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Vorstellungen vom Krieg vor 1914 und der Beginn des "Großen Krieges" | Erster Weltkrieg | bpb.de

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Vorstellungen vom Krieg vor 1914 und der Beginn des "Großen Krieges"

Gerd Krumeich

/ 16 Minuten zu lesen

Als die europäischen Nationen im Jahre 1914 in den Krieg zogen, gab es nur vage Vorstellungen von dem, was dann wirklich kam. Überall herrschte die Überzeugung, dass der Krieg schon vor Weihnachten 1914 beendet sein werde. Die "kriegsbegeisterten" Menschen in Berlin, München und anderen Großstädten wären sicherlich nicht jubelnd durch die Straßen gezogen, hätten sie auch nur die geringste Ahnung gehabt, wie schauerlich sich dieser Krieg entwickeln sollte. Auch die verantwortlichen Politiker wie der deutsche Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg, der französische Präsident Raymond Poincaré, der russische Außenminister Sergej Sasonow oder der britische Schatzkanzler und spätere Premierminister David Lloyd George hätten sicher mehr getan, um den Eklat des Juli 1914 zu vermeiden, hätten sie geahnt, dass dieser Krieg mehr als vier Jahre dauern und nahezu dreizehn Millionen Tote kosten würde. Die Auffassung, dass man sich bemühen werde, den Krieg kurz zu halten, ihn nicht ausufern zu lassen, um Europas Wirtschaft nicht übermäßig zu strapazieren, war allgemein verbreitet.

Die Offiziere Alfred von Schlieffen, Friedrich von Bernhardi und andere Kriegstheoretiker und -praktiker jener Zeit hatten eine durchaus realistische Sicht des Krieges – allerdings nur des Krieges, den sie kannten. Was sie nicht hinreichend beachteten, war die Tatsache, dass der Krieg wie alle menschlichen Handlungen und Einrichtungen entwicklungsfähig ist und dazu tendiert, über sich hinauszuwachsen und qualitativ neue Züge anzunehmen. Viele internationale Fachleute waren zum Beispiel davon überzeugt, dass die offensive Kriegsführung der defensiven in jedem Fall überlegen sei, weil der kommende Krieg aus ökonomischen und politischen Gründen ja von vornherein als ein kurzer konzipiert werden musste.

Die Militärexperten der Vorkriegszeit zeigten sich willens und fähig, Armeen von bisher noch nicht kampferprobter, aber gerade noch denkbarer Größe gegeneinander kämpfen zu lassen. Sie sprachen von ungefähr einer Million Mann auf beiden Seiten. Im August 1914 zählte die deutsche Armee tatsächlich 83000 Offiziere und ungefähr 2,3 Millionen Mann. Sicherlich war dies das Doppelte von dem, was Schlieffen als noch vernünftig und machbar angesehen hatte, aber er hatte auch nur von den Truppen gesprochen, die an einer Front zu brauchen seien, wohingegen dann der tatsächliche Aufmarsch im August/September 1914 sowohl an der Ost- wie auch an der Westfront stattfand. Sicherlich wären die militärischen Beobachter der Vorkriegszeit nicht so optimistisch gewesen, wenn sie vorausgesehen hätten, dass die deutsche Armee beispielsweise im Jahr 1916 auf etwa 8,2 Millionen Soldaten angewachsen sein würde.

Rolle der Kriegstechnik

Für die vor 1914 verbreiteten Vorstellungen vom zukünftigen Krieg waren unter anderem auch verschiedene technische Entwicklungen maßgeblich. Zunächst spielte der Gebrauch von Eisenbahnen und Kraftwagen eine sehr große Rolle. Es hat den Anschein, als stellte das Bewusstsein, über eine Maschinerie zu verfügen, mit der die Massenarmeen zügig transportiert werden konnten, ein außerordentlich hilfreiches Argument für jene dar, die auf eine immer stärkere Vergrößerung der Armeen drängten. Was die Zerstörungskraft moderner Geschütze angeht, so waren in der Vorkriegszeit durchaus realistische Vorstellungen vorhanden. Aber immer wieder findet sich bei denjenigen Autoren, die versuchten, das Publikum mit den Realitäten des modernen Krieges vertraut zu machen, die Überzeugung, dass die Kriegsmaschinerie kontrollierbar und ein schneller Sieg möglich bleiben müsse.

