Der Erste Weltkrieg gilt als Auftakt des "Zeitalters der Extreme", und George Kennans Verdikt von der "Urkatastrophe" gehört schon lange zum Kanon geschichtspolitischen Denkens. Der Historiker Bernd Wegner hat unlängst freilich angemahnt, die Jahre 1914–1918 nicht nur als Vorläufer von 1939–1945 zu sehen, ja er hat darauf hingewiesen, dass es sich um sehr verschiedene Konflikte handelte, anders als es die Benennung nach Erstem und Zweitem Weltkrieg eigentlich nahelegt. Der Zweite Weltkrieg, so Wegner, sei vielmehr der erste wirklich globale Konflikt der Menschheitsgeschichte gewesen, weil sich hier europäische und außereuropäische Konflikte miteinander verbanden, während der Erste Weltkrieg der letzte einer Reihe eher konventioneller Kriege europäischer Großmächte des 18. und 19. Jahrhunderts gewesen sei.
Ganz gleich, ob man diese Argumentation für schlüssig hält oder nicht – und es gibt gute Gründe, bei den konventionellen Bezeichnungen zu bleiben – ist sie ein bedenkenswertes Plädoyer, den Konflikt von 1914–1918 nicht nur als eine Art Probelauf für Völkermord und Radikalisierung militärischer Gewalt im 20. Jahrhundert zu verstehen. Mittlerweile ergibt sich durch die sehr umfangreiche Forschung zu den Weltkriegen, darunter etliche vergleichende Studien, ein weit differenzierteres Bild, das es uns erlaubt, neben den Parallelen und den Verbindungslinien auch die großen Unterschiede in den Blick zu nehmen. Die Bedeutung des Ersten Weltkrieges für die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts lässt sich damit tiefenschärfer denn je fassen.
Irreguläre Gewalt
Im 19. Jahrhundert hatte man erstmals versucht, dem Krieg Regeln zu geben. Die Genfer Konventionen von 1864 und 1906, die Haager Landkriegsordnung von 1907 und die Londoner Seerechtsdeklaration von 1909 waren sichtbare Zeichen jahrzehntelang international geführter völkerrechtlicher Debatten. Ob es wirklich gelang, den Krieg einzuhegen, kann man schon mit Blick auf den Amerikanischen Bürgerkrieg 1861–1865, den Taiping-Aufstand in China 1851–1864, die europäischen Kolonialkriege oder die beiden Balkankriege 1912/1913 in Zweifel ziehen. Es gab kaum keine Gräueltat, die hier nicht verübt wurde. Allerdings verliefen die Konflikte zwischen den Großmächten vom Krimkrieg von 1853–1856 bis zum russisch-japanischen Krieg 1904/1905 eher gemäßigt. Gewiss starben Hunderttausende Soldaten, Verbrechen blieben aber die Ausnahme. Dies lag vor allem wohl daran, dass die Kämpfe nur von kurzer Dauer und regional begrenzt waren. Das volle Gewaltpotenzial, welches auch diese Konflikte schon in sich trugen, kam deshalb nicht zur vollen Entfaltung.
Der Erste Weltkrieg begann als ein Krieg des 19. Jahrhunderts, und nach menschlichem Ermessen hätte er nach wenigen Monaten eigentlich vorbei sein müssen. Ende 1914 waren die Munitionsvorräte verschossen, die Soldaten desillusioniert und Politiker wie Militärs am Ende ihres Lateins. Niemand hatte ein Konzept, wie der Sieg errungen werden konnte. Hätten sich die Monarchen wie in früheren Jahrhunderten auf ein Unentschieden geeinigt und den Status quo ante bekräftigt, die Büchse der Pandora wäre nicht geöffnet worden. Erst der jahrelange Kampf der Groß- und Mittelmächte schuf die Rahmenbedingungen für den totalen Krieg, von dem die Zeitgenossen unter dem Eindruck der Ereignisse 1916 zum ersten Mal sprachen.
Für die Gewaltgeschichte der Moderne ist bedeutend, dass während des Ersten Weltkrieges die Unterscheidung zwischen Kombattant und Nichtkombattant merklich verwischte.
