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Der historische Ort des Ersten Weltkrieges in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts | Erster Weltkrieg | bpb.de

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Der historische Ort des Ersten Weltkrieges in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts

Sönke Neitzel

/ 15 Minuten zu lesen

Der Erste Weltkrieg gilt als Auftakt des "Zeitalters der Extreme", und George Kennans Verdikt von der "Urkatastrophe" gehört schon lange zum Kanon geschichtspolitischen Denkens. Der Historiker Bernd Wegner hat unlängst freilich angemahnt, die Jahre 1914–1918 nicht nur als Vorläufer von 1939–1945 zu sehen, ja er hat darauf hingewiesen, dass es sich um sehr verschiedene Konflikte handelte, anders als es die Benennung nach Erstem und Zweitem Weltkrieg eigentlich nahelegt. Der Zweite Weltkrieg, so Wegner, sei vielmehr der erste wirklich globale Konflikt der Menschheitsgeschichte gewesen, weil sich hier europäische und außereuropäische Konflikte miteinander verbanden, während der Erste Weltkrieg der letzte einer Reihe eher konventioneller Kriege europäischer Großmächte des 18. und 19. Jahrhunderts gewesen sei.

Ganz gleich, ob man diese Argumentation für schlüssig hält oder nicht – und es gibt gute Gründe, bei den konventionellen Bezeichnungen zu bleiben – ist sie ein bedenkenswertes Plädoyer, den Konflikt von 1914–1918 nicht nur als eine Art Probelauf für Völkermord und Radikalisierung militärischer Gewalt im 20. Jahrhundert zu verstehen. Mittlerweile ergibt sich durch die sehr umfangreiche Forschung zu den Weltkriegen, darunter etliche vergleichende Studien, ein weit differenzierteres Bild, das es uns erlaubt, neben den Parallelen und den Verbindungslinien auch die großen Unterschiede in den Blick zu nehmen. Die Bedeutung des Ersten Weltkrieges für die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts lässt sich damit tiefenschärfer denn je fassen.

Irreguläre Gewalt

Im 19. Jahrhundert hatte man erstmals versucht, dem Krieg Regeln zu geben. Die Genfer Konventionen von 1864 und 1906, die Haager Landkriegsordnung von 1907 und die Londoner Seerechtsdeklaration von 1909 waren sichtbare Zeichen jahrzehntelang international geführter völkerrechtlicher Debatten. Ob es wirklich gelang, den Krieg einzuhegen, kann man schon mit Blick auf den Amerikanischen Bürgerkrieg 1861–1865, den Taiping-Aufstand in China 1851–1864, die europäischen Kolonialkriege oder die beiden Balkankriege 1912/1913 in Zweifel ziehen. Es gab kaum keine Gräueltat, die hier nicht verübt wurde. Allerdings verliefen die Konflikte zwischen den Großmächten vom Krimkrieg von 1853–1856 bis zum russisch-japanischen Krieg 1904/1905 eher gemäßigt. Gewiss starben Hunderttausende Soldaten, Verbrechen blieben aber die Ausnahme. Dies lag vor allem wohl daran, dass die Kämpfe nur von kurzer Dauer und regional begrenzt waren. Das volle Gewaltpotenzial, welches auch diese Konflikte schon in sich trugen, kam deshalb nicht zur vollen Entfaltung.

Der Erste Weltkrieg begann als ein Krieg des 19. Jahrhunderts, und nach menschlichem Ermessen hätte er nach wenigen Monaten eigentlich vorbei sein müssen. Ende 1914 waren die Munitionsvorräte verschossen, die Soldaten desillusioniert und Politiker wie Militärs am Ende ihres Lateins. Niemand hatte ein Konzept, wie der Sieg errungen werden konnte. Hätten sich die Monarchen wie in früheren Jahrhunderten auf ein Unentschieden geeinigt und den Status quo ante bekräftigt, die Büchse der Pandora wäre nicht geöffnet worden. Erst der jahrelange Kampf der Groß- und Mittelmächte schuf die Rahmenbedingungen für den totalen Krieg, von dem die Zeitgenossen unter dem Eindruck der Ereignisse 1916 zum ersten Mal sprachen.