Eine Mischung von realistischem Denken und groben Illusionen, bewirkt durch übergroßen Technikglauben, ist vielfach zu erkennen – beispielsweise in dem Bericht eines in den Balkankriegen (1912/1913) aktiven Feldarztes über die Auswirkungen moderner Geschosse und Geschossverletzungen, illustriert mit einer Anzahl fürchterlicher Fotografien. Dieser Arzt gelangte gleichwohl zu der Schlussfolgerung, dass die Geschosse wegen der höheren Schussfolge und der Transportfähigkeit größerer Geschossmassen immer kleinkalibriger werden müssten. Eine unausweichliche Konsequenz dieser Entwicklung werde sein, dass die kleineren Kugeln im Vergleich zu den im deutsch-französischen Kriege von 1870/1871 verwendeten Geschossen ungefährlichere Verwundungen verursachten. Eine Erfahrung des Balkankrieges liege also darin, dass die neuen Geschosse reduzierten Kalibers oft keine tödlichen Wunden mehr herbeiführten. Verwundete Soldaten würden somit schneller geheilt als früher und könnten bald wieder eingesetzt werden. Insgesamt werde die Artillerie in Zukunft nichts mehr ausrichten können, da, wie man bereits im Burenkrieg (1899–1902) gesehen habe, das ausgebaute Schützengrabensystem die Truppen dem Feuer der jeweils gegnerischen Artillerie entzöge.

Auch der Militärschriftsteller Julius Hoppenstedt veröffentlichte 1907 ein viel beachtetes Buch über die Großschlachten künftiger Kriege. Anders aber als die genau in jenen aufgeregten Jahren so vielfältige Kriegsfuturologie-Literatur verstand sich diese Schrift als ein taktisches Lehrwerk, das anhand einer erdachten Schlacht die Fragen aktueller Strategie und Taktik diskutieren wollte. Hier heißt es im Hinblick auf die Bedeutung der Artillerie: "Die hochgesteigerte Schnellwirkung der Rohrrücklaufgeschütze macht es möglich, auf Stellen, gegen die Infanterie vorrücken soll oder will, für Minuten geradezu eine Wand von Eisen und Rauch zu errichten; ihre große Tragweite ermöglicht den Zusammenschluß zahlreicher Batterien; die Panzerung läßt die Trutzbatterien dem Gegner selbst auf Nahentfernung auf den Leib rücken, aber auch aus verdeckter Stellung kann dank seiner Standfestigkeit und der Verbesserung der Richt-, Beobachtungs- und Nachrichtenmittel das moderne Geschütz Schnellwirkung erzielen".

Was Hoppenstedt beschreibt, ist ziemlich exakt die berühmte "Feuerwalze", mit der die beiderseitigen Truppenführungen nach den Erfahrungen des Jahres 1916 versuchten, aus dem "festgefahrenen" Krieg wieder zur Offensive überzugehen. Das unrealistische Element dieses Denkens liegt hingegen im Ignorieren der Clausewitz’schen "Wechselwirkung", gemäß der die Gegenseite genau in derselben Weise die "Feuerwalze" in Betrieb setzen würde und der Verteidiger den Angreifer ebenfalls mit Artillerie in Schach halten kann; dies alles wird hier nicht bedacht – wahrscheinlich in der stillschweigenden Voraussetzung, die eigene Technik sei "massiver" und entwickelter als die des Gegners. Ähnlich kurzschlüssiges Denken tritt auch bei Schlieffen zu Tage, wenn er behauptet, dass "sich der Angreifer im raschen Anlauf auf den durch andauerndes Feuer eingeschüchterten Verteidiger stürzen" könne.

Vorkriegsstimmungen

Auf sozialistischer und pazifistischer Seite wurde stets vor dem kommenden großen Krieg gewarnt. Berühmt geblieben ist August Bebels Reichstagsrede vom November 1911, in der er nach der Marokko-Krise aussprach, was heute ungemein prophetisch wirkt: "So wird man eben von allen Seiten rüsten und wieder rüsten (…) bis zu dem Punkte, daß der eine oder andere Teil eines Tages sagt: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. (…) Dann kommt die Katastrophe. Alsdann wird in Europa der große Generalmarsch geschlagen, auf den hin sechzehn bis achtzehn Millionen Männer, die Männerblüte der verschiedenen Nationen, ausgerüstet mit den besten Mordwerkzeugen, gegeneinander als Feinde ins Feld rücken. (…) Die Götterdämmerung der bürgerlichen Welt ist im Anzuge (…)." Weniger bekannt ist allerdings, dass die Rede vom Gelächter der Konservativen und Nationalisten begleitet wurde, auch mit Zwischenrufen wie: "Nach jedem Kriege wird es besser".

