Steigende Mieten, Verdrängungsprozesse und Straßenproteste in vielen großen Städten haben die Wohnungsfrage zurück auf die Tagesordnung der politischen Debatten gebracht. Aber was ist eigentlich das Problem an steigenden Mieten? Wer ist davon betroffen? Und wie reagiert die Politik? Der folgende Beitrag nähert sich den aktuellen Entwicklungen und Herausforderungen der Wohnungspolitik aus soziologischer Perspektive.
Unruhe im Mieterland
Etwa die Hälfte der Haushalte in Deutschland wohnt zur Miete, und in den Großstädten sind es sogar über 70 Prozent. Mit den hohen Standards der Wohnungsausstattung, einem im internationalen Vergleich starken Mietrechtsschutz und auch dem breiten Sektor öffentlicher und geförderter Wohnungsbestände haben Mietwohnungen lange Zeit eine Versorgung von breiten Schichten der Bevölkerung sichergestellt. Zur Jahrtausendwende galten nach 50 Jahren wohlfahrtsstaatlicher Wohnungspolitik die wesentlichen Aspekte der Wohnungsfrage als gelöst. Doch ein Blick auf die aktuelle Situation in den Städten verrät schnell: Die längst überwunden geglaubten Themen wie Wohnungsnot, Überbelegung oder Wohnen in vernachlässigten Beständen stehen wieder auf der politischen Agenda.
In einer Reihe von Studien wird das Ausmaß der neuen Wohnungsnot in Deutschland dokumentiert. Das Pestel Institut errechnete auf der Basis von Einkommensdaten und sozialen Transferleistungen ein bundesweites Defizit von 4,2 Millionen Sozialwohnungen.
Doch nicht nur steigende Mieten und Verdrängungsdruck prägen die aktuelle Wohnungsfrage. Vor allem in Wohnungsbeständen, in denen es keine oder nur eingeschränkte Aufwertungspotenziale gibt, setzen Eigentümer(innen) immer häufiger auf Strategien der Desinvestition, bei der durch die Reduktion der Ausgaben auch geringe Mieteinnahmen einen Gewinn versprechen. In Nordrhein-Westfalen hatte der Landtag sogar eine Enquetekommission "Wohnungswirtschaftlicher Wandel und neue Finanzinvestoren in NRW" eingerichtet, um mögliche Lösungen für das Phänomen der vernachlässigten und verwahrlosten Immobilienbestände zu suchen.
Sichtbar werden die Wohnprobleme vor allem in den Großstädten. Hier gehören Proteste gegen Mietsteigerungen, Verdrängung und umstrittene Neubauprojekte wieder zum Alltag und konstituieren eine neue Generation städtischer sozialer Bewegungen. Denn oft sind es nicht die Interessenverbände und klassischen Protestmilieus, die zur Wohnungsfrage mobilisieren, sondern immer häufiger unmittelbar Betroffene, die als Hausgemeinschaften oder Nachbarschaftsinitiativen versuchen, städtische Mikrokonflikte zu politisieren.
Soziale und sozialräumliche Konsequenzen der Wohnungsfrage
Seit der Wohnungsreformbewegung im 19. Jahrhundert wurden vier Aspekte der Wohnungsfrage thematisiert,
Die
quantitative Wohnungsfrage
thematisiert die mengenmäßige Versorgungssituation mit Wohnungen auf der Ebene der Städte beziehungsweise Regionen (Gibt es überhaupt genügend Wohnungen für die jeweils lokale Nachfrage?), aber auch für bestimmte soziale Gruppen beziehungsweise Haushaltstypen (Gibt es genügend Wohnungen für Arme/Singles/Alte/Familien?). In den ökonomisch konsolidierten Städten und wirtschaftlich boomenden Regionen steigt durch Zuwanderungsgewinne und Zunahme von Einpersonenhaushalten die absolute Nachfrage nach Wohnungen. Wohnungspolitik muss sich hier letztendlich an der Sicherung einer möglichst hohen Wohnversorgungsquote (Verhältnis Wohnungen/Haushalte) messen lassen. Unabhängig vom Stand der absoluten Wohnungsversorgung stellt sich angesichts einer polarisierten Sozial- und Einkommensstruktur in den meisten Städten darüber hinaus die Frage, ob es genügend leistbare Wohnungen (Nettokaltmiete maximal 30 Prozent des verfügbaren Einkommens) für Haushalte mit unterdurchschnittlichen Einkommen gibt. Für Haushalte im Transferleistungsbezug, die sich den Regeln der Kosten der Unterkunft des Sozialgesetzbuchs unterwerfen müssen, wird der Zugang zu Wohnungen zusätzlich von den jeweils geltenden Bemessungsgrenzen der Angemessenheit bestimmt. Vor allem in den größeren Städten mit dynamischen Wohnungsmärkten bestehen in dieser Hinsicht massive Defizite. So weist etwa Berlin im Bestand ein Defizit von fast 120.000 leistbaren Wohnungen auf, und der Anteil der Wohnungsangebote unterhalb der Bemessungsgrenzen hat sich von 2007 bis 2013 von 39 auf sechs Prozent reduziert.