Jede Kriegslist und jede neue Waffe wurde bald vom Gegner kopiert, und so etablierte sich jenseits der öffentlichen Empörung bald ein von allen Kriegsparteien getragener neuer Kriegsbrauch. Die Gewalteskalation lässt sich etwa am Beispiel chemischer Waffen zeigen. Bereits im August 1914 verwendete die französische Armee versuchsweise Tränengas. Die Deutschen verschossen im Oktober 1914 an der West- und im Januar 1915 an der Ostfront in größerem Umfang Gasgranaten, die aber wirkungslos waren. Schließlich brachten sie am 22. April 1915 bei Ypern (Belgien) zum ersten Mal das tödliche Chlorgas zum Einsatz. Die Westmächte reagierten rasch, und fortan gab es einen Wettlauf um das giftigste Kampfgas. Allein an der Westfront forderte der Gaskrieg etwa 20.000 Tote und 500.000 Verwundete.
Auch in der Luft wurde der Krieg in eine neue Dimension getragen. Aus bescheidenen technischen Anfängen entwickelten sich bald mehrere Tausend Flugzeuge umfassende Streitkräfte, die vor allem über den Schlachtfeldern eingesetzt wurden. Schon im September 1914 griffen deutsche Zeppeline aber auch Paris und ab Januar 1915 englische Städte an. Die Schäden waren zwar überschaubar, dennoch trugen die Angriffe zur Totalisierung des Krieges bei. Die Absicht war nämlich meist, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren und so deren Durchhaltewillen zu schwächen. 1600 britische Zivilisten kamen im Ersten Weltkrieg durch deutsche Bomben ums Leben – alliierte Luftangriffe auf deutsche Städte forderten etwa 800 zivile Todesopfer.
Eines der aufsehenerregenden Kriegsverbrechen des Ersten Weltkrieges war die Ermordung von Zivilisten unmittelbar im Frontgebiet. Beim Einmarsch nach Belgien und Nordfrankreich im August und September 1914 töteten deutsche Soldaten rund 6.400 Belgier und Franzosen. Ausgelöst durch eine Spionage- und Partisanenpsychose der unerfahrenen Truppen, die überall Hinterhalte witterten, kam es stellenweise zu wahren Gewaltorgien. Zwar waren Zivilisten oder nicht als Soldaten erkennbare Angehörige der belgischen Garde Civique tatsächlich am Widerstand gegen die vorrückenden deutschen Truppen beteiligt und trugen so zur Gewalteskalation bei. Die Hauptschuld traf aber unzweifelhaft die hypernervösen und unter Zeit- und Erfolgsdruck stehenden deutschen Einheiten, die selbst die nichtigsten Vorfälle zum Anlass nahmen, die belgische Zivilbevölkerung zur Rechenschaft zu ziehen.
Offenbar war die Partisanenpsychose ein Phänomen des Bewegungskrieges, das verschwand, sobald die Fronten erstarrten.
Die zahlenmäßig größte Opfergruppe irregulärer Gewalt im Ersten Weltkrieg waren die Kriegsgefangenen. Laut Haager Landkriegsordnung von 1907 hatten die Kriegsparteien ihre Gefangenen "menschlich" zu behandeln. Zwischen 6,6 und 8 Millionen Soldaten gerieten zwischen 1914 und 1918 in Gefangenschaft. Niemand war auf ein solches Massenphänomen vorbereitet, und insbesondere die Mittelmächte und Russland hatten aufgrund der schwierigen Ernährungslage erhebliche Probleme, ihre riesigen Gefangenenheere zu versorgen. Knapp 136.000 Gefangene starben in deutschem Gewahrsam, 650.000 in russischen und 400.000 in österreichisch-ungarischen Lagern. Die Todesraten bei den anderen Gewahrsamsmächten lagen deutlich niedriger.
Unterschiedliche Kulturen der Gewalt?
In den Armeen des Ersten Weltkrieges gab es denkbar unterschiedliche Traditionen, Wertesysteme, Strukturen und Wahrnehmungsmuster. Doch erklären diese unterschiedlichen Kulturen auch die Gewaltentwicklung? Brachten die deutschen Soldaten belgische Zivilisten um, weil sie in der preußischen Armee zu besonderer Härte erzogen worden waren? Starben so viele Gefangene in Russland, weil es dort eine außergewöhnliche Gewaltkultur gab? Und töteten Briten und Franzosen deswegen weniger Gefangene, weil ihre Armeen zivilisierter oder zumindest weit mehr als anderswo der zivilen Kontrolle unterworfen waren? Kämpften also letztlich "die Guten" gegen "die Bösen"?