In den Jahren 1912 bis 1914 verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den Großmächten zusehends. Zunächst kam es 1912/1913 zu einem regelrechten Wettrüsten zwischen Deutschland und Frankreich. Auf beiden Seiten herrschte die Überzeugung, dass der Gegner zum Krieg dränge und bald losschlagen wolle. Hinzu kam ab dem Spätherbst 1913 eine starke Fehde zwischen Deutschland und Russland, da Russland nicht dulden wollte, dass die türkische Armee von deutschen Instruktoren geleitet und verbessert würde, so wie es Deutschland und das Osmanische Reich planten. Immer häufiger war nun auch vom baldigen Krieg die Rede. Russlands Kriegsminister rief im April 1914 den französischen Alliierten öffentlich dazu auf, sich endlich auf den Kampf an der Seite Russlands vorzubereiten.

Generalstabschef Helmuth von Moltke zeigte sich deshalb im Mai 1914 (also lange vor dem Attentat in Sarajevo) voller böser Vorahnungen und drängte immer heftiger auf einen Krieg, solange die deutschen Aussichten auf einen Sieg im Zweifrontenkrieg gegen Russland und Frankreich noch realistisch seien. Wie er seinem österreich-ungarischen Kollegen, dem ohnehin auf Krieg (gegen Serbien) drängenden Conrad von Hötzendorff im Mai mitteilte, sei er der Überzeugung, dass "jedes Zuwarten eine Verminderung unserer Chancen bedeutet". Nach einer späteren Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes (also dem "Außenminister" des Deutschen Reiches) Gottlieb von Jagow habe Moltke ihm zu jener Zeit in einem persönlichen Gespräch empfohlen, dem für 1916 zu erwartenden Krieg zuvorzukommen und damit die letzte Gelegenheit zu ergreifen, solange Deutschland überhaupt noch Erfolgsaussichten habe.

Der Hamburger Bankier und enge Vertraute des Kaisers, Max Warburg, berichtet über ein Gespräch mit Wilhelm II. am 21. Juni 1914 – acht Tage vor dem Attentat von Sarajevo – in dem sich dieser tief beunruhigt über die russischen Rüstungen gezeigt habe und jetzt einen Vorwand zum Losschlagen finden wollte, wenn doch in zwei Jahren alles zu spät sein werde. Auch Bethmann Hollweg, der so nachdenkliche und kein wenig "kriegstreiberische" Reichskanzler, war im Frühsommer 1914 von starkem Pessimismus befallen, auch wenn er weiterhin einen Präventivkrieg ablehnte. Er hatte, genau wie das Auswärtige Amt, große Sorgen wegen kontinuierlich fließender Nachrichten von einem geplanten russisch-britischen Marineabkommen. Dieses war zwar noch nicht weit gediehen und für sich allein gesehen nicht sonderlich weitreichend. Aber die deutsche Regierung erfuhr alle Verhandlungsschritte unmittelbar und sofort durch einen in der russischen Botschaft in London platzierten Spion. Und die Tatsache, dass diskrete Nachfragen im britischen Außenministerium mit "diplomatischen" Ausflüchten und Lügen beantwortet wurden, war Wasser auf die Mühle der "Einkreisungsphobie" der deutschen Regierung.

Entsprechend war die "Gemütslage" der wichtigsten militärischen und politischen Führer, als die Nachricht vom Attentat von Sarajevo eintraf. Überall in der "zivilisierten Welt" sorgte das Attentat für größtes Entsetzen. Die Regierung der Doppelmonarchie war von Anfang an fest entschlossen, die Gelegenheit zu nutzen, um sich ein für alle Mal des "serbischen Problems" zu entledigen. Die ohnehin seit Jahren auf "Kriegskurs" gegen das als bedrohlich empfundene Serbien stehende Regierung und die Militärs Österreich-Ungarns wollten nunmehr Serbien unannehmbare Kompensationsforderungen stellen, um es mit Krieg überziehen zu können und für immer unschädlich zu machen. Diese Absicht geht aus den Akten der Beratungen des "Gemeinsamen Ministerrats" der Doppelmonarchie vom 7. Juli 1914 hervor. Man gelangte zu der Auffassung, "daß ein rein diplomatischer Erfolg, wenn er auch mit einer eklatanten Demütigung Serbiens enden würde, wertlos wäre und daß daher solche weitgehende Forderungen an Serbien gestellt werden müssten, die eine Ablehnung voraussehen ließen, damit eine radikale Lösung im Wege militärischen Eingreifens angebahnt würde".

