Die politischen Positionen von Parteien und Bürgern entwickeln sich in einer Wechselbeziehung. Auf Positionswechsel der einen Gruppe folgt oft eine vergleichbare Reaktion der anderen, zum Beispiel bei der Zustimmung zum Wohlfahrtsstaat oder den Einstellungen zur europäischen Integration. Warum entsteht dieser Zusammenhang, und wer folgt wem? Reagieren Parteien auf die Entwicklung der öffentlichen Meinung oder beeinflussen Parteien die politischen Vorlieben der Bürger? Welche Bedeutung hat die Richtung der Wechselbeziehung zwischen Parteien und Bürgern für die politische Repräsentation und die Qualität von Demokratie?
Zwei Sichtweisen
In der Politikwissenschaft werden zwei entgegengesetzte Ansichten über die Wechselbeziehung zwischen Parteien und Wählern gleichermaßen vertreten. Die erste Sichtweise betont, dass Parteien den thematischen Präferenzen der Wähler folgen. Die Begründung ist klar: Parteien haben ein ausgeprägtes Interesse daran, Wahlen zu gewinnen, und deswegen ist es nur rational, dass sie ihr politisches Angebot an der Bürgernachfrage ausrichten. Im Zeitverlauf entsteht die Wechselbeziehung zwischen politischen Parteien und Wählern somit aus der permanenten Reaktion von Parteien auf eine sich verändernde öffentliche Meinung.
Die zweite Sichtweise geht hingegen davon aus, dass die Wechselbeziehung zwischen Parteien und Bürgern entsteht, weil Parteien die Vorlieben der Bürger definieren, formen und verändern. Dies geschieht durch zwei verschiedene Mechanismen, die bewirken, dass Bürger den Positionen der Parteien folgen. Der erste Mechanismus unterstellt, dass der politische Diskurs von Eliten – Parteien, aber auch Massenmedien, Verbände und Experten – die notwendigen Bezugspunkte für die politischen Vorlieben der Bevölkerung etabliert: Politische Eliten schaffen das Koordinatensystem, in dem sich die politische Auseinandersetzung abspielt. Bürger können demzufolge nur solche Positionen vertreten, die auch von nennenswerten Teilen der politischen Elite angeboten werden.
Darüber hinaus gibt es einen zweiten Mechanismus, durch den die politische Angebotsseite die Nachfrage der Bürger beeinflusst. Parteien, andere Eliten und die Massenmedien verschieben die Positionen der Bürger innerhalb des bestehenden Koordinatensystems durch vielfältige Formen der Einflussnahme. Manchmal verrichten Parteien echte Überzeugungsarbeit und verwenden gezielt effektive rhetorische Strategien. Wenn Überzeugung gelingt, ist Eliteneinfluss besonders wirkungsvoll und führt zu einem tatsächlichen, möglicherweise langfristigen Meinungswandel, der nicht einfach umgekehrt werden kann.
In den meisten Fällen findet Einflussnahme unterschwelliger statt, dann allerdings auch mit weniger tief greifender Wirkung. Die relative Häufigkeit, mit der bestimmte Positionen im politischen Diskurs erwähnt werden, ist die am weitesten verbreitete Form der Beeinflussung. Wenn Bürger zum Beispiel in den Massenmedien öfter hören und lesen, dass die Einführung eines Mindestlohns abzulehnen ist, und seltener, dass er eingeführt werden soll, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich gegen die Einführung eines Mindestlohns aussprechen.
Politische Eliten können ein Thema auch in unterschiedliche Zusammenhänge einbetten und dadurch Einfluss auf die öffentliche Meinung ausüben, ohne ausdrücklich eine bestimmte Position zu vertreten. So muss ein Politiker sich nicht gegen die europäische Integration aussprechen, um zu veranlassen, dass jemand eine kritischere Haltung zu dem Thema einnimmt. Es reicht aus, auf die Risiken statt auf die Chancen der Integration hinzuweisen.