Der Vergleich der Mittelmächte mit den Westmächten wird freilich schon deshalb erschwert, weil sich deren Streitkräfte in sehr unterschiedlichen Situationen befanden: Frankreich und Großbritannien waren nie Besatzungsmächte und hatten auch keine Versorgungsengpässe zu überwinden. Dort, wo zumindest ansatzweise vergleichbare Rahmenbedingungen bestanden, erscheinen die Auslöser für die Gewaltausbrüche im Ersten Weltkrieg ähnlich. Guerillapsychosen gab es überall dort, wo ein schneller Bewegungskrieg geführt wurde; Massensterben von Kriegsgefangenen dort, wo die Verwaltung unterentwickelt oder die Versorgungslage schlecht war. Zivilisten wurden vor allem dort ermordet, wo es reale oder vermeintliche Aufstände gegen Besatzungsmächte gab und diese gar noch von ethnischen Konflikten angeheizt wurden. Der große Sonderfall ist der Genozid an den Armeniern, dessen Ausmaß im Ersten Weltkrieg singulär blieb.
Trotz aller Radikalität gab es 1914–1918 noch etwas, was später im Zweiten Weltkrieg gerade auf deutscher Seite vielfach fehlte: das Moment der Mäßigung. 1916 schickte die Reichsregierung die ersten polnischen Zwangsarbeiter nach Deutschland – beendete diese Praxis zumindest im Generalgouvernement Warschau aber sehr bald, als die Polen zu einem Verbündeten avancierten.
Die in der britischen und amerikanischen Forschung diskutierte These der besonders brutalen deutschen Gewaltkultur, die im deutsch-französischen Krieg 1870/1871 ihren Ausgang genommen und sich dann im Ersten Weltkrieg voll entfaltet habe,
Spürt man nationalen Signaturen der Gewalt nach, so lohnt sich auch ein Blick über den Ersten Weltkrieg hinaus. Der von den Briten überaus scharf geführte Burenkrieg (1899–1902) oder die wenig bekannte Aufstandsbekämpfung im Irak 1920
Für alle Großmächte gilt gleichermaßen, dass der nicht enden wollende Kampf die Vorstellungen davon veränderte, wie ein Krieg zu führen sei. Die Mobilisierung und Kontrolle der Bevölkerung nahm erheblich zu, die Kriegsziele, aber eben auch die Kriegsmethoden wurden immer radikaler. Das beste Beispiel ist der uneingeschränkte U-Boot-Krieg, der nach zwei Jahren heftiger innerdeutscher Debatten im Februar 1917 begonnen wurde – wissend, dass es sich dabei um einen eklatanten Völkerrechtsbruch handelte. Doch 1917 schienen alle Mittel Recht, um das Ringen doch noch siegreich zu beenden. Der Weltkrieg, der zum Überlebenskampf hochstilisiert wurde, führte mit zunehmender Dauer zur Verschiebung der Maßstäbe von Recht und Unrecht. Und dennoch: Gräueltaten waren nicht das primäre Merkmal des Ersten Weltkrieges. Es war vielmehr der industrialisierte Massenkrieg in den Schützengräben, der eine neue Qualität und eine neue Quantität des Kampfes etablierte: die tagelange Kanonade Tausender Geschütze, die jeden Flecken Erde in eine leblose Mondlandschaft verwandelte, die Sturmangriffe Zehntausender Soldaten, die von Maschinengewehren niedergemäht wurden. Es waren diese Szenarien, die das Schreckensbild des Ersten Weltkriegs prägten.
Nachwirkungen
Massentod, Verwundungen und Entbehrungen gruben tiefe Spuren in die Seelen deutscher Soldaten. Und dennoch zeigen neue Studien, dass im November 1918 keinesfalls ein Millionenheer verrohter und gewaltbereiter Kämpfer nach Hause zurückkehrte.