Die historische Forschung ist sich noch heute nicht einig, ob und wie weit diese Entschiedenheit Österreich-Ungarns durch das Verhalten des deutschen Bündnispartners beeinflusst oder sogar erst bewirkt worden ist. Tatsächlich hatte der wie immer impulsive, aufbrausende und funkensprühende Kaiser Wilhelm II. schon sehr früh auf Kriegskurs gedrängt. Er war in höchster Empörung über das Attentat, das für ihn eine tiefe Bedrohung des gesamten monarchischen Systems durch "die Revolution" darstellte. Als der deutsche Botschafter aus Wien am 30. Juni meldete, er benutze jede Gelegenheit, um die Regierung in Wien "vor übereiligen Schritten zu warnen", schrieb der Kaiser erbost an den Rand der Depesche: "Wer hat ihn (den Botschafter Heinrich von Tschirschky) dazu ermächtigt? Das ist sehr dumm! Geht ihn gar nichts an, da es lediglich Österreichs Sache ist, was es hierauf zu thun gedenkt. Nachher heisst es dann, wenn es schief geht, Deutschland hat nicht gewollt! Tschirschky soll den Unsinn gefälligst lassen. Mit den Serben muss aufgeräumt werden, und zwar bald."

Mit diesen Worten ist bereits die Auffassung der deutschen Regierung beschrieben, wie sie sich in den folgenden Tagen entwickelte. Sehr bald gelangten Bethmann Hollweg und die wichtigsten Außenpolitiker, nämlich Staatssekretär Jagow und sein Unterstaatssekretär Arthur Zimmermann, zu einer gemeinsamen Strategie: Man wollte das Attentat nutzen, um die gefährdete Großmacht Österreich-Ungarn, die ja gleichzeitig der einzige noch zuverlässige Verbündete Deutschlands war, wieder zu stabilisieren. Das erfuhren die Österreicher, als sie am 5. Juli einen Emissär, den Grafen Hoyos, mit einer persönlichen Botschaft des Monarchen nach Berlin schickten. Hoyos kehrte mit der Versicherung des Kaisers zurück, dass Deutschland für alle Fälle hinter Österreich-Ungarn stehe, auch wenn sich der Konflikt mit Serbien zu einem Krieg mit Russland ausweiten würde, das ja "Schutzmacht" der Serben war. Selbstverständlich war man sich der Tatsache bewusst, dass im Falle eines Krieges mit Russland auch Frankreich im Spiel war, war doch Frankreich laut Allianzvertrag verpflichtet, im Falle eines Angriffs der Mittelmächte auf Russland diesem militärisch beizustehen. So wurde der sogenannte Blankoscheck des Deutschen Reiches für Österreich-Ungarn zur entscheidenden Weichenstellung hin zum "Großen Krieg".

Misslungene "Lokalisierung"

Warum aber hat Deutschland seinem Verbündeten diese Vollmacht erteilt? Man kann die weitgehende Behauptung der "Fischer-Schule" aus den 1960er Jahren – die auch heute nur noch von wenigen Historikern geäußert wird – ausschließen, dass Deutschland die Julikrise von 1914 konsequent und dezidiert für die Durchsetzung seines Weltmachtanspruchs benutzen wollte. Das setzt ein zweckrationales Verhalten voraus, für welches sich aber in den Quellen keine Belege finden. Zutreffend ist hingegen, dass die deutsche Regierung zu einem ebenso elaborierten wie unverantwortlichen Kalkül Zugriff (oder Zuflucht?) nahm. Sie bestand darauf, den Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien auf diese beiden Mächte zu beschränken, ihn, wie damals unablässig wiederholt wurde, zu "lokalisieren", damit sich aus dem kleinen Brand an der Peripherie nicht der große Zusammenstoß beider Allianzsysteme ergebe. Diese Absicht ist in der so erbitterten Kriegsschulddiskussion nach 1918 immer wieder benutzt worden, um die deutsche Regierung zu entschuldigen beziehungsweise um nachzuweisen, dass sie keineswegs die Absicht gehabt habe, einen großen Krieg auszulösen, sondern im Gegenteil stets auf eine Eingrenzung, eben eine "Lokalisierung", des Brandherdes gedrungen habe.