Für die Gewaltgeschichte der Moderne ist bedeutend, dass während des Ersten Weltkrieges die Unterscheidung zwischen Kombattant und Nichtkombattant merklich verwischte. 40 Prozent aller Kriegstoten waren Zivilisten. Gewalt, Flucht, Vertreibung und Hunger erreichten neue Dimensionen – allen voran ist der Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich zu nennen. Aber auch im Westen gerieten Zivilisten ins Visier der Militärmaschinerie. Die britische Blockade, der uneingeschränkte U-Boot-Krieg der Mittelmächte und die Bombardierung britischer und französischer Städte durch deutsche Zeppeline verstießen allesamt gegen das Völkerrecht und richteten sich primär gegen die Zivilbevölkerung. Die Beispiele verdeutlichen: Wer über ein Kriegsmittel verfügte, setzte es ein. Die Briten kontrollierten die Nordsee, also schnitten sie das Deutsche Reich vom Überseehandel ab, auch wenn sie Schiffe mit rein ziviler Ladung eigentlich hätten passieren lassen müssen. Die Folgen waren verheerend: Die Mortalität der deutschen Bevölkerung nahm rapide zu. Hunderttausende starben an den Folgen der Mangelernährung – vor allem ältere Menschen. Freilich war dies nicht nur eine Folge der Blockade, sondern auch der chaotischen Verteilungsorganisation deutscher Behörden. Das Deutsche Reich erklärte im Gegenzug die britischen Inseln zum Blockadegebiet und griff mit seinen U-Booten britische Handelsschiffe immer wieder ohne Warnung an, was nach geltendem Seerecht strikt untersagt war. Ab dem 1. Februar 1917 wurden sogar neutrale Frachter attackiert, um diese vom Handel mit Großbritannien abzuhalten. 28.000 zivile Seeleute starben im Ersten Weltkrieg durch deutsche U-Boot-Angriffe. Die Empörung über den U-Boot-Krieg gegen die zivile Schifffahrt war in den USA so groß, dass der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten 1917 unvermeidbar war, selbst wenn Präsident Woodrow Wilson diesen Schritt ursprünglich wohl lieber vermieden hätte.

Jede Kriegslist und jede neue Waffe wurde bald vom Gegner kopiert, und so etablierte sich jenseits der öffentlichen Empörung bald ein von allen Kriegsparteien getragener neuer Kriegsbrauch. Die Gewalteskalation lässt sich etwa am Beispiel chemischer Waffen zeigen. Bereits im August 1914 verwendete die französische Armee versuchsweise Tränengas. Die Deutschen verschossen im Oktober 1914 an der West- und im Januar 1915 an der Ostfront in größerem Umfang Gasgranaten, die aber wirkungslos waren. Schließlich brachten sie am 22. April 1915 bei Ypern (Belgien) zum ersten Mal das tödliche Chlorgas zum Einsatz. Die Westmächte reagierten rasch, und fortan gab es einen Wettlauf um das giftigste Kampfgas. Allein an der Westfront forderte der Gaskrieg etwa 20.000 Tote und 500.000 Verwundete.

