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Julikrise und Kriegsschuld – Thesen und Stand der Forschung | Erster Weltkrieg | bpb.de

Erster Weltkrieg Editorial Vorstellungen vom Krieg vor 1914 und der Beginn des "Großen Krieges" Julikrise und Kriegsschuld – Thesen und Stand der Forschung Der historische Ort des Ersten Weltkrieges in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts Der Krieg an der Peripherie – Mittelasien und Nordafrika Medienkrieg: Film und Propaganda zwischen 1914 und 1918 Deutsche Soldaten und "Männlichkeit" im Ersten Weltkrieg Der Erste Weltkrieg in der internationalen Erinnerung

Julikrise und Kriegsschuld – Thesen und Stand der Forschung

Annika Mombauer

/ 18 Minuten zu lesen

Am 28. Juni 1914 wurden der österreichisch-ungarische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie von einem jungen bosnischen Serben namens Gavrilo Princip erschossen. Dieses Attentat war der Auslöser für eine internationale Krise, die Anfang August 1914 in den von vielen Zeitgenossen schon lange befürchteten Krieg zwischen den Großmächten mündete. Der Tod eines Mannes in Sarajevo sollte zum Tod von Millionen Menschen im Ersten Weltkrieg führen. Und dieser war mit dem Friedensschluss von 1919 nicht wirklich beendet. Manche Historiker sehen in ihm sogar nur den ersten Teil eines neuen Dreißigjährigen Krieges, der erst mit der totalen Niederlage Deutschlands 1945 endete. In den Juliwochen 1914, der sogenannten Julikrise, wurde in den Hauptstädten der Großmächte über Krieg und Frieden entschieden. Diese Entscheidungen waren prägend für das gesamte 20. Jahrhundert. Daher ist es sicherlich auch gerechtfertigt, in diesem Krieg die "Urkatastrophe" jenes Jahrhunderts zu sehen, wie es der amerikanische Diplomat George Kennan formulierte.

Kriegsschulddebatte

Aber warum kam es überhaupt zu dieser Katastrophe? Seit hundert Jahren streiten sich Historiker, Politiker und die informierte Öffentlichkeit darüber, wer für den Krieg verantwortlich war. Dabei schien diese Frage nach dem Kriegsende 1918 – zumindest für die Sieger – zunächst leicht zu beantworten. Deutschland und seine Verbündeten waren es, die den Krieg absichtlich vom Zaun gebrochen hatten und jetzt für dieses Verbrechen bestraft werden mussten. Der berühmte Kriegsschuldartikel des Versailler Vertrages, Artikel 231, befand: "Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben."

Aber in Deutschland sah man das ganz anders. Die neue Weimarer Regierung distanzierte sich von der Entscheidung der Sieger, und es entbrannte ein Kampf um die sogenannte Kriegsschuldlüge. In Deutschland war man sich sicher, 1914 einen Verteidigungskrieg geführt zu haben. Schlimm genug, dass man daraus als Verlierer hervorgegangen war; dass man diesen jetzt angeblich verursacht haben sollte, war eine tiefe Demütigung, die es zu bekämpfen galt.

Tatsächlich hatte die Kriegsschulddebatte schon begonnen, bevor die ersten Schüsse gefallen waren. In den Hauptstädten Europas war man sich im Vorfeld durchaus darüber im Klaren, dass ein moderner Krieg mit Millionenheeren nur dann erfolgreich geführt werden konnte, wenn die Bevölkerung davon überzeugt war, dass es sich um einen "gerechten Krieg" handelte. Das bedeutete, dass man in jedem Fall als der Angegriffene erscheinen musste. Das war für Franzosen und Belgier nicht schwer, wurden sie doch ganz offensichtlich angegriffen, als deutsche Truppen in der Nacht zum 4. August 1914 auf dem Weg nach Frankreich in das neutrale Belgien einmarschierten. Das ebenfalls neutrale Luxemburg war bereits am 2. August besetzt worden. Für die Deutschen war es schwieriger, dies als Verteidigungsfall darzustellen, hatte ihre Armee damit doch offensichtlich gegen das Völkerrecht verstoßen. Dennoch verkündete der deutsche Kaiser Wilhelm II. am Tag des Einmarsches in Belgien: "Mitten im Frieden überfällt uns der Feind!" Diese Nachricht wurde auf unzähligen Postkarten, Propagandapostern und in der Presse im Reich verbreitet. In Deutschland war die Bevölkerung ebenso davon überzeugt, einen Verteidigungskrieg zu führen, wie in Frankreich oder Großbritannien (wo man Belgien und Frankreich verteidigen wollte). Dass man nach dem verlorenen Krieg als Angreifer dargestellt wurde, war für viele Deutsche unannehmbar, nicht zuletzt, weil die immensen alliierten Reparationsansprüche auf dieser Kriegsschuldzuweisung basierten.