So überzeugend dieses Argument auf den ersten Blick erscheinen mag, so übersieht es, dass die Lokalisierungsabsicht von keinem verantwortlichen Politiker im Gegenlager und bei den Neutralen verstanden wurde. Europäische Großmachtdiplomatie hatte seit mehr als hundert Jahren stets darauf beruht, entstandene Konflikte durch "Konferenzdiplomatie" der Hauptmächte zu bereinigen. Dieses uralte System hatte ja auch trotz aller Schwierigkeiten in den Balkankriegen funktioniert. Warum sollte jetzt, wo ein großer Krieg drohte, nicht wieder versucht werden, das Problem zwischen Serbien und Österreich-Ungarn auf dem Wege internationaler Konferenzen zu entschärfen, wie es England und Frankreich sofort vorschlugen? Darauf hatte Deutschland nur die immer wieder vorgetragene und stereotype Antwort, dass im gegebenen Fall die "Einmischung" anderer Mächte wegen der ohnehin so gespannten Situation zwischen den beiden Bündnisstrukturen in Europa zu einer unkontrollierbaren Situation und höchstwahrscheinlich zum Krieg führen müsste. Deshalb müsse Deutschland strikt auf Nichteinmischung der anderen Mächte bestehen. Diese Krisenstrategie, über deren genaue Ausarbeitung wir wenig wissen, war unter diesen Umständen nichts anderes als eine in dieser Form noch nie da gewesene Erpressung. Die europäischen Großmächte, insbesondere Russland, sollten tatenlos zusehen, wie Österreich-Ungarn mit Serbien nach Belieben umsprang.

Während der Krise unterschätzten die Briten lange den dramatischen Charakter der deutschen Politik. Außenminister Edward Grey unterließ es – was ihm später heftig vorgeworfen worden ist – noch zur rechten Zeit eine klare Warnung an Deutschland auszusprechen. Noch Anfang August wussten weder die Alliierten des Vereinigten Königreiches noch Deutschland und Österreich-Ungarn, ob Großbritannien überhaupt in einen Krieg eingreifen würde.

Die französische Regierung verhielt sich recht doppeldeutig. Einerseits wurde von Paris aus energisch auf eine Begrenzung der Krise durch Gespräche zwischen den Großmächten gedrungen. Andererseits hat Präsident Poincaré gemeinsam mit dem französischen Botschafter in Petersburg, Maurice Paléologue, auf dem Höhepunkt der Julikrise alles getan, um den Russen die Sicherheit zu geben, dass Frankreich unter allen Umständen eine Politik der Unnachgiebigkeit gegenüber Deutschland verfolgen werde. Russland konnte sich deshalb ziemlich sicher sein, dass Frankreich im Kriegsfall unbedingt an seiner Seite stehen würde.

Europäisches Domino

Das Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien schlug ein "wie eine Bombe". Sasonow war außer sich: "Sie setzen Europa in Brand!", sagte der russische Außenminister dem deutschen Botschafter. Österreich verlangte von Serbien eine Art förmliche Unterwerfung: Serbien sollte alle panserbischen und antiösterreichischen Tendenzen in der Presse unterdrücken, und es sollte vor allem österreichische Beamte in die Untersuchung der Hintergründe des Attentats einschalten. Letzteres war für einen souveränen Staat nach damaligen Begriffen vollständig inakzeptabel – und so war es ja auch von Österreich-Ungarn geplant. Indessen war die serbische Antwort ein Meisterstück der Diplomatie: Es gab nahezu allen Forderungen Wiens nach, nur die Beauftragung österreichischer Beamter mit der Untersuchung lehnte es ab. Ohne weitere Verhandlungen erklärte die Doppelmonarchie nun Serbien den Krieg, die europäische Öffentlichkeit war von soviel Brutalität schockiert. Dies umso mehr, als man überall davon ausging, dass hinter diesem unmäßigen Verhalten der Donaumonarchie Deutschland stünde, und die Vermutung, dass Deutschland einen großen Krieg wolle, wurde immer stärker zur Gewissheit.