Auch in der Luft wurde der Krieg in eine neue Dimension getragen. Aus bescheidenen technischen Anfängen entwickelten sich bald mehrere Tausend Flugzeuge umfassende Streitkräfte, die vor allem über den Schlachtfeldern eingesetzt wurden. Schon im September 1914 griffen deutsche Zeppeline aber auch Paris und ab Januar 1915 englische Städte an. Die Schäden waren zwar überschaubar, dennoch trugen die Angriffe zur Totalisierung des Krieges bei. Die Absicht war nämlich meist, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren und so deren Durchhaltewillen zu schwächen. 1600 britische Zivilisten kamen im Ersten Weltkrieg durch deutsche Bomben ums Leben – alliierte Luftangriffe auf deutsche Städte forderten etwa 800 zivile Todesopfer. In Anbetracht des verheerenden Luftkrieges im Zweiten Weltkrieg mögen diese Zahlen nicht sehr beeindruckend sein. Es war gleichwohl nur die wenig ausgereifte Technik, die der Eskalation Grenzen setzte. Der Wille dazu war vorhanden. Die erste große alliierte Luftoffensive gegen deutsche Städte, die auch die Moral der Bevölkerung hätte brechen sollen, wurde nur durch den Waffenstillstand im November 1918 verhindert. Auch hier zeigte sich wieder: Sobald eine neue Waffe einen Vorteil versprach, wurde sie auch eingesetzt, und niemand scherte sich mehr um rechtliche Bedenken.

Eines der aufsehenerregenden Kriegsverbrechen des Ersten Weltkrieges war die Ermordung von Zivilisten unmittelbar im Frontgebiet. Beim Einmarsch nach Belgien und Nordfrankreich im August und September 1914 töteten deutsche Soldaten rund 6.400 Belgier und Franzosen. Ausgelöst durch eine Spionage- und Partisanenpsychose der unerfahrenen Truppen, die überall Hinterhalte witterten, kam es stellenweise zu wahren Gewaltorgien. Zwar waren Zivilisten oder nicht als Soldaten erkennbare Angehörige der belgischen Garde Civique tatsächlich am Widerstand gegen die vorrückenden deutschen Truppen beteiligt und trugen so zur Gewalteskalation bei. Die Hauptschuld traf aber unzweifelhaft die hypernervösen und unter Zeit- und Erfolgsdruck stehenden deutschen Einheiten, die selbst die nichtigsten Vorfälle zum Anlass nahmen, die belgische Zivilbevölkerung zur Rechenschaft zu ziehen. Zu ähnlichen Vorfällen kam es im August 1914 beim Einmarsch russischer Truppen nach Ostpreußen – wo zwischen 1.500 bis 6.000 deutsche Zivilisten getötet wurden – und österreichisch-ungarischer Einheiten nach Serbien, später dann auch in Galizien.

Offenbar war die Partisanenpsychose ein Phänomen des Bewegungskrieges, das verschwand, sobald die Fronten erstarrten. Die Ermordung von Zivilisten kam daher vor allem an der Ostfront und auf dem Balkan vor, wo der Krieg bis Ende 1916 über große Distanzen hinweg geführt wurde. Die ausgeprägte ethnische und religiöse Vielfalt in dieser Region und die damit verbundenen rassistischen und nationalistischen Feindbilder heizten die Gewalt weiter an. In Serbien, Montenegro und Albanien gab es zudem – anders als in Belgien oder Frankreich – eine Kultur des bewaffneten Widerstands. So kam es auf dem Balkan zu einem veritablen Guerillakrieg gegen die Besatzungsherrschaft der Mittelmächte, der im Februar und März 1917 im serbischen Toplica-Aufstand seinen Höhepunkt erreichte. Bulgarische Einheiten, unterstützt von österreichisch-ungarischen und deutschen Truppen schlugen ihn blutig nieder. 20.000 Menschen wurden getötet, die meisten von ihnen unbeteiligte Zivilisten. In Belgien und Nordfrankreich gab es hingegen keine Aufstände und somit auch keine Partisanenbekämpfung der deutschen Besatzer. Diese trachteten vor allem danach, das Gebiet wirtschaftlich auszubeuten, was die Lebensbedingungen der einheimischen Bevölkerung drastisch verschlechterte.