Als
qualitative Wohnungsfrage
werden alle Aspekte der Wohnungsversorgung zusammengefasst, die mit dem Ausstattungsstandard und dem Instandhaltungszustand der Häuser verbunden sind. Auch in diesem Bereich sind längst überwunden geglaubte Probleme wieder akut geworden: Arm wohnt schlecht. In vielen Städten stellen die Substandardbestände – in der Regel Altbauwohnungen mit Ausstattungsdefiziten und Siedlungsbauten der 1920er bis 1950er Jahre – die wenigen erschwinglichen Segmente des Wohnungsmarkts. Eine zweite Problemgruppe stellen die etwa eine Million Wohnungen dar, die im Zuge der massiven Privatisierungen der vergangenen Dekaden von institutionellen Anlegern erworben worden sind. In Beständen, die nicht gewinnbringend weiterverkauft werden konnten, sind die Finanzinvestoren zu Bestandshaltern wider Willen geworden und versuchen vielerorts, durch Desinvestitionsstrategien das Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben profitabel zu gestalten.
Die
rechtliche Wohnungsfrage
des Mieterschutzes ist auf die Stabilität und Vertragsverlässlichkeit des Mietverhältnisses gerichtet. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern gilt das Mietrecht in Deutschland als robuster Mieterschutz. Unbefristete Mietverträge, Kündigungsschutz, eingeschränkte Duldungspflichten und Härtefallregelungen bei Modernisierungsarbeiten sowie eine Begrenzung von Mieterhöhungen im Bestand stärken im Regelfall die Position der Mieter(innen).
Die
sozialräumliche Wohnungsfrage
schließlich betrachtet die Verteilungswirkungen und Ausgrenzungsprozesse der bestehenden Wohnungsversorgungssysteme. Insbesondere in angespannten Wohnungsmärkten verstärken sich dabei die sozialräumlichen Polarisierungstendenzen, weil sich preiswerte Bestände auf wenige Bestandsgruppen und (meist unattraktive) Stadtlagen konzentrieren. Sozialstudien zeigen, dass sich ärmere Haushalte in städtischen Ungunstlagen wie beispielsweise an Autobahnen konzentrieren.
Eine Mietpreisbremse ist nicht genug
Einer sich ausweitenden öffentlichen und fachlichen Diskussion der hier skizzierten Problemlagen und der neuen Sichtbarkeit des wohnungspolitischen Protestes ist es gelungen, die Wohnungsfrage nach vielen Jahren der Ignoranz wieder auf die politische Agenda zu setzen. Doch ein Blick auf die bisherigen Ergebnisse ist ernüchternd: Die Politik reagiert auf Bundesebene mit einem unzureichenden Programm aus Neubauförderung und Mietpreisbremse.
Neubauförderung:
Wie bereits einige Flächenländer (Nordrhein-Westfalen) und Städte (Berlin, Hamburg, Köln, München) setzt auch die große Koalition im Bund auf die Forcierung des Neubaus. Ausgehend von Analysen, die den Nachfrageüberhang in den prosperierenden Städten und Regionen als ursächlich für die steigenden Mieten ansehen,
Die Aktivität der Bundesregierung zur Neubauförderung beschränkt sich auch in der neuen Koalition vor allem auf das Instrument der Wohnraumförderung. Doch diese (seit der Föderalismusreform als sogenannte Kompensationszahlungen an die Länder) zugesagte Wohnungsbauförderung in Höhe von 518 Millionen Euro pro Jahr lässt nur begrenzte Mengeneffekte erwarten. Selbst bei einer Kofinanzierung in gleicher Höhe durch Städte und Gemeinden würde das Geld für gerade mal 20.000 Wohnungen im Jahr reichen. Bei der derzeitigen Ausstattung bräuchte es etwa 200 Jahre, um die 4,2 Millionen belegungsgebundenen Sozialwohnungen, die fehlen, zu bauen. In der Förderpraxis vieler Städte können die in den vergangenen Jahren beschlossenen Förderprogramme für einen neuen Sozialen Wohnungsbau nicht einmal die Abgänge von Sozialbindungen durch das Auslaufen früherer Förderverträge kompensieren. Zudem sind die meisten Wohnungsbauprogramme nicht für die Versorgung der Haushalte ausgelegt, die am dringendsten auf eine Unterstützung angewiesen sind. Mit Mietpreisen von 6,50 bis 8,50 Euro pro Quadratmeter liegen die Sozialmieten zwar deutlich unter den Preisen privat finanzierter Neubauten, sind aber für Geringverdiener immer noch zu teuer. Fazit: Weder der private noch der im Umfang begrenzte öffentliche Wohnungsbau werden die Defizite an leistbaren Wohnungen tatsächlich ausgleichen können.