Zwei Beispiele
Für beide Sichtweisen über die Wechselbeziehung zwischen Bürgern und Parteien lassen sich Belege finden. Ich diskutiere nun anhand von zwei unterschiedlichen Themen, wann die politische Realität in Deutschland mit einer der beiden theoretischen Erwartungen – "Bürger folgen Parteien" oder "Parteien folgen Bürgern" – übereinstimmt. Abbildung 1 (siehe PDF-Version) zeigt die Positionen von Parteien und Bürgern zum Wohlfahrtsstaat. Hier geht es um den Konflikt zwischen Forderungen nach dem Erhalt oder Ausbau von Sozialleistungen und Gegenforderungen nach der Kürzung von Sozialleistungen. Die Grafik stellt dar, wie sich der Anteil der "pro Wohlfahrtstaat"-Position bei den Parteien und in der Bevölkerung zwischen 1984 und 2013 verändert hat. Abbildung 2 (siehe PDF-Version) zeigt die Entwicklung der Zustimmung von Parteien und Bürgern zur europäischen Integration zwischen 1972 und 2013.
Am deutlichsten sind die Zusammenhänge zwischen den Präferenzen von Parteien und Bürgern bei der Auseinandersetzung um den Wohlfahrtsstaat. Die in Abbildung 1 (siehe PDF-Version) dargestellte Entwicklung der öffentlichen Meinung und der Parteipositionen ist abhängig vom betrachteten Zeitraum mit beiden möglichen Erklärungen für die Wechselbeziehung zwischen Parteien und Wählern vereinbar. Zwischen 1987 und 2002 folgt die Entwicklung der Wähler den Parteien. Die durchschnittliche Zustimmung der Parteien zum Wohlfahrtsstaat geht zuerst deutlich zurück. Auf jedes Jahr, in dem die Parteipositionen sich nach unten bewegen, folgt im Anschluss jeweils die gleiche Entwicklung bei den Wählerpräferenzen. Nach 2002 gibt es wieder ein klares Muster einer Wechselbeziehung, aber jetzt scheinen die Parteien den Bürgern zu folgen. Die Zustimmung zum Wohlfahrtsstaat steigt in der Bevölkerung von 2004 bis 2010 deutlich an und erst danach bei den Parteien.
Bei den Präferenzen zur europäischen Integration (vgl. Abbildung 2 in der PDF-Version) gibt es Belege für Wechselbeziehungen, aber auch für das Auseinanderklaffen und die zeitgleiche Veränderung der Positionen von Parteien und Bürgern. Auf einen Anstieg und Abstieg in der Zustimmung der Parteien zur Europäischen Union zwischen 1972 und 1983 folgt zeitversetzt von 1977 bis 1984 eine entsprechende Entwicklung in der Wahlbevölkerung. Das gleiche Muster lässt sich einige Jahre später wieder beobachten: die Zustimmung der Parteien zur EU steigt und stabilisiert sich auf dem höheren Niveau zwischen 1994 und 2002, während eine deckungsgleiche Entwicklung bei den Bürgern im Anschluss daran von 1998 bis 2002 stattfindet. In beiden Fällen stimmen die Daten mit der Erwartung überein, dass die Bürger den Positionen der Parteien folgen.
Für den Zeitraum von 1987 bis 1997 ergibt sich hingegen eher eine Kluft zwischen Wählern und Parteien als eine Wechselbeziehung. Die deutliche Werbung der Parteien für pro-europäische Positionen 1987 und die anschließende Stabilisierung auf einem mittleren Niveau gehen nicht einher mit einer entsprechenden Anpassung der Wählerpräferenzen, die sich ab 1989 auf den niedrigsten Wert im Jahr 1997 hinbewegen. Der Zeitraum von 2002 bis 2013 illustriert ein Szenario, das es beim Konflikt um den Wohlfahrtsstaat nicht gibt: ein Zusammenhang zwischen öffentlicher Meinung und Parteienpositionen scheint zu existieren, aber nicht unbedingt in Form einer Wechselbeziehung, da sich die Präferenzen beider Gruppen gleichzeitig in Richtung geringere EU-Zustimmung entwickeln.
Wer hat recht?