Die zahlenmäßig größte Opfergruppe irregulärer Gewalt im Ersten Weltkrieg waren die Kriegsgefangenen. Laut Haager Landkriegsordnung von 1907 hatten die Kriegsparteien ihre Gefangenen "menschlich" zu behandeln. Zwischen 6,6 und 8 Millionen Soldaten gerieten zwischen 1914 und 1918 in Gefangenschaft. Niemand war auf ein solches Massenphänomen vorbereitet, und insbesondere die Mittelmächte und Russland hatten aufgrund der schwierigen Ernährungslage erhebliche Probleme, ihre riesigen Gefangenenheere zu versorgen. Knapp 136.000 Gefangene starben in deutschem Gewahrsam, 650.000 in russischen und 400.000 in österreichisch-ungarischen Lagern. Die Todesraten bei den anderen Gewahrsamsmächten lagen deutlich niedriger. Ob dies primär an den viel kleineren Kontingenten sowie der allgemein deutlich besseren Versorgungslage in Großbritannien und Frankreich lag oder aber an einer anderen Gewaltbereitschaft, ist in der Forschung nach wie vor umstritten.

Unterschiedliche Kulturen der Gewalt?

In den Armeen des Ersten Weltkrieges gab es denkbar unterschiedliche Traditionen, Wertesysteme, Strukturen und Wahrnehmungsmuster. Doch erklären diese unterschiedlichen Kulturen auch die Gewaltentwicklung? Brachten die deutschen Soldaten belgische Zivilisten um, weil sie in der preußischen Armee zu besonderer Härte erzogen worden waren? Starben so viele Gefangene in Russland, weil es dort eine außergewöhnliche Gewaltkultur gab? Und töteten Briten und Franzosen deswegen weniger Gefangene, weil ihre Armeen zivilisierter oder zumindest weit mehr als anderswo der zivilen Kontrolle unterworfen waren? Kämpften also letztlich "die Guten" gegen "die Bösen"?

Der Vergleich der Mittelmächte mit den Westmächten wird freilich schon deshalb erschwert, weil sich deren Streitkräfte in sehr unterschiedlichen Situationen befanden: Frankreich und Großbritannien waren nie Besatzungsmächte und hatten auch keine Versorgungsengpässe zu überwinden. Dort, wo zumindest ansatzweise vergleichbare Rahmenbedingungen bestanden, erscheinen die Auslöser für die Gewaltausbrüche im Ersten Weltkrieg ähnlich. Guerillapsychosen gab es überall dort, wo ein schneller Bewegungskrieg geführt wurde; Massensterben von Kriegsgefangenen dort, wo die Verwaltung unterentwickelt oder die Versorgungslage schlecht war. Zivilisten wurden vor allem dort ermordet, wo es reale oder vermeintliche Aufstände gegen Besatzungsmächte gab und diese gar noch von ethnischen Konflikten angeheizt wurden. Der große Sonderfall ist der Genozid an den Armeniern, dessen Ausmaß im Ersten Weltkrieg singulär blieb.

Trotz aller Radikalität gab es 1914–1918 noch etwas, was später im Zweiten Weltkrieg gerade auf deutscher Seite vielfach fehlte: das Moment der Mäßigung. 1916 schickte die Reichsregierung die ersten polnischen Zwangsarbeiter nach Deutschland – beendete diese Praxis zumindest im Generalgouvernement Warschau aber sehr bald, als die Polen zu einem Verbündeten avancierten. Die Proteste im In- und Ausland führten dazu, dass auch die 60.000 ins Reich verschleppten belgischen Zwangsarbeiter 1917 zurückgeschickt wurden. Und auch Gewaltexzesse bei der Aufstandsbekämpfung in der Ukraine mäßigten sich im Kampf gegen die Bolschewiki 1918 spürbar, nachdem die deutschen Truppen noch im Juni in Taganrog über 1.500 Gefangene exekutiert hatten.