Wie wichtig die Deutung der Jahre 1914–1918 für den weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts war, zeigte sich auch in Japan. Das Land hatte kaum Kämpfe zu bestreiten gehabt, und doch entfaltete der Erste Weltkrieg hier eine enorme Wirkung. Japan schien als nur schwach industrialisiertes Land einem modernen Konflikt nicht mehr gewachsen zu sein, so glaubten gerade etliche junge Offiziere. Wenn man schon nicht mit der Produktionskraft westlicher Wirtschaftsnationen mithalten konnte, so schlussfolgerten sie, müsste fortan eine überlegene Moral in die Waagschale geworfen werden. Mit Härte, Opferbereitschaft und unbedingtem Gehorsam würde es in einem künftigen totalen Krieg gelingen, einen materiell überlegenen Gegner zu besiegen. Für Japan war es fatal, dass sich diese Deutung innerhalb des Militärs schließlich durchsetzte und es den Streitkräften dann auch noch gelang, die eher auf Ausgleich orientierte politische Führung beiseite zu drängen. Die Zeit, in der sich Japan dem Westen als Kulturnation präsentieren wollte – so wie im russisch-japanischen Krieg und im Ersten Weltkrieg – war bald vorbei. Die japanische Armee zog fortan mit einem viel radikaleren Referenzrahmen in den Kampf. Zuerst bekamen dies 1937 die Chinesen zu spüren. Das bedeutete nicht, dass immer und überall Massaker begangen wurden – auch hier waren die situativen Einflussfaktoren sehr wichtig. Die Gewaltdispositionen waren indes ungleich größer als in der Zeit vor 1918.
In Deutschland konnten sich im Laufe der 1920er Jahre die extrem nationalistischen Deutungen durchsetzen und damit auch die Vorstellung, dass der Weltkrieg deshalb verloren gegangen sei, weil man ihn nicht radikal genug geführt habe. Träger solcher Interpretationen waren vor allem die jungen Frontkämpfer und jene, die für den Fronteinsatz noch nicht alt genug gewesen waren. Aus beiden Kohorten rekrutierte sich der harte Kern der NS-Bewegung. Als Politiker, Militärs und Verwaltungsbeamte führten diese Männer wenige Jahre später ihren Krieg mit einer ganz anderen Radikalität und um ungleich radikalere Ziele. Dies zeigt schon der Blick auf den Holocaust und den Vernichtungskrieg in der Sowjetunion. In nahezu jedem Bereich war der Zweite Weltkrieg erheblich radikaler als der Erste, weil Grenzen der Gewaltanwendung von immer weniger Staaten akzeptiert wurden. Der Zweite Weltkrieg war somit nicht einfach die brutalere Fortsetzung des Ersten – er folgte in seiner ganzen Monstrosität einer eigenen Logik, in der Mäßigung kaum mehr vorgesehen war. Gewiss gab es auch im Ersten Weltkrieg Verbrechen, Mord und Verwüstung – mit dem Massenmord an den Armeniern sogar einen Genozid. Und doch kämpften die Monarchen der Jahre 1914 bis 1918 einen anderen Krieg als die Diktatoren der Jahre 1939 bis 1945.
Die Totalisierung des Krieges war aber nicht ausschließlich eine Folge der Ideologisierung der 1920er und 1930er Jahre. Sie ist nur in Verbindung mit den Erlebnissen von 1914–1918 zu verstehen. Der Erste Weltkrieg etablierte in vielen Bereichen einen neuen Kriegsbrauch, der fortan nicht mehr infrage gestellt wurde. Er modellierte das Vorstellbare neu – und dahinter ging man nicht mehr zurück. Die Versenkung von Handelsschiffen hatte seit 1915 zu einem internationalen Proteststurm geführt. Im Zweiten Weltkrieg scherten sich die Kriegsparteien darum nicht mehr und erachteten Handelsschiffe als legitime Ziele, die warnungslos versenkt wurden. Und auch im Luftkrieg war gleichsam der Geist aus der Flasche. Die Überzeugung, mit einem totalen Bombenkrieg gegen das feindliche Hinterland den langwierigen Stellungskrieg vermeiden und einen schnellen Sieg erzwingen zu können, überzeugte vor allem die Briten, die zudem 1920 im Irak gesehen hatten, wie wirkungsvoll sich Zivilisten aus der Luft bekämpfen ließen.
Viele Entwicklungsstränge der kriegerischen Gewaltentwicklung endeten 1945 – so etwa im Seekrieg – während andere fortwirkten. Die Überzeugung, dass sich die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten überlebt hatte, dass die Völker das eigentliche Ziel seien, war vielleicht die wirkungsmächtigste Folge des Ersten Weltkrieges, die über 1945 hinausreichte. Insofern war er in der Tat die vielzitierte Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts.