Als im Mai 2013 der sechste Integrationsgipfel der Bundesregierung zu Ende ging, sorgten einige selbstkritische Sätze der Bundeskanzlerin für einen Tabubruch im öffentlichen Reden und Nachdenken über Migration in Deutschland. Sie stellte das integrationspolitische Leitparadigma zur Debatte und lud ein, nach anderen Begriffen zu suchen, die mehr auf Teilhabe und Partizipation verweisen. Denn, so zitierte "Die Welt": "Für viele Zuwanderer stelle sich die Frage, ‚wann ist man endlich integriert‘? (…) Sie könne sich durchaus vorstellen, dass sich manche Migranten fragten: ‚Was soll ich jetzt noch machen? Ich habe Deutsch gelernt, ich habe einen deutschen Pass (…), was muss ich tun, damit ich als integriert wahrgenommen werde?‘"
Unter "Repräsentationsregime um Differenz und Andersheit" verstehen wir "das gesamte Repertoire an Bildern und visuellen Effekten, durch das ‚Differenzen‘ in einem beliebigen historischen Moment repräsentiert werden".
Mit der Chiffre "postmigrantische Gesellschaft" verweisen wir auf die politischen, kulturellen und sozialen Transformationen von Gesellschaften mit einer Geschichte der postkolonialen und der Gastarbeiter-Migration. Für die Geschichte und Gegenwart von Einwanderungsgesellschaften wie die Deutschlands sind diesbezüglich insbesondere die Transformationen durch die Kämpfe um ein Recht auf Einbürgerung bedeutsam, das viele der ehemaligen Migrantinnen und Migranten inzwischen zu Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern macht. Der Begriff postmigrantisch versucht nicht, die Tatsache der Migration zu historisieren, sondern beschreibt eine Gesellschaft, die durch die Erfahrung der Migration strukturiert ist, was auch für alle aktuellen Formen der Einwanderung (wie Flucht, temporäre Migration) politisch, rechtlich und sozial bedeutsam ist. Auch wenn es schwierig ist, Postmigration im soziologischen Sinne zu definieren, so treten überall im Alltag so etwas wie postmigrantische Situationen auf, die dementsprechend die lebensweltliche Seite dieser Verhältnisse zum Ausdruck bringen: postnationale Wahrnehmungs- und Handlungsräume von Biografien, deren Selbstverhältnisse sich nicht unbedingt auf eigene Migrationserfahrungen beziehen, jedoch zwischen Mehrfachzugehörigkeiten und Mehrfachdiskriminierungen reflektiert und gelebt werden. Eine gegenwärtige Rassismusanalyse muss von dieser Realität ausgehen.
Rassismus verstehen wir als ein gesellschaftliches Verhältnis, das auf eine bestimmte Weise Menschen in hierarchische Beziehungen zueinander setzt. Der Rassismus organisiert die Gesellschaft entlang biologischer, ethnischer oder kultureller Gruppenzuschreibungen, wobei sich biologische und kulturelle Argumente häufig vermischen. Rassismus bezeichnet eine spezifische Verlaufsform sozialer Konflikte, in denen das Soziale tendenziell suspendiert wird zugunsten von Determinanten, die als dem menschlichen Handeln unzugänglich gelten wie Kultur, Biologie, Habitus.
Auch die Klärung des Verhältnisses zwischen Rassismus und rassistisch diskriminierten Menschen ist nicht einfach. Eine der großen sozialwissenschaftlichen Fragen in der internationalen Rassismusdebatte ist die, wie Gruppen konstituiert und anschließend rassistisch marginalisiert werden. Ein Blick in die Geschichte des Rassismus macht Willkür und Variabilität rassistischer Grenzziehungen sichtbar. So hat der postkoloniale Theoretiker Paul Gilroy nachgezeichnet, wie die Aufteilung von Bevölkerungen entlang rassistischer Hierarchien immer wieder gewaltvoll durchgesetzt werden musste, weil der Rassismus sich nie auf eine "natürliche Weise" gegen bestimmte Gruppen von Menschen richtet.
Eine historische Konstante ist dabei zu unterstreichen: Die rassistische Einteilung von Bevölkerungen geht mit der Einrichtung von Dominanzverhältnissen im Bereich der Arbeit und ihrer Mobilität einher.
Dies können wir auch an den aktuellen Konjunkturen des Rassismus nachvollziehen. Quer durch die Welt sind Konturen von Rassismen zu beobachten, die sich gegen Migrantinnen und Migranten und ihre Nachfahren richten. Rassismus präsentiert sich in verschiedenen, einander zum Teil überlagernden Formationen von offen rassistischer Gewalt bis hin zu subtilen Varianten eines institutionalisierten Rassismus. Mit institutionellem Rassismus werden Diskurse, Politiken und Praktiken von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen bezeichnet, die systematisch Ausgrenzung und Diskriminierung produzieren, ohne sich explizit und vorsätzlich rassistischer Begründungs- und Deutungsmuster zu bedienen. Die Hegemonie der Dominanzgesellschaft wird so sichergestellt, obwohl die Zuschreibungen und Verfahrensweisen als angemessen oder wertneutral erscheinen.
Rassistische Strategien in der Ära der postmigrantischen Gesellschaft operieren wesentlich fluider als jene des traditionellen Rassismus, der sich auf solche naturalisierenden Kategorien wie "Rasse" berief und über die offene und strukturelle Gewalt der Segregation und der Exklusion operierte. In Deutschland ist dies auch unter anderem im Zusammenhang mit den erfolgreichen Kämpfen der Migration zu sehen: Wurde die rassistische Diskriminierung von Migrantinnen und Migranten in den Zeiten der Gastarbeiteranwerbung noch vor allem über den Ausschluss von der deutschen Staatsangehörigkeit und den damit verbundenen Rechten organisiert, so hat sich dies geändert, vor allem nachdem im Jahr 2000 das Staatsangehörigkeitsrecht reformiert wurde. Ein großer Teil der Migrantinnen und Migranten und ihrer Nachkommen verfügt nun über die deutsche Staatsangehörigkeit.