Um eindeutig zu klären, ob Parteien den Bürgern folgen oder eher Bürger den Parteien, müsste es gelingen, weitgehend zweifelsfrei einen kausalen Zusammenhang, in die eine oder andere Richtung, zwischen der Entwicklung von Parteipositionen und Wählervorlieben zu etablieren. Das ist mit der Beschreibung von durchschnittlichen Präferenzen im Zeitverlauf, und auch mit anderen Methoden, immer nur annäherungsweise möglich. Bei der hier vorgenommenen Betrachtung von zeitversetzten Übereinstimmungen in der Entwicklung von Parteipositionen und Wählerpräferenzen ist besonders zu berücksichtigen, dass gerade der Einfluss von Bürgern auf die Parteien auch durch Antizipation stattfinden kann. Parteien erwarten möglicherweise bestimmte Reaktionen und passen ihre eigenen Positionen an, bevor sich die Präferenzen der Bürger verändert haben.
Trotz dieser Einschränkungen erlauben sowohl die thematischen Beispiele als auch die bestehende Forschung einige vorsichtige Schlussfolgerungen über die Richtung der Kausalität zwischen den Präferenzen von Bürgern und Parteien. Zunächst ganz grundsätzlich: keine der zwei Sichtweisen hat uneingeschränkt recht oder unrecht. Jede der beiden Theorien – "Parteien folgen Bürgern" und "Bürger folgen Parteien" – ermöglicht unter bestimmten Umständen eine plausiblere und zutreffendere Erklärung der beobachteten Entwicklungen. Die entscheidende Frage ist, was genau diese Umstände sind, unter denen entweder der Einfluss von Parteien auf Bürger oder die Repräsentation der Wählerpräferenzen durch die Parteien wahrscheinlicher wird.
Erstens kann eine direkte kausale Beziehung zwischen den Positionen von Parteien und Bürgern ganz grundsätzlich nur dann bestehen, wenn es keinen zusätzlichen dritten Faktor gibt, der die Einstellungen der beiden Gruppen verursacht. Dies ist insbesondere dann naheliegend, wenn sich die Präferenzen von Parteien und Bürgern im Gleichschritt ohne zeitliche Verzögerung verändern, wie etwa bei der Entwicklung der Einstellungen zur europäischen Integration zwischen 2002 und 2013. Hier wäre es zum Beispiel möglich, dass die Zustimmungswerte zur EU bei den Parteien und in der Bevölkerung unabhängig voneinander zurückgegangen sind, jeweils als eigenständige Reaktion auf die Verletzungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts, die globale Finanzkrise und schließlich die Eurokrise.
Zweitens hängt die Richtung des kausalen Zusammenhangs zwischen den Positionen von Bürgern und Parteien von den besonderen Eigenschaften eines Themas ab. Die Europapolitik gilt in der Politikwissenschaft bis zum Ende der 1980er Jahre als ein Thema, bei dem die Parteien eher weniger auf die Präferenzen der Bevölkerung reagieren, während auch die Bürger nur geringes Interesse daran haben, unterschiedliche Vorlieben zu politisieren. Die erfolgreiche Mobilisierung von Anti-EU-Stimmungen in mehreren Referenden, der politische Konflikt über die Eurokrise und die wachsende Unterstützung für eurokritische Parteien in den vergangenen Jahren zeigen allerdings deutlich, dass die Europapolitik spätestens seit Beginn der 1990er Jahre in der politischen Auseinandersetzung angekommen ist. Wenn wir die Entwicklung der EU-Unterstützung zwischen 2002 und 2013 nicht als eine gleichzeitige Reaktion von Parteien und Bürgern auf sich verändernde äußere Umstände deuten, dann könnte der Rückgang der Zustimmung zur EU auch als Reaktion der Parteien auf Wählerpräferenzen verstanden werden, möglicherweise in Antizipation prognostizierter Veränderungen.
Drittens sind grundsätzlich die Bedeutung eines Themas für die Wahlentscheidung, die Intensität des bestehenden Konflikts und die Nachvollziehbarkeit der unterschiedlichen Positionen entscheidend für die effektive Repräsentation der Bürgernachfrage durch die Parteien. Je mehr den Wählern ein bestimmtes Thema am Herzen liegt, je entgegengesetzter die Positionen sind, und je einfacher es ist, zu dem Thema eine Meinung zu entwickeln, umso wahrscheinlicher ist es, dass Wähler ausgeprägte Vorlieben entwickeln, auf die Parteien entsprechend reagieren.
Viertens schaffen verschiedene Kommunikationssituationen unterschiedlich geeignete Bedingungen für die effektive Einflussnahme von Parteien auf die Vorlieben der Wähler. Eine vielfältige Forschung in der politischen Psychologie, der Sozialpsychologie und der Kommunikationswissenschaft beschäftigt sich mit den Umständen, unter denen echter Meinungswandel oder zumindest die Veränderung von zum Ausdruck gebrachten Vorlieben wahrscheinlicher wird: zum Beispiel, wenn Kandidaten von Bürgern als glaubwürdig und fachkundig wahrgenommen werden, wenn eine positive emotionale Identifikation mit der betreffenden Partei besteht oder wenn Politiker plausible und glaubhafte Begründungen für ihre Positionen verwenden.
Fünftens hängt die Richtung der Kausalität in der Wechselbeziehung zwischen den Vorlieben von Wählern und Parteien besonders stark von den grundlegenden politisch-psychologischen Eigenschaften der Bürger ab. An erster Stelle steht dabei die politische Bildung. Grundsätzlich steigert größeres politisches Wissen die Wahrscheinlichkeit, dass Bürger ihre politischen Vorlieben zum Ausdruck bringen und dabei von Parteien gehört werden, während es gleichzeitig unwahrscheinlicher wird, dass sich politisch kenntnisreiche Bürger von Parteien einfach überzeugen lassen. Auf der Seite der Parteien hat zunehmendes Wissen über die Eigenschaften der Wähler interessanterweise die entgegengesetzte Wirkung. So führt mehr Wissen durch die Explosion der Verfügbarkeit von Daten über die Vorlieben und Verhaltensweisen von Wählern zumindest in einigen Ländern dazu, dass Parteien diese Informationen nutzen, um zielgerichteter auf die Vorlieben der Wähler zu reagieren oder zukünftige Entwicklungen der Wählerpräfenzen besser zu antizipieren.
Und die Demokratie?
Klar ist: Eine permanente Abbildung von sich verändernden Wählerpräfenzen durch die Parteien als idealtypische Variante repräsentativer Demokratie existiert in der politischen Realität nicht, trotz der Verfügbarkeit von immer mehr Informationen über die Vorlieben der Wähler. Dazu gibt es zu viele Belege für den Einfluss, den Parteien und andere politische Eliten auf die öffentliche Meinung ausüben. Permanente Repräsentation in Reinform sollte auch niemand erwarten, denn politische Eliten in modernen Demokratien übernehmen nicht nur die Pflicht, Wähler durch ihr Amt zu repräsentieren, sondern darüber hinaus auch die Verantwortung, den politischen Diskurs zu strukturieren und um möglichst qualitativ hochwertige Angebote zu bereichern.
Das Konzept der deliberativen Demokratie betont die Wichtigkeit von offener politischer Beratung und Auseinandersetzung im Vorfeld politischer Entscheidungen wie zum Beispiel dem Wahlakt.
Auf der Nachfrageseite sind das individuelle politische Wissen und die Fähigkeit, kritische Urteile über politische Sachverhalte zu fällen, die entscheidenden Voraussetzungen für bessere politische Deliberation. Dazu kann die politische Bildungsarbeit beitragen, aber auch die Schaffung von effektiveren Mitwirkungs- und Eingreifmöglichkeiten, unter anderem durch die Parteien. Um auf diese Weise eine nachhaltige Verbesserung der deliberativen Qualität von Demokratie zu erreichen, bedarf es einer tief greifenden Anpassung der Organisationskultur von Parteien, die über das vereinzelte Ausprobieren von neuen Veranstaltungsformen und die Nutzung von virtuellen sozialen Netzwerken hinausgeht.
Einem solchen Anpassungsprozess steht allerdings das gängige Organisationsprinzip von Parteien im Wege. Das Ziel eines barrierefreien demokratischen Diskurses ist nicht leicht zu vereinbaren mit einer Organisationsform, die auf hierarchische Strukturen und bürokratische Entscheidungsprozesse angelegt ist. Darüber hinaus weiß die Politikwissenschaft schon seit der Untersuchung der parteiinternen Demokratie durch Robert Michels 1911, dass die Oligarchisierung von Parteien zu einer Unterdrückung kontroverser und anspruchsvoller politischer Auseinandersetzung führen kann.