Die Weimarer Regierungen und das Auswärtige Amt arbeiteten deshalb mit Historikern und Publizisten an der Widerlegung dieser "Schuldlüge". Die Revision des Versailler Schuldspruchs (und damit das Ende der Reparationszahlungen) wurde zum Ziel der offiziellen Geschichtsschreibung der 1920er Jahre. Das Ausmaß des von der Regierung und vor allem vom Auswärtigen Amt betriebenen "Betrugs an Klio" ist heute kaum noch vorstellbar. Um die Welt von Deutschlands Unschuld zu überzeugen, wurden von speziell dafür gegründeten Forschungsämtern Dokumentensammlungen zusammengestellt, Bücher veröffentlicht und spezielle Zeitschriften gegründet. Man führte einen "Weltkrieg der Dokumente". Darstellungen, die diese offizielle Interpretation infrage zu stellen drohten, wurden zensiert und fanden kein Publikum im Weimarer Deutschland. Veröffentlichungen aus dem Ausland, die für Deutschlands Unschuld plädierten, wurden vom Auswärtigen Amt unterstützt, das auch einen regen Austausch zwischen Revisionisten im In- und Ausland förderte.

Erfolg der Kriegsunschuldpropaganda

Die Propagandaoffensive war erfolgreich: In Deutschland glaubte (ohnehin) kaum jemand an die deutsche Kriegsschuld, und bis Anfang der 1930er Jahre setzte sich auch im Ausland eine neue Sicht durch. Damit wandte sich der internationale Konsens zugunsten Deutschlands. Der ehemalige britische Premierminister David Lloyd George fasste die neue Orthodoxie 1933 in seinen Memoiren prägnant zusammen: Europa sei 1914 in den Krieg "hineingeschlittert" ("Europe slithered over the brink into the boiling cauldron of war"). Demnach waren nicht die außenpolitischen Ambitionen einer Nation für den Kriegsausbruch verantwortlich, sondern das Versagen des damaligen Bündnissystems (mit Triple-Entente aus Frankreich, Russland, Großbritannien auf der einen und Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien auf der anderen Seite). Der Krieg war demzufolge quasi ein Versehen, ein Unfall, für den niemand direkt verantwortlich gemacht werden konnte. In Deutschland war diese neue Interpretation besonders willkommen und konnte als Zeichen dafür gewertet werden, dass sich der lange Propagandafeldzug gelohnt hatte.

1927 hatte Reichspräsident Paul von Hindenburg während der Gedenkfeier zur Eröffnung des Tannenberg-Denkmals noch verkündet, dass das deutsche Volk die Anschuldigung ablehne, für diesen größten aller Kriege verantwortlich zu sein, und die Revision des Versailler Vertrags gefordert. Zehn Jahre später, am 30. Januar 1937, konnte Adolf Hitler im Reichstag den begeisterten Deutschen erklären, dass die Kriegsschuldfrage endgültig gelöst sei: Nachdem Deutschland "15 Jahre lang das Leben eines Aussätzigen unter den anderen Nationen zu führen gezwungen worden war", machte er es sich zur Aufgabe, "jene Fesseln abzustreifen, die wir als tiefstes Schandmal empfanden, das jemals einem Volk aufgebrannt worden war".

Tatsächlich war die Frage der alleinigen deutschen Schuld durch die Bemühungen anderer beseitigt worden (nicht zuletzt durch die von der Weimarer Regierung ermutigte revisionistische Propaganda, aber auch durch eine im Ausland stattgefundene Kehrtwende, befördert etwa durch Lloyd George). Hitler aber stellte dies charakteristisch als seinen persönlichen Triumph dar und erklärte, "daß damit jener Teil des Versailler Vertrages seine natürliche Erledigung gefunden hat, der unserem Volke die Gleichberechtigung nahm und es zu einem minderwertigen Volke degradierte. (…) Ich ziehe damit vor allem aber die deutsche Unterschrift feierlichst zurück von jener damals einer schwachen Regierung wider deren besseres Wissen abgepreßten Erklärung, daß Deutschland die Schuld am Kriege besitze!" So war denn die "Ehre Deutschlands" wiederhergestellt, und die Ämter, die sich fast zwanzig Jahre mit der Widerlegung der deutschen Kriegsschuld beschäftigt hatten, konnten ihre Arbeit einstellen.