Die in der britischen und amerikanischen Forschung diskutierte These der besonders brutalen deutschen Gewaltkultur, die im deutsch-französischen Krieg 1870/1871 ihren Ausgang genommen und sich dann im Ersten Weltkrieg voll entfaltet habe, erscheint allzu verkürzt, da sie in erster Linie auf extremen Beispielen beruht und keine hinreichenden internationalen Vergleiche vornimmt, die vor allem auch Ost- und Südosteuropa berücksichtigen sollten. Vergleicht man etwa die vielschichtige Besatzungsherrschaft der beiden Mittelmächte in Polen, stellt man keine grundlegenden Unterschiede in den Gewaltkulturen fest. Die Differenzen ergeben sich vielmehr aus den regional unterschiedlichen Bedingungen – etwa für die Versorgung der Zivilbevölkerung – und durch den Einfluss einzelner leitender Beamter und Offiziere auf die Praxis der Besatzung. Der Blick auf das Zarenreich, wo die nicht-russische Zivilbevölkerung der westlichen Grenzregionen unter Spionageverdacht zu Hunderttausenden deportiert und insbesondere die Juden malträtiert wurden, offenbart noch viel radikalere Praktiken. Aber auch hier ist zweifelhaft, ob dies auf eine originär russische Gewaltkultur zurückgeführt werden kann.

Spürt man nationalen Signaturen der Gewalt nach, so lohnt sich auch ein Blick über den Ersten Weltkrieg hinaus. Der von den Briten überaus scharf geführte Burenkrieg (1899–1902) oder die wenig bekannte Aufstandsbekämpfung im Irak 1920 lassen etwa die Vorstellung einer prinzipiell gemäßigten britischen Militärmacht fragwürdig erscheinen. Letztlich verhielten sich die Briten im Irak 1920 ähnlich wie die Deutschen in der Ukraine 1918. Eine Vielzahl von soziologischen, sozialpsychologischen und historischen Studien belegt, dass es keine einfachen Erklärungen für Kriegsverbrechen gibt, dass "Gut" und "Böse" keine geeigneten Untersuchungskategorien sind. Es gilt vielmehr, die komplexe Wechselwirkung kollektiver und persönlicher Dispositionen von Soldaten, der Befehlslage und den spezifischen örtlichen Situationen zu analysieren, die zu Gewaltausbrüchen führten. Zweifellos gab es in den Armeen des Ersten Weltkrieges unterschiedliche Sitten und Gebräuche und auch wechselnde Befehlslagen, etwa darüber, wie mit realen oder vermeintlichen Guerillakämpfern zu verfahren sei. Und dennoch scheint der wirkungsmächtigste Faktor die spezifische Situation gewesen zu sein, in der Armeen und Soldaten unterschiedlicher Kulturen dann sehr ähnlich – nämlich meist gewaltsam – reagierten.

Für alle Großmächte gilt gleichermaßen, dass der nicht enden wollende Kampf die Vorstellungen davon veränderte, wie ein Krieg zu führen sei. Die Mobilisierung und Kontrolle der Bevölkerung nahm erheblich zu, die Kriegsziele, aber eben auch die Kriegsmethoden wurden immer radikaler. Das beste Beispiel ist der uneingeschränkte U-Boot-Krieg, der nach zwei Jahren heftiger innerdeutscher Debatten im Februar 1917 begonnen wurde – wissend, dass es sich dabei um einen eklatanten Völkerrechtsbruch handelte. Doch 1917 schienen alle Mittel Recht, um das Ringen doch noch siegreich zu beenden. Der Weltkrieg, der zum Überlebenskampf hochstilisiert wurde, führte mit zunehmender Dauer zur Verschiebung der Maßstäbe von Recht und Unrecht. Und dennoch: Gräueltaten waren nicht das primäre Merkmal des Ersten Weltkrieges. Es war vielmehr der industrialisierte Massenkrieg in den Schützengräben, der eine neue Qualität und eine neue Quantität des Kampfes etablierte: die tagelange Kanonade Tausender Geschütze, die jeden Flecken Erde in eine leblose Mondlandschaft verwandelte, die Sturmangriffe Zehntausender Soldaten, die von Maschinengewehren niedergemäht wurden. Es waren diese Szenarien, die das Schreckensbild des Ersten Weltkriegs prägten.

