich jetzt in mancher Hinsicht als Hürde. Viele Themen galten als "ausgeforscht", die Ergebnisse in monumentalen Werken "kanonisiert" Zur Auflösung der Fußnote[30] und die maßgeblichen Positionen als von prominenten HistorikerInnen "besetzt", sodass es für jüngere ForscherInnen karrieretechnisch eher wenig vielversprechend erschien, sich in dieses Feld hineinzuwagen.

Natürlich kam die Forschung nicht vollends zum Erliegen. Auch in den vergangenen Jahrzehnten erschien eine Vielzahl neuer Publikationen, die die Forschung punktuell weiterentwickelten, auch wenn ihnen nicht immer die gebührende Aufmerksamkeit zuteilwurde. Besonders in Dissertationen wurden dabei durchaus eklatante Forschungslücken beseitigt. Zur Auflösung der Fußnote[31] Viel häufiger aber setzten neuere Arbeiten weniger eigene Themen, als dass sie Forderungen, die um die Jahrtausendwende programmatisch formuliert worden waren, erstmals empirisch einlösten.

Dies galt etwa für die biografischen Arbeiten, die über die bekannten Schlüsselfiguren hinaus inzwischen auch Persönlichkeiten der zweiten und dritten Reihe in den Blick nehmen und so zu einem differenzierteren Verständnis revolutionärer Erfahrungs- und Handlungsräume
beitragen. Zur Auflösung der Fußnote[32] Auch die Zahl regionalgeschichtlicher Studien zu städtischen und ländlichen Räumen wächst beständig an. Zur Auflösung der Fußnote[33] Die politische Kultur der Revolution erfreut sich großer Aufmerksamkeit, wobei neuere Arbeiten etwa das Liedgut, die Bildsprache und das literarische Umfeld der Revolution hervorheben. Zur Auflösung der Fußnote[34] Schließlich ist an dieser Stelle auch die intensive Auseinandersetzung mit der postrevolutionären Gedächtniskultur zu nennen. Zur Auflösung der Fußnote[35]

Und heute?

Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen, vor Anfang des Jubiläums, lassen sich die von ihm ausgehenden Impulse schwer vorhersagen. Doch zeichnen sich aktuell zumindest zwei Tendenzen ab, die mit ziemlicher Sicherheit größere Aufmerksamkeit generieren werden. Zur Auflösung der Fußnote[36] Die Schwerpunktverschiebung von der nationalgeschichtlichen zur transnationalen Revolutionsgeschichte wurde schon um 1998/99 vielfach eingefordert, schlug sich aber erst in den vergangenen Jahren vermehrt in empirischen Arbeiten nieder. Dabei werden unterschiedliche Verflechtungen hervorgehoben – von infrastrukturellen Verbindungen über die grenzüberschreitende Nachrichtenzirkulation bis hin zu Migration, Exil und der Bildung transnationaler Netzwerke. Zuweilen geht der Blick sogar über Europa hinaus, sodass die Wahrnehmungen und Adaptationen der europäischen Revolutionen in den USA, Lateinamerika, Australien, Guadeloupe oder Martinique hervortreten. Zur Auflösung der Fußnote[37]