Die Kriegsschuldfrage schien also geklärt, und als ein neuer Weltkrieg drohte und schließlich Wirklichkeit wurde, hatte man weder in Deutschland noch im Ausland Interesse, über die Ursachen des vorherigen nachzudenken. Der Zweite Weltkrieg wurde noch verheerender, und so wollte man auch nach 1945 die Vorgeschichte des Krieges von 1914 nicht hinterfragen, galt es doch, zwölf Jahre Nationalsozialismus zu erklären und sich mit den Tatsachen der im Namen Deutschlands verübten Verbrechen abzufinden. Und so war man, was den Ersten Weltkrieg betrifft, weiterhin von der geteilten Verantwortung aller Großmächte überzeugt. Ein erfreulicher Kompromiss hatte sich etabliert, der Erste Weltkrieg und seine Ursachen waren nicht mehr kontrovers.

Fischer-Kontroverse

Erst in den 1960er Jahren wurde die Kriegsschuldfrage in Deutschland wieder ernsthaft untersucht und neu bewertet. Bahnbrechend wirkte hier der Hamburger Historiker Fritz Fischer, der die Hauptverantwortung für den Kriegsausbruch wieder in Berlin sah. Sein Buch "Griff nach der Weltmacht" (1961) löste eine emotional geführte Debatte aus, in der sich selbst Regierung und Auswärtiges Amt einmischten. Fischer und seine Schüler wurden in der öffentlichen Debatte unter anderem als Nestbeschmutzer beschimpft – man nahm ihnen übel, dieses längst zu Deutschlands Gunsten erledigte Thema wieder hervorzuholen. So musste man sich jetzt im In- und Ausland nicht nur wegen der Verbrechen während des "Dritten Reiches" verantworten, sondern auch mit der Anschuldigung leben, für beide Weltkriege direkt verantwortlich gewesen zu sein.

Die Empörung war besonders groß, weil viele Zeitgenossen im Ersten Weltkrieg noch selbst gekämpft hatten. So war zum Beispiel der Freiburger Historiker Gerhard Ritter, ein ausgesprochener Gegner Fischers, der Überzeugung, 1914 als Freiwilliger in einen Verteidigungskrieg gezogen zu sein – jetzt wurde ihm und seiner Generation vorgehalten, sie hätten sich an einem Eroberungskrieg beteiligt. Diese neue Kriegsschuldinterpretation war für viele in Deutschland inakzeptabel. Fischer behauptete nicht nur, dass Deutschland den größten Teil der Verantwortung für den Ausbruch des Krieges hatte, sondern auch, dass die Reichsleitung diesen von langer Hand geplant und damit expansive Kriegsziele verfolgt hatte, die denen Hitlers ähnelten.

In einem zweiten Buch, "Krieg der Illusionen" (1969), verschärfte Fischer seine Kritik. Seine Thesen basierten zum Teil auf neuen Quellenfunden, auch auf Material aus der DDR, das westdeutschen Forschern bis dahin unzugänglich gewesen war. So förderte er 1961 zum Beispiel das sogenannte September-Programm von 1914 zutage, in dem der damalige Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg die langfristigen Kriegsziele des deutschen Reiches notiert hatte, sowie 1969 bislang ungekannte Dokumente zum sogenannten Kriegsrat vom Dezember 1912, in dem – so Fischer – der Krieg beschlossen und auf den Sommer 1914 vertagt worden war.

Neuer Konsens

Die Fischer-Debatte war spätestens in den 1980er Jahren ausgestanden, und es herrschte weitgehender Konsens: Man konnte Fischer zwar nicht allgemein zustimmen, dass Deutschland den Krieg von langer Hand geplant hatte und mit ihm Kriegsziele verwirklichen wollte, die denen Hitlers kaum nachstanden. Aber es war doch mehr oder weniger unumstritten, dass Deutschland den Hauptteil der Verantwortung für den Kriegsbeginn zu tragen hatte (wohlgemerkt hat Fischer niemals behauptet, dass Deutschland allein schuldig war, nur eben hauptschuldig – eine wichtige Unterscheidung, die häufig übersehen wird). Es wurde nun mehr darüber gestritten, was die Motivation für die aggressive Außenpolitik gewesen sein könnte: Hatten die Politiker und Militärs in Berlin mit einem Krieg die innenpolitischen Probleme des Landes lösen wollen? Waren ihre Handlungen letztlich defensiv oder offensiv? Hatte man 1914 einen Präventivkrieg heraufbeschwören wollen? Dass die Handlungen und Entscheidungen, die 1914 in Deutschland getroffen wurden, den Kriegsausbruch ermöglicht hatten, war jedoch relativ unumstritten.

Es war allerdings auch unstrittig, dass auch die Entscheidungen anderer Großmächte kritischer durchleuchtet werden mussten. Allen voran fand nun Österreich-Ungarn Kritiker, nicht nur unter deutschen und österreichischen Forschern, sondern auch im englischsprachigen Ausland. Dabei wurde unter anderem argumentiert, dass die Regierung in Wien keineswegs ein unschuldiges Opfer deutscher Intrigen gewesen sei, sondern die Ermordung des Erzherzogs als willkommenen Anlass genutzt habe, die von Serbien ausgehende Unterminierung des Vielvölkerstaates endlich durch einen Krieg gegen das Nachbarland zu beenden.

Kriegsursachenfrage und 100. Jahrestag

Anfang des 21. Jahrhunderts hatte man sich in der Debatte schließlich darauf verständigt, dass der Ausbruch des Krieges keineswegs zwangsläufig gewesen war. Es wurde sogar vom "unwahrscheinlichen Krieg" gesprochen, der die Zeitgenossen überrascht habe. Historiker untersuchten die Vorkriegszeit genauer und befanden, dass man in Europa durchaus geschickt darin gewesen war, diplomatische Krisen am Verhandlungstisch und eben ohne einen Krieg zu lösen. Ob das nun dazu geführt hatte, dass die Entscheidungsträger etwas zu siegessicher wurden, was die Möglichkeit friedlicher Beilegungen internationaler Krisen anbelangte, sei dahingestellt. Aber die Sicht, dass der Krieg nicht unvermeidbar hatte kommen müssen und durchaus die Handlungen von Einzelnen für den Ausbruch des Krieges verantwortlich waren, wurde nun allgemein akzeptiert.

Neben Österreich-Ungarns Rolle wurden in den vergangenen Jahren auch die außenpolitischen Entscheidungen der anderen Großmächte in der Vorkriegszeit verstärkt untersucht. So argumentiert zum Beispiel der US-amerikanische Historiker Sean McMeekin, dass Russland am Erwerb der türkischen Meerengen und besonders am Besitz Konstantinopels interessiert gewesen und der Regierung in St. Petersburg die Julikrise mit der Möglichkeit eines europäischen Krieges nicht ungelegen gekommen sei. Zudem wird Russland beschuldigt, durch seine frühe Entscheidung zur Teilmobilmachung eine friedliche Lösung der Krise unmöglich gemacht zu haben. In Paris sei man, so schreibt zum Beispiel der deutsche Historiker Stefan Schmidt, darauf bedacht gewesen, alles zu tun, um das französisch-russische Bündnis zu stärken, und deshalb bereit, die russische Politik zu unterstützen. Es scheint durchaus so, dass der Krieg von den Regierungen dieser Großmächte zumindest nicht prinzipiell abgelehnt wurde, solange sie glaubten, daraus einen Vorteil ziehen zu können. Einzig in London war man durch innenpolitische Probleme abgelenkt, und ein Krieg auf dem Kontinent kam wenig gelegen.

Pünktlich zum 100. Jahrestag des Kriegsbeginns sind eine Reihe von Veröffentlichungen erschienen, welche die Kriegsschuldfrage wieder in den Vordergrund rücken. Das Thema ist erneut stark umstritten und wird in der deutschen Öffentlichkeit lebhaft diskutiert. Glaubt man den neuesten Untersuchungen, so waren Deutschland und Österreich-Ungarn nicht mehr verantwortlich für den Ausbruch des Krieges als Russland oder Frankreich, die in der Julikrise die Möglichkeit sahen, ihr Bündnis zu festigen und denen ein Präventivkrieg genauso willkommen war wie Deutschland oder Österreich-Ungarn. Angesichts der neuesten Forschungsergebnisse könnte man leicht den Eindruck gewinnen, dass Europa 1914 tatsächlich in den Krieg "geschlittert" war.

Ausgelöst wurde diese neue Debatte in Deutschland durch ein Buch des in Großbritannien lehrenden Historikers Christopher Clark, "The Sleepwalkers". In England war es bereits 2012 erschienen und hatte dort zwar wohlwollende Kritiken bekommen, aber sonst keine größere Kontroverse ausgelöst. Dann aber kam im Herbst 2013 die deutsche Übersetzung auf den Markt, und damit begann eine öffentliche Debatte über den Ersten Weltkrieg, die es so seit der Fischer-Kontroverse nicht mehr gegeben hatte. Nicht nur, dass Clarks Buch die Bestsellerlisten wochenlang anführte, im ganzen Land wurde auch mit und über Clark und seine Thesen diskutiert. Der Erste Weltkrieg (jetzt neuerdings auch in Deutschland als "Der Große Krieg" bezeichnet) und besonders die Frage nach seinen Ursachen sind seitdem in Zeitungen, Zeitschriften, online, in Rundfunk und Fernsehen ein Dauerthema.

Gavrilo Princip und die Frage der serbischen Rolle in der Vorkriegszeit sind bei Clark deutlich mehr als nur eine Fußnote. Dass sein Buch im Jahr 1903 mit der grausamen Ermordung des serbischen Königspaares einsetzt und das Nationalitätenproblem auf dem Balkan und Serbiens Position als Störenfried so zentral diskutiert werden, ist ungewöhnlich. Aber Clark moniert zu recht: "Serbien ist einer der blinden Flecken der Historiographie zur Julikrise."

Kontrovers an seinem Buch ist nicht, dass er Serbien auf die Anklagebank setzt (zumindest in Deutschland – in Serbien war die Reaktion eher negativ), sondern, dass er versichert, dass die Suche nach einem Schuldigen oder einer smoking gun weder nötig noch sinnvoll sei. Historiker, so meint Clark, sollten nicht über die Handelnden der Vergangenheit richten, sondern verständlich machen, wie diese Handlungen zustande kamen, und er fragt: "Ist es wirklich nötig, dass wir ein Plädoyer gegen einen einzigen, schuldigen Staat halten oder eine Rangordnung der Staaten nach ihrem jeweiligen Anteil an der Verantwortung aufstellen?"

Er lenkt den Blick damit weg von der deutschen Schuldfrage hin zu einer Interpretation, in der alle Großmächte mehr oder weniger dafür verantwortlich waren, dass es im Sommer 1914 zum großen Krieg kam. So werden bei ihm die Mittelmächte, also Deutschland und Österreich-Ungarn, zum Opfer französisch-russischer Aggression, und die Vermittlungsvorschläge aus London werden als "halbherzig" abgetan. Der Ausbruch des Krieges sei "eine Tragödie, kein Verbrechen" gewesen. Für viele Kommentatoren in Deutschland war dies der Anlass, Deutschland von der Schuld am Ersten Weltkrieg freizusprechen. Clarks Buch habe "die These von der Hauptverantwortlichkeit des Deutschen Reichs klaftertief begraben", urteilte etwa die Publizistin Cora Stephan.

Das Argument von der deutschen Unschuld wird in einer weiteren erfolgreichen Publikation untermauert. Kurz nach Clarks Buch erschien Herfried Münklers Werk "Der Große Krieg", in dem der Politikwissenschaftler – auch wiederum von der Warte der Bestsellerliste aus und von diversen Medien extensiv zitiert – Deutschland von der alleinigen Kriegsschuld freispricht: "Zweifellos war Deutschland im Sommer 1914 einer der maßgeblichen Akteure, die für den Kriegsausbruch verantwortlich waren – aber es trug diese Verantwortung keineswegs allein." Münkler bescheinigt der politischen und militärischen Führung Deutschlands "zweifellos eine Reihe von Fehlurteilen und Fehleinschätzungen (…), aus denen dann Führungsfehler erwachsen sind, die zunächst in den Krieg und dann in die Niederlage geführt haben". Der Krieg war demnach das Resultat von Fehlern – nicht, wie so oft behauptet worden ist, ein absichtlich von Berlin und Wien heraufbeschworener Präventivkrieg.