Nachwirkungen

Massentod, Verwundungen und Entbehrungen gruben tiefe Spuren in die Seelen deutscher Soldaten. Und dennoch zeigen neue Studien, dass im November 1918 keinesfalls ein Millionenheer verrohter und gewaltbereiter Kämpfer nach Hause zurückkehrte. Auch Hitler war am 11. November noch kein hasserfüllter Ideologe. Noch wirkungsmächtiger als der Weltkrieg selbst war, dass es nach dem 11. November keinen Frieden gab. Dem Waffenstillstand an den Fronten folgte eine Vielzahl von blutigen Bürgerkriegen, Aufständen und zwischenstaatlichen Konflikten. Die Gewalterfahrungen der Nachkriegszeit radikalisierten das Denken der Zeitgenossen erheblich, und sie waren gekoppelt an eine sich immer stärker polarisierende Deutung des Weltkrieges: In Deutschland und Italien standen sich pazifistische und militaristische Interpretationen unversöhnlich gegenüber: "Nie wieder Krieg" auf der einen und "totaler Krieg" auf der anderen Seite.

Wie wichtig die Deutung der Jahre 1914–1918 für den weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts war, zeigte sich auch in Japan. Das Land hatte kaum Kämpfe zu bestreiten gehabt, und doch entfaltete der Erste Weltkrieg hier eine enorme Wirkung. Japan schien als nur schwach industrialisiertes Land einem modernen Konflikt nicht mehr gewachsen zu sein, so glaubten gerade etliche junge Offiziere. Wenn man schon nicht mit der Produktionskraft westlicher Wirtschaftsnationen mithalten konnte, so schlussfolgerten sie, müsste fortan eine überlegene Moral in die Waagschale geworfen werden. Mit Härte, Opferbereitschaft und unbedingtem Gehorsam würde es in einem künftigen totalen Krieg gelingen, einen materiell überlegenen Gegner zu besiegen. Für Japan war es fatal, dass sich diese Deutung innerhalb des Militärs schließlich durchsetzte und es den Streitkräften dann auch noch gelang, die eher auf Ausgleich orientierte politische Führung beiseite zu drängen. Die Zeit, in der sich Japan dem Westen als Kulturnation präsentieren wollte – so wie im russisch-japanischen Krieg und im Ersten Weltkrieg – war bald vorbei. Die japanische Armee zog fortan mit einem viel radikaleren Referenzrahmen in den Kampf. Zuerst bekamen dies 1937 die Chinesen zu spüren. Das bedeutete nicht, dass immer und überall Massaker begangen wurden – auch hier waren die situativen Einflussfaktoren sehr wichtig. Die Gewaltdispositionen waren indes ungleich größer als in der Zeit vor 1918.

In Deutschland konnten sich im Laufe der 1920er Jahre die extrem nationalistischen Deutungen durchsetzen und damit auch die Vorstellung, dass der Weltkrieg deshalb verloren gegangen sei, weil man ihn nicht radikal genug geführt habe. Träger solcher Interpretationen waren vor allem die jungen Frontkämpfer und jene, die für den Fronteinsatz noch nicht alt genug gewesen waren. Aus beiden Kohorten rekrutierte sich der harte Kern der NS-Bewegung. Als Politiker, Militärs und Verwaltungsbeamte führten diese Männer wenige Jahre später ihren Krieg mit einer ganz anderen Radikalität und um ungleich radikalere Ziele. Dies zeigt schon der Blick auf den Holocaust und den Vernichtungskrieg in der Sowjetunion. In nahezu jedem Bereich war der Zweite Weltkrieg erheblich radikaler als der Erste, weil Grenzen der Gewaltanwendung von immer weniger Staaten akzeptiert wurden. Der Zweite Weltkrieg war somit nicht einfach die brutalere Fortsetzung des Ersten – er folgte in seiner ganzen Monstrosität einer eigenen Logik, in der Mäßigung kaum mehr vorgesehen war. Gewiss gab es auch im Ersten Weltkrieg Verbrechen, Mord und Verwüstung – mit dem Massenmord an den Armeniern sogar einen Genozid. Und doch kämpften die Monarchen der Jahre 1914 bis 1918 einen anderen Krieg als die Diktatoren der Jahre 1939 bis 1945.