Die räumliche Blickerweiterung geht dabei auch mit neuen Periodisierungen einher. Neuere Arbeiten verorten die Revolutionen von 1848/49 stärker als zuvor im Revolutionszeitalter ab 1789 oder sogar 1776 – wodurch Verbindungen zu einem international hochdynamischen Forschungsfeld entstehen. Zur Auflösung der Fußnote[38] Gleichzeitig erscheint die postrevolutionäre Phase nicht länger als bloße Restauration. Vielmehr werden die vielseitigen Nachwirkungen hervorgehoben, die von der Revolution von 1848 trotz ihres "Scheiterns" ausgingen. Die ins Exil getriebenen Revolutionäre erwiesen sich als Motor transnationaler Vernetzungen sowie als eigenständige politische Kraft in ihren Zielgesellschaften. Zur Auflösung der Fußnote[39] Auch die Weiterentwicklungen der postrevolutionären Staaten sind mit dem Schlagwort der "Restauration" nur unzureichend charakterisiert. In vielen Fällen entfaltete sich hier durchaus eine "revolutionäre" Dynamik, indem Obrigkeiten und Eliten Elemente der Revolution für ihre eigenen, antirevolutionären Ziele adaptierten. Die von Christopher Clark festgestellte "Regierungsrevolution" der europäischen Staaten in den 1850er Jahren, als Obrigkeiten auf der Basis von neuen Koalitionen zwischen konservativen und moderat-liberalen Kräften eine auf Infrastruktur- und Wirtschaftsentwicklung fokussierte technokratische Fortschrittspolitik verfolgten, wurde von Zeitgenossen als unpolitische Alternative zu den Revolutionswirren dargestellt. De facto griffen sie von den Organisations-, Kommunikations- und Aktionsformen der Revolution und sogar von ihren Zielen weit mehr auf, als sie selbst wahrhaben wollten. Zur Auflösung der Fußnote[40]

Der zweite erwartbare Schwerpunkt ist nicht eigentlich neu, sondern bildet eine Weiterführung der Debatten, die in der Bundesrepublik spätestens in den 1970er Jahren einsetzten, als Bundespräsident Gustav Heinemann mit der Einrichtung einer Gedenkstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte in Rastatt deutlich machen wollte, "daß unsere heutige Verfassung durchaus eigenständige Wurzeln hat und nicht nur eine Auflage der Sieger von 1945 ist". Zur Auflösung der Fußnote[41] Die Einbettung von 1848/49 in die langfristige Geschichte der Demokratie auf deutschem Boden, die nach der Wiedervereinigung einmal mehr Fahrt aufnahm, hat als Narrativ jüngst wieder für Schlagzeilen gesorgt, als es von Hedwig Richter provokant als "deutsche Affäre" erzählt wurde. Zur Auflösung der Fußnote[42] Dass diese Perspektive auch heute staatstragende Qualität haben kann, zeigt der 2021 von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier höchstpersönlich herausgegebene Sammelband zu den "Wegbereitern der deutschen Demokratie 1789–1918", in dem nicht weniger als acht von insgesamt dreißig "mutigen Frauen und Männer[n]" aus dem Kontext der Revolution von 1848/49 vertreten sind.

Auch wenn solche Erzählungen keineswegs unkritisch oder gar naiv daherkommen, liegt ihr Schwerpunkt doch in der Würdigung der Errungenschaften, die von der Revolution trotz ihres Scheiterns geblieben sind. Dieselbe Qualität, die sie für ein breites Publikum leicht verdaulich und für eine staatliche Gedächtnispolitik anschlussfähig macht, fordert aber auch immer wieder skeptische Gegenstimmen heraus. So hat etwa Manfred Hettling nach dem großen Jubiläumsjahr 1998/99 darauf hingewiesen, dass die Suche nach demokratischen Traditionen nicht ohne thematische Engführungen auskommt. Nicht nur, weil dabei aus dem komplexen Zusammenhang der Revolution nur ausgewählte, aktuell schmackhafte Elemente hervorgehoben werden, sondern auch, weil so die Zeit zwischen Vorgeschichte und Gegenwart auf bloße Zwischenstationen reduziert wird. Zur Auflösung der Fußnote[43] Hinzuzufügen wäre noch, dass die Rede von den Errungenschaften zuweilen eine Selbstzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Zustand impliziert, die für eine gesellschaftskritische Geschichtsschreibung nur schwer verdaulich ist. Dass die demokratischen Vorläufer der Revolution von 1848/49 im Jubiläumsjahr gebührende Würdigung erfahren werden und sollen, steht außer Zweifel. Inwiefern aus einer erneuten Auseinandersetzung mit der Revolution aber auch neue kritische Perspektiven erwachsen werden, werden wir sehen.

Fussnoten

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Theo Jung für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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