Nach den Veröffentlichungen von Clark und Münkler konstatierten einige Kommentatoren in Deutschland einen Paradigmenwechsel – die Frage nach der Verantwortung für den Krieg scheint wieder zu Deutschlands Gunsten beantwortet zu sein. "Die Deutschen tragen Schuld am Ersten Weltkrieg – aber nicht mehr als andere", stellte zum Beispiel der Historiker Holger Afflerbach im "Spiegel" fest.

Nur wenige Stimmen widersprechen der in den deutschen Medien aufgekommenen Erleichterung, dass man die Schuld an diesem Krieg nach hundert Jahren von sich weisen kann. "Die Begeisterung für diese ‚neue Sicht‘ geht einher mit einer Herabsetzung Fritz Fischers, die in manchem an die Kampagne gegen ihn in den sechziger Jahren erinnert", kritisierte der Historiker Volker Ullrich. Hatte man damals Fischers Thesen als "politischen Masochismus" bezeichnet, so werden Kritiker der neuen Unschuldsthese jetzt des "Schuldstolzes" beschuldigt: "Sie stünden geradezu unter dem Zwang, immer wieder die deutsche Schuld bekennen zu müssen, ja zögen daraus die höchste Befriedigung. In solchen Attacken wird deutlich, worauf der teils schrille deutsche Jubel über Clarks Schlafwandler letztlich zielt: Es geht um eine geschichtspolitische Weichenstellung. Was den Konservativen im ‚Historikerstreit‘ der achtziger Jahre noch missglückte – nämlich die Deutungshoheit über die deutsche Geschichte zurückzugewinnen –, das soll jetzt gelingen. Es fällt auf, wie matt der Widerspruch bislang war. In der Zunft scheint man des Streites müde geworden zu sein."

Ein weiterer Kritiker des neuen Paradigmas, der Historiker Gerd Krumeich, erläuterte in einem Interview: "Clark nimmt die Deutschen und die Österreicher zu sehr in Schutz. Das war vielleicht ein wenig nötig, nach den Jahrzehnten der Fokussierung auf die deutsche Schuld. Aber es geht nicht an, dass er die Serben zu einer Art Räuberbande macht, ähnlich wie Wilhelm II. damals. Der wirkliche Unruheherd für ihn (Clark) ist der Panslawismus und der russische Druck auf Österreich-Ungarn." Die Frage nach der Verantwortung für den Kriegsausbruch beantwortete Krumeich kategorisch: "Die größte Verantwortung für den Krieg, wie er im August 1914 ausbrach, hatte nach meiner Überzeugung Deutschland, weil es versuchte, den Konflikt zu einem ‚Test‘ auf die russische Kriegsbereitschaft auszugestalten." Und so stehen sich, ähnlich wie in den 1960er Jahren, wieder Historiker in diametral gegensätzlichen Positionen gegenüber. Die kurzzeitige Einigung auf einen Konsens ist dahin, und die Debatte bewegt sich wieder auf alten Bahnen.

Blick auf Großbritannien

Ein Aspekt der jüngsten Debatte ist die Betonung der Rolle des Vereinigten Königreichs, das bisher relativ wenig Aufmerksamkeit als vermeintlicher Kriegsschuldiger bekommen hatte. Dies ist besonders delikat, weil parallel zur deutschen Diskussion über die Kriegsschuldfrage in Großbritannien darüber gestritten wurde, wie man den 100. Jahrestag des Kriegsausbruches am besten zelebrieren sollte. Dabei muss man in London die schwierige Gratwanderung meistern, die Rolle der britischen und kolonialen Soldaten zu würdigen und den Krieg als unvermeidlich, gerecht und natürlich auch letztendlich gewonnen darzustellen, gleichzeitig aber die Bundesrepublik nicht vor den Kopf zu stoßen, indem man die Frage der Kriegsschuld zu sehr betont. Bezeichnend ist hierbei zum Beispiel, dass Premierminister David Cameron ausdrücklich von einem Kampf gegen die Idee eines von Preußen dominierten Europas sprach, und nicht von einem Krieg gegen Deutschland: "We should be clear that World War I was fought in a just cause, that our ancestors thought it would be bad to have a Prussian-dominated Europe, and that is why they fought."