Die Totalisierung des Krieges war aber nicht ausschließlich eine Folge der Ideologisierung der 1920er und 1930er Jahre. Sie ist nur in Verbindung mit den Erlebnissen von 1914–1918 zu verstehen. Der Erste Weltkrieg etablierte in vielen Bereichen einen neuen Kriegsbrauch, der fortan nicht mehr infrage gestellt wurde. Er modellierte das Vorstellbare neu – und dahinter ging man nicht mehr zurück. Die Versenkung von Handelsschiffen hatte seit 1915 zu einem internationalen Proteststurm geführt. Im Zweiten Weltkrieg scherten sich die Kriegsparteien darum nicht mehr und erachteten Handelsschiffe als legitime Ziele, die warnungslos versenkt wurden. Und auch im Luftkrieg war gleichsam der Geist aus der Flasche. Die Überzeugung, mit einem totalen Bombenkrieg gegen das feindliche Hinterland den langwierigen Stellungskrieg vermeiden und einen schnellen Sieg erzwingen zu können, überzeugte vor allem die Briten, die zudem 1920 im Irak gesehen hatten, wie wirkungsvoll sich Zivilisten aus der Luft bekämpfen ließen.

Viele Entwicklungsstränge der kriegerischen Gewaltentwicklung endeten 1945 – so etwa im Seekrieg – während andere fortwirkten. Die Überzeugung, dass sich die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten überlebt hatte, dass die Völker das eigentliche Ziel seien, war vielleicht die wirkungsmächtigste Folge des Ersten Weltkrieges, die über 1945 hinausreichte. Insofern war er in der Tat die vielzitierte Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Bernd Wegner, Der Globale Krieg, Vortrag am 20.2.2014 in Frankfurt/M.; Hans Riebsamen, Keine Schlafwandler, sondern Zocker, in Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 22.2.2014, S. 45; Bernd Wegner, Wann begann und wann endete der Zweite Weltkrieg?, in: FAZ vom 12.8.2009, S. 3.

  2. Oswald Überegger bereitet eine grundlegende Studie zu den Kriegsverbrechen im Ersten Weltkrieg vor. Vgl. seinen luziden Forschungsüberblick: Oswald Überegger, "Verbrannte Erde" und "baumelnde Gehenkte". Zur europäischen Dimension militärischer Normübertretungen im Ersten Weltkrieg, in: Sönke Neitzel/Daniel Hohrath (Hrsg.), Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Paderborn 2008, S. 241–278.

  3. Vgl. Dieter Martinez, Der Gaskrieg 1914–1918. Entwicklung, Herstellung und Einsatz chemischer Kampfstoffe, Bonn 1996, S. 9–28, S. 127–132.

  4. Grundlegend ist nach wie vor John H. Morrow, The Great War in the Air. Military Aviation from 1909 to 1921, Washington–London 1993.

  5. Vgl. Ralf Blank, Der strategische Luftkrieg gegen Deutschland, 1914–1918, S. 8, Externer Link: http://www.erster-weltkrieg.clio-online.de/_Rainbow/documents/einzelne/Luftkrieg14_181.pdf (24.3.2014).