Angesichts dieser Entwicklung wurde Kaiser Wilhelm II. einigermaßen von Panik erfasst. Der Monarch erkannte, dass Österreich-Ungarns Verhalten nach dieser serbischen Antwort nicht mehr zu legitimieren war und gab die Anweisung, Österreich-Ungarn nunmehr zur Mäßigung aufzufordern. An den Rand einer Depesche aus Wien schrieb der Kaiser, dass mit der serbischen Antwort "jeder Kriegsgrund" entfalle. Bethmann Hollweg leitete zwar die Vorschläge des Kaisers korrekt nach Wien weiter, nicht aber dieses so symbolische, wenngleich sachlich unsinnige "Jetzt entfällt jeder Kriegsgrund". Schließlich war zu diesem Zeitpunkt der Krieg bereits seit einem Tag erklärt.

Russland war es vollständig unmöglich, angesichts der Empörung der eigenen Öffentlichkeit diesen Gewaltakt an der kleinen slawischen Brudernation hinzunehmen, obwohl der Zar genauso unschlüssig blieb wie sein Vetter (!) Wilhelm II. Mobilmachungen Russlands, in welcher Form auch immer, waren aber der Kulminationspunkt des Bedrohungsszenarios, das die deutschen Militärs seit Jahren aufgebaut hatten und die Politiker inzwischen insgesamt teilten: Sie wussten, dass der Erfolg des deutschen Kriegsplanes, des "Schlieffenplans", davon abhing, dass Russland erst zu einem Zeitpunkt in den Krieg eingreifen konnte, wenn Deutschland Frankreich schon nahezu besiegt hatte. Jeder Tag, den die Russen eher mit ihrem Aufmarsch fertig waren, bedeutete deshalb eine einschneidende Schwächung dieses sakrosankten Planes.

Reichskanzler Bethmann Hollweg war sich dieser Gefahr bewusst, wie er selbst vor dem Reichstag am 3. August 1914 bekundete, als er die Kriegserklärung erstmals rechtfertigte. Ab dem 28. Juli, dem Zeitpunkt, ab dem sich die Meldungen und Gerüchte von russischen Truppenzusammenziehungen, Teilmobilmachungen und Grenzübertritten massiv häuften, scheint er seine Politik darauf abgestellt zu haben, nunmehr nur noch die "innere Front" zu stabilisieren und Russland vor den Augen der bislang so kriegskritischen Sozialdemokratie und der gesamten Bevölkerung als alleinigen Kriegsverursacher aufzubauen. Diese Strategie war auf Dauer sehr erfolgreich: Die russische Mobilmachung als Begründung der deutschen war und blieb die unbedingte Voraussetzung des "Burgfriedens", nämlich der nachhaltigen Überzeugung der Deutschen, einen Verteidigungskrieg zu führen.

Tatsächlich verliefen die konfusen und zum Teil verzweifelten Verhandlungen der Mächte in den "letzten Stunden" der Krise ergebnislos, und alles spitzte sich auf die Frage zu, wer als erster die Mobilmachung befehlen würde. Dies war am 30. Juli eindeutig Russland, welches lange zwischen verschiedenen Formen von Teilmobilmachung geschwankt hatte, aber jetzt dem kategorischen Wunsch der Generäle nachgab, nicht länger zu zögern – auch die Russen wussten um die Nachteile einer späten Mobilmachung im erwarteten "kurzen Krieg". Damit war das deutsche Bemühen erfolgreich, Russland als Schuldigen am Ausbruch des Weltkrieges anprangern zu können.

Schuldfrage

Wer war schuld? Zweifellos hat die unverantwortliche Erpressungs- und Bluffpolitik der deutschen Regierung den größten Anteil an der Entfesselung des Krieges. Aber nicht allein die Deutschen trugen die Verantwortung für die bis ins Unerträgliche gesteigerten Spannungen der Vorkriegszeit. In der Kriegsschulddebatte nach dem Ersten Weltkrieg hat der französische Historiker und Pädagoge Jules Isaac abschließend folgendermaßen geurteilt: Der Krieg sei gekommen, weil für keine der beteiligten Nationen der Frieden das höchste Gut gewesen sei. Hinter dieser lakonischen Feststellung verbirgt sich die tiefe Einsicht, dass den Politikern von 1914 trotz mancher Vorahnungen ein (zeitlich wie räumlich begrenzter) europäischer Krieg als durchaus noch machbar erschien.