In Deutschland sind zumindest einige Historiker weniger darauf bedacht, auf britische Sensibilitäten Rücksicht zu nehmen. So war im Januar 2014 in einem Beitrag mehrerer deutscher Historiker in der "Welt" zu lesen: "Das Deutsche Reich war nicht ‚schuld‘ am Ersten Weltkrieg. Eine derartige Kategorie gab es bis dahin gar nicht, hatten doch dem Codex der europäischen Staatenkriege gemäß souveräne Staaten das ‚ius ad bellum‘, sofern sie eine Verletzung ihrer Interessen begründen konnten. Dieses Recht zum Krieg galt 1914 am wenigsten für Großbritannien, denn das Vereinigte Königreich konnte mit keinem unmittelbaren Interesse oder Bündniszwang ein Eingreifen in einen lokalen Konflikt (zwischen Österreich-Ungarn und Serbien) begründen. Erst der britische Kriegseintritt aber machte aus dem Ursprungskonflikt ein globales Desaster."

Warum aber Deutschlands Interessen am lokalen Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Serbien schwerer wiegen sollten als Großbritanniens Interesse am Schicksal Frankreichs und Belgiens, sei dahingestellt – denn London intervenierte ja nicht in einem lokalen Krieg zwischen Österreich und Serbien, wie unterstellt wird, sondern in einem Konflikt zwischen Belgien, Frankreich und Deutschland. So spricht man London ab, es habe "einen gerechten, das heißt gerechtfertigten Krieg" geführt, sieht aber in Deutschlands Handlungen eine durchaus gerechtfertigte Verteidigungstat. Hier ist man dann wieder bei den revisionistischen Argumenten der Zwischenkriegszeit, als deutsche Historiker und Publizisten versuchten, ihre Geschichtsinterpretation zur dominanten Sicht des Kriegsausbruchs zu machen – wie wir gesehen haben, durchaus mit Erfolg.

Fazit

Seit hundert Jahren ist die Frage nach der Ursache des Ersten Weltkrieges nicht nur Geschichtsschreibung, sondern auch von zeitgeschichtlicher Relevanz. In den 1920er Jahren waren es die Bemühungen, Deutschland von der Schuld und damit von den Reparationszahlungen freizusprechen. In den 1960er Jahren, während der Fischer-Kontroverse, war es die Sorge, wie man als geteilter Staat an der vordersten Front des Kalten Krieges bestehen konnte. Die Kubakrise gab damals Anlass, nach eventuellen Parallelen zur Julikrise zu suchen, und Fragen nach der jüngsten deutschen Vergangenheit führten zum Hinterfragen der Geschichte von Bismarck zu Hitler. Auch heute werden vermeintliche Parallelen zu zeitgenössischen Krisen gezeichnet. Man beruft sich auf den 11. September 2001 oder auf die europäische Finanzkrise der vergangenen Jahre, und es wird auch oft darauf verwiesen, dass der Balkan auch noch am Ende des 20. Jahrhunderts ein gefährliches Pulverfass war. Auch die Tatsache, dass Deutschland nach wie vor mit den "Herausforderungen der Position der Mitte" konfrontiert ist, wird heute verstärkt hervorgehoben.

Es ist verständlich, dass die Debatte in den 1960er Jahren noch so emotional geführt wurde – hier stritten hauptsächlich noch Zeitzeugen und sahen sich gezwungen, ihre eigenen Handlungen oder die ihrer Väter zu rechtfertigen. Aber auch nach hundert Jahren, nachdem mit dem Tod des letzten Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg dieser wirklich Geschichte geworden ist, tut es dem deutschen Nationalgefühl sichtbar gut, von der Kriegsschuld befreit zu sein, und das erklärt sicherlich, warum vielerorts die These des in den Krieg schlafwandelnden Europas willkommen ist. Nicht jeder hält sie für überzeugend, und es ist unwahrscheinlich, dass zum Thema Kriegsursache das letzte Wort geschrieben oder gesprochen ist; fraglich ist allerdings, ob in Zukunft wirklich neue Erkenntnisse die Debatte bereichern werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Klio ist in der antiken Mythologie die Muse der Geschichtsschreiber. Vgl. Holger Herwig, Clio Deceived: Patriotic Self-Censorship in Germany After the Great War, in: Keith M. Wilson (Hrsg.), Forging the Collective Memory: Government and International Historians Through Two World Wars, Providence–Oxford 1996, S. 87–127.