Mietpreisbremse:
Die bereits im Wahlkampf parteiübergreifend angekündigte Mietpreisbremse erhält mittlerweile konkrete Konturen. Der Mitte März 2014 veröffentlichte Referentenentwurf des Justizministeriums benennt die Kappung von Wiedervermietungsmieten (bei zehn Prozent über den ortsüblichen Vergleichsmieten) als Herzstück des "Gesetzes zur Dämpfung des Mietanstiegs".
Doch auch die Mietpreisbremse wird die Wohnungsnot der Haushalte mit geringen Einkommen nicht mildern. Abgesehen von den noch nicht geklärten Kontroll- und Sanktionsinstrumenten zur Durchsetzung der Mietpreisbremse nützt die vorgesehene Deckelung der Wiedervermietungsmieten knapp über den ortsüblichen Vergleichsmieten vor allem den Mittelschichten. Geringverdiener(innen) brauchen Mieten unter dem Mietspiegel-Niveau. Das hat die Mietpreisbremse nicht zu bieten.
Die Versorgungssituation für Haushalte mit niedrigen Einkommen beziehungsweise im Sozialhilfebezug wird sich durch die bundespolitischen Initiativen nicht verbessern. Die angemessene Wohnungsversorgung der Armen bleibt also im Wesentlichen eine kommunalpolitische Aufgabe und Gegenstand von lokalpolitischen Auseinandersetzungen. Sowohl das Neubauprogramm als auch die Mietpreisbremse sind typische Instrumente der Wohnungspolitik, die versuchen, soziale Ziele durchzusetzen, ohne die Rentabilität des Wohnungsmarkts zu gefährden. Der Aufgabe, die rechtlichen und vor allem finanziellen Voraussetzungen für eine umfassende und nachhaltige soziale Wohnungspolitik der Kommunen zu entwickeln, werden die aktuellen Vorschläge nur unzureichend gerecht.
Wohnen als soziale Infrastruktur
In der Gesamtbetrachtung der aktuellen wohnungspolitischen Debatten zeigt sich ein grundsätzliches Problem der politischen Interventionen im Feld der Wohnungsversorgung: Der größte Anteil der Eingriffe setzt bei der Milderung und Moderation von Bewirtschaftungseffekten an, während nur wenige Steuerungsvorschläge darauf ausgerichtet sind, die Bewirtschaftungsstrategien selbst einzuhegen oder sogar die Investitionskalküle zu beschränken. Für eine soziale Wohnungsversorgung gibt es jedoch innerhalb der Marktlogik keinen Anreiz. Der Soziologe und Planer Willem van Vliet spricht treffend von einer "sozialen Blindheit des Wohnungsmarkts".
Die Konflikte rund um die Wohnungsversorgung wirken jedoch nicht einfach aus ihrer ökonomischen Logik heraus, sondern sind politisch-administrativ eingebettet. Jede wohnungspolitische Reform steht daher auch vor der Aufgabe, die bestehenden Rahmenbedingungen des politisch-administrativen Systems zu verändern und die Interessenblöcke des aktuellen Verwertungsregimes aufzubrechen.
Das Wohnungswesen ist ein hochkomplexes System, das nur im Zusammenspiel verschiedener Akteure funktioniert. So setzt ein städtischer Wohnungsmarkt die Kooperation von Grundeigentümer(inne)n, finanzierenden Banken, Architekt(inn)en und Stadtplaner(inne)n, der Bauwirtschaft und in der Regel der Stadtverwaltungen voraus. Politische und administrative Rahmenbedingungen, wie etwa die Steuergesetzgebung, das Bau- und Mietrecht, Denkmalschutzbestimmungen und Förderprogramme, haben einen wesentlichen Einfluss auf die Investitionsaktivitäten. All die benannten Akteursgruppen haben ein gemeinsames Interesse an der Bodenverwertung der Stadt und müssen sich auf ein gemeinsam geteiltes Programm für den Wohnungsbau einigen. Der Stadtplaner Harald Bodenschatz spricht in diesem Zusammenhang von der Konstitution wohnungspolitischer Interessenblöcke.
Eine Durchsetzung des Wohnens als soziale Infrastruktur steht daher nicht nur vor der Herausforderung einer Dekommodifizierung der Wohnungsversorgung, sondern wird in hohem Maß von einer Neukonstitution stadtpolitischer Interessenkoalitionen abhängen. Letztendlich wird eine andere Wohnungspolitik nur möglich, wenn es gelingt, bestehende Interessenblöcke aufzubrechen und neue stadtpolitische Koalitionen zu bilden.