Man hatte vom Gaskrieg keine Vorstellung, genauso wenig wie von flächendeckender schwerer Artillerie, von Tanks oder Bomben werfenden Flugzeugen. Der Krieg, wie er 1914 begann, hatte mit dem von 1916 bis 1918 wenig zu tun. Der preußische General und Militärtheoretiker Carl von Clausewitz sah dies hundert Jahre zuvor voraus, als er urteilte, dass Krieg immer ein "Chamäleon" sei, und "absolut" werde, wenn er nicht mehr von der Politik gesteuert werde. Genau das zeigte sich dann im Zeitalter der Millionenheere und der ungeheuren industriellen Produktivität der europäischen Gesellschaften auch für den "Großen Krieg".

Fussnoten

Fußnoten

  1. Eine berühmte Abrechnung mit diesem Denken in: Norman Angell, The Great Illusion, London 1910; vgl. auch Johann von Bloch, Die wahrscheinlichen wirtschaftlichen und politischen Folgen eines Krieges zwischen Großmächten, Berlin 1901.

  2. Vgl. Gerd Krumeich, Aufrüstung und Innenpolitik in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg, Wiesbaden 1980, Kap. 1; David Stevenson, Armaments and the Coming of War, Europe 1904 to 1914, Oxford 1996; Jack Snyder, The Ideology of the Offensive. Military Decision Making and the Disasters of 1914, London 1984.

  3. Vgl. Der Weltkrieg, hrsg. v. Reichsarchiv, Berlin 1930, Bd. 1, S. 217.

  4. Vgl. Die Bedeutung großer Armeemanöver, in: Die Grenzboten, 70 (1911), S. 340–353.

  5. Vgl. Kriegschirurgie, in: Deutsche Revue, 38 (1913), S. 226–235, S. 347–358; Über den heutigen Stand der Kriegschirurgie, in: Illustrierte Zeitung vom 24.10.1912.

  6. Vgl. Julius Hoppenstedt, Die Schlacht der Zukunft, Berlin 1907.

  7. Vgl. Jost Dülffer, Kriegserwartung und Kriegsbild in Deutschland vor 1914, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg, München 1994, S. 778–798; Ignatius F. Clarke, Voices Propheseying War, 1763–1984, London 1966.

  8. J. Hoppenstedt (Anm. 6), S. 228.

  9. Zum Begriff der "Feuerwalze" vgl. Gerd Krumeich, Der Erste Weltkrieg. Die 101 wichtigsten Fragen, München 2014, S. 122.

  10. Alfred Graf v. Schlieffen, Der Krieg der Gegenwart, in: Deutsche Revue, 34 (1909), S. 13–24.

  11. August Bebel, Rede im Deutschen Reichstag, November 1911, zit. nach: Wolfgang J. Mommsen, Der Topos vom unvermeidlichen Krieg, in: Jost Dülffer/Karl Holl (Hrsg.), Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914, Göttingen 1986, S. 194–224, hier: S. 205.

  12. Für eine ausführliche Darstellung vgl. Gerd Krumeich, Juli 1914. Eine Bilanz, Paderborn 2013, S. 44ff.

  13. Vgl. ebd.

  14. Vgl. ebd., S. 47.

  15. Vgl. Christopher Clark, Die Schlafwandler, München 2013; Stephen Schröder, Die englisch-russische Marinekonvention, Göttingen 2006.

  16. Vgl. Bernd Sösemann (Hrsg.), Theodor Wolff. Tagebücher 1914–1919, Boppard 1984, S. 63ff. Wolff war Chefredakteur des "Berliner Tageblatts" und stand im engen Kontakt mit dem Auswärtigen Amt.

  17. Protokoll der Sitzung, in: G. Krumeich (Anm. 12), S. 225–237, hier: S. 234.

  18. Dok. Nr. 2, in: G. Krumeich (Anm. 12), S. 212.

  19. Gemeint sind die Thesen des Historikers Fritz Fischer, siehe dazu den Beitrag von Annika Mombauer in diesem Heft (Anm. d. Red.).

  20. Theobald von Bethmann Hollweg, Rede im Deutschen Reichstag, 4.8.1914, in: Weißbuch. Vorläufige Denkschrift und Aktenstücke zum Kriegsausbruch, o.O., 1914, S. 54.

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Dr. phil., geb. 1945; Prof. em. für Neuere Geschichte und Leiter der Max-Weber-Gesamtausgabe an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Universitätsstraße 1, 40225 Düsseldorf. E-Mail Link: krumeich@phil.hhu.de