  2. Bernhard Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente. Zehn Jahre Kriegsschuldforschung und ihr Ergebnis, München 1929.

  3. David Lloyd George, War Memoirs, Bd. 1, London 1933, S. 32.

  4. Vgl. Hindenburgs Rede vom 18.9.1927, in: Fritz Berber (Hrsg.), Das Diktat von Versailles. Entstehung – Inhalt – Zerfall. Eine Darstellung in Dokumenten, 2 Bde., Essen 1939, S. 1229.

  5. Zit. nach: Wolfgang Jäger, Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland, Göttingen 1984, S. 64.

  6. Ebd.

  7. Eine ausführliche Darstellung der Debatte in den 1920er und 1930er Jahren findet sich zum Beispiel in: Annika Mombauer, The Origins of the First World War. Controversies and Consensus, London 2002.

  8. Vgl. Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands, 1914/18, Düsseldorf 1961.

  9. Vgl. ders., Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911–1914, Düsseldorf 1969.

  10. Vgl. Fritz Fellner/Doris A. Corradini (Hrsg.), Schicksalsjahre Österreichs. Die Erinnerungen und Tagebücher Josef Redlichs, 1869–1936, 3 Bde., Wien–Weimar 2011; Manfried Rauchensteiner, Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg, Graz–Wien–Köln 1993; ders., Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburger-Monarchie, Wien 2013; Günther Kronenbitter, "Krieg im Frieden". Die Führung der k.u.k. Armee und die Großmachtpolitik Österreich-Ungarns 1906–1914, München 2003; Samuel R. Williamson, Austria-Hungary and the Origins of the First World War, London 1991.

  11. Vgl. Holger Afflerbach/David Stevenson (Hrsg.), An Improbable War? The Outbreak of World War I and European Political Culture, Oxford 2007.

  12. Vgl. Sean McMeekin, The Russian Origins of the First World War, Cambridge, MA 2011; Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013.

  13. Vgl. Stefan Schmidt, Frankreichs Außenpolitik in der Julikrise 1914, München 2007.

  14. Vgl. C. Clark (Anm. 12).

  15. Ebd., S. 15.

  16. Ebd., S. 715.

  17. Cora Stephan, Die Urkatastrophe, 14.11.2013, Externer Link: http://www.welt.de/article121873002 (20.3.2014).

  18. Herfried Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918, Berlin 2013, S. 10.

  19. Ebd., S. 15.

  20. Holger Afflerbach, Schlafwandelnd in die Schlacht, in: Der Spiegel, Nr. 39 vom 24.9.2012, S. 50f., Externer Link: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-88754330.html (20.3.2014).

  21. Volker Ullrich, Nun schlittern sie wieder, in: Die Zeit, Nr. 4 vom 24.1.2014, Externer Link: http://www.zeit.de/2014/04/erster-weltkrieg-clark-fischer (20.3.2014).

  22. Gerd Krumeich im Interview mit Sven Felix Kellerhoff, Das Kaiserreich unterschätzte 1914 Englands Macht, 11.9.2013, Externer Link: http://www.welt.de/article119906475 (20.3.2014).

  23. Ebd. In einer längeren Studie zur Julikrise nuancierte Krumeich die nun so dominante Interpretation der gemeinsamen Verantwortung für den Krieg weiter: Gerd Krumeich, Juli 1914. Eine Bilanz, Stuttgart 2013.

  24. Zit. nach: Simon Walters, "I wanted to thump anyone who said my son’s death might have a silver lining", 18.1.2014, Externer Link: http://www.dailymail.co.uk/news/article-2541909 (20.3.2014).

  25. Dominik Geppert/Sönke Neitzel/Cora Stephan/Thomas Weber, Warum Deutschland nicht allein schuld ist, 4.1.2014, Externer Link: http://www.welt.de/article123516387 (20.3.2014).

  26. C. Stephan (Anm. 17).

  27. H. Münkler (Anm. 18), S. 24.

  28. Für eine andere Interpretation vgl. zum Beispiel Annika Mombauer, Die Julikrise. Europas Weg in den Ersten Weltkrieg, München 2014.

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Dr. phil., geb. 1967; Senior Lecturer in Europäischer Geschichte an der Open University, Walton Hall, Milton Keynes, MK7 6AA, England/Vereinigtes Königreich. E-Mail Link: annika.mombauer@open.ac.uk