  6. Die wichtigste Studie zum Thema ist John Horne/Alan Kramer, Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit, Hamburg 2004.

  7. Vgl. O. Überegger (Anm. 2), S. 267.

  8. Vgl. Heiko Brendel/Emmanuel Debruyne, Resistance and Repression in Occupied Territories Behind the Western and Balkan Fronts, 1914–1918. A Comparative Perspective, in: Wolfram Dornik/Julia Walleczek-Fritz/Stefan Wedrac (Hrsg.), Frontwechsel. Österreich-Ungarns "Großer Krieg" im Vergleich, Wien u.a. 2014, S. 235–258.

  9. Vgl. Jonathan E. Gumz, The Resurrection and Collapse of Empire in Habsburg Serbia 1914–1918, Cambridge 2009, S. 192–213.

  10. Als Überblick vgl. Jochen Oltmer (Hrsg.), Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkrieges, Paderborn 2006.

  11. Vgl. Heather Jones, Violence against Prisoners of War in the First World War. Britain, France and Germany, 1914–1920, Cambridge 2011; dazu auch Reinhard Nachtigals Rezension, in: Historische Zeitschrift, 296 (2013) 1, S. 244–247.

  12. Vgl. Christian Westerhoff, Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen und Litauen 1914–1918, Paderborn 2012, S. 241ff.

  13. Vgl. Peter Lieb, Suppressing Insurgencies in Comparison: The Germans in the Ukraine, 1918, and the British in Mesopotamia, 1920, in: Small Wars & Insurgencies, 23 (2012), S. 627–647.

  14. Vgl. Isabelle V. Hull, Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany, Ithaca 2005; Robert M. Citino, The German Way of War: From the Thirty Years’ War to the Third Reich, Lawrence 2005. Dieser Befund gilt mit Abstrichen auch für Alan Kramer, Dynamic of Destruction: Culture and Mass Killing in the First World War, Oxford 2007.

  15. Vgl. Stephan Lehnstaedt, Fluctuating between "Utilisation" and Exploitation. Occupied East Central Europe during the First World War, in: Jochen Böhler/Włodzimierz Borodziej/Joachim von Puttkamer (Hrsg.), Legacies of Violence. Eastern Europe’s First World War, München 2014, S. 89–112; hierzu demnächst auch Lehnstaedts Habilitationsschrift "Habsburger, Hohenzollern, Hitler. Imperiale Politik in Polen in zwei Weltkriegen".

  16. Vgl. Alfred Eisfeld/Guido Hausmann/Dietmar Neutatz (Hrsg.), Besetzt, interniert, deportiert. Der Erste Weltkrieg und die deutsche, jüdische, polnische und ukrainische Zivilbevölkerung im östlichen Europa, München 2013; darin insbesondere den Beitrag von Pascal Trees, Russland und die deutsche Zivilbevölkerung im Königreich Polen während des ersten Weltkriegsjahres 1914/15, S. 199–230.

  17. Vgl. P. Lieb (Anm. 13).

  18. Vgl. Dirk Schumann, Gewalterfahrungen und ihre nicht zwangsläufigen Folgen. Der Erste Weltkrieg in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Mai 2004, Externer Link: http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/gewalterfahrungen-und-ihre-nicht-zwangslaeufigen-folgen (24.3.2014).

  19. Vgl. Thomas Weber, Hitlers erster Krieg. Der Gefreite Hitler im Weltkrieg – Mythos und Wirklichkeit, Berlin 2011, S. 311–337.

  20. Vgl. Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918–1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2011.

  21. Vgl. Leonard A. Humphreys, The Way of the Heavenly Sword. The Japanese Army in the 1920’s, Stanford 1995, S. 180f.

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Dr. phil., geb. 1968; Professor für internationale Geschichte an der London School of Economics and Political Science, Houghton Street, London WC2A 2AE, England/Vereinigtes Königreich. E-Mail Link: s.neitzel@lse.ac.uk