Damit haben sich auch die rassistischen Diskurse und Praktiken verändert. Wurden früher beispielsweise Kinder nichtdeutscher Staatsangehörigkeit in sogenannten Ausländerregelklassen getrennt von deutschen Kindern unterrichtet, so ist diese Klasseneinteilung spätestens mit der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts obsolet geworden. Nichtsdestotrotz lässt sich an vielen Schulen eine Klasseneinteilung entlang der vermuteten Herkunft der Kinder feststellen, die nun aber anders gerechtfertigt wird: beispielsweise mit der nichtdeutschen Muttersprache der Kinder oder mit organisatorischen Abläufen wie einer Klassenbildung entlang der Teilnahme am muslimischen oder evangelischen/katholischen Religionsunterricht.
Die Rassismen der Gegenwart schwanken zwischen biologistischen und kulturalistischen Markierungen der Über- und Unterlegenheit. Sie lassen sich auch in Ideologien der Gleichheit und der Emanzipation wiederfinden.
Rassismus, Subjektivität und (Repräsentations-)Politik
Gemäß unserer Analyse erfolgt die rassistische Einteilung der Gesellschaft gewaltvoll und willkürlich. Den jeweils konstituierten Gruppen werden dabei unterschiedliche Zugänge zu Ressourcen (wie Arbeit, Wohnen, Gesundheit, Bildung) ge- oder verwehrt. Es werden unterschiedliche Lebensrealitäten geschaffen zwischen denen, die in diesem System marginalisiert werden, und denen, die davon profitieren. Diese Art der gesellschaftlichen Einteilung legt offensichtlich eine politische Organisierung gegen den Rassismus entlang dieser Linien nahe. Insbesondere die antirassistischen Organisationen, die sich im Zuge der Bürgerrechtsbewegungen in den USA und Großbritannien konstituierten, bauten auf der Idee kollektiver kultureller Identitäten auf. Diese speisten sich zum Teil aus der Annahme einer vorgestellten gemeinsamen kulturellen Herkunft, zum Teil erfolgte die Organisierung entlang der erfahrenen rassistischen Ausgrenzungen. Hall beispielsweise beschreibt sinnbildlich die Schwierigkeiten und Paradoxien von Differenzpolitik anhand seiner eigenen biografischen Erfahrungen: wie er als jamaikanischer Einwanderer in England zum "Schwarzen" wurde – eine Bezeichnung, die er zuvor niemals für sich verwendet hätte – und wie Schwarzsein beziehungsweise Schwarze Identität zum Kristallisationspunkt antirassistischer Kämpfe im England der 1960er und 1970er Jahre wurde.
Hier kommen wir zum komplizierten Zusammenhang von Rassismus, Subjektivität und Politik: Die politische Organisierung und Subjektivierung entlang rassistischer Ausschlüsse hat durchaus ihre Fallstricke und Grenzen, da es keine einfache Entsprechung zwischen Erfahrung von Rassismus und antirassistischer Repräsentationspolitik gibt.
Hierbei geht es nicht darum, das Prinzip des strategischen Essenzialismus per se zu problematisieren. In der Geschichte der Kämpfe um Teilhabe, Gleichheit und Freiheit ist die Strategie des consciousness raising, des Sichtbarmachens eines die Gesellschaft durchziehenden Ungleichverhältnisses, nicht neu (die Geschichte der "zweiten Frauenbewegung" in Deutschland ist ein historisches Beispiel). Das Thematisieren und Problematisieren der Verhältnisse ist immer Teil emanzipatorischer Politik. In diesem Sinne hat auch die Frage der Autonomie eine große Rolle gespielt, also das Schaffen von Wissens- und Politikformen, in denen ein gesellschaftliches Unterdrückungsverhältnis artikuliert wird. Die Vision autonomer politischer Organisationsstrukturen für und von Migrantinnen und Migranten, Schwarzen Deutschen, Geflüchteten oder Menschen ohne Papiere hat eine lange Geschichte in Deutschland.
Dass Repräsentations- beziehungsweise Differenzpolitik auch durch identitätspolitische Konflikte innerhalb der eigenen Communities entsteht, zeigen die vielen und unterschiedlichen Praktiken antirassistischer Kämpfe: Rassistisch Diskriminierte setzen sich im Rahmen der Gewerkschaften gegen Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt ein, versuchen differenzpolitisch zu passen, das heißt nicht als migrantisch erkannt zu werden und damit der Diskriminierung zu entgehen, fordern über Kultur- und Moscheevereine die Anerkennung der eigenen kulturellen Identität ein oder skandalisieren den Rassismus in ihren Herkunftsländern wie dies mit den Besetzungen deutscher Autobahnen durch kurdische Aktivistinnen und Aktivisten Anfang der 1990er Jahre erfolgte.
Die lange Geschichte antirassistischer Kämpfe zeigt, dass die Subjektivierung im Kontext von Rassismuserfahrung nicht in festgelegten, vorhersehbaren Formen des Politischen mündet. Diese Kontingenz der Nicht-Entsprechung von rassistischer Erfahrung und politischer Subjektivierung ist es, welche die Organisierung entlang der eigenen Rassismuserfahrungen nur als eine Möglichkeit des antirassistischen Kampfes erscheinen lässt. Daneben gibt es eine lange Geschichte der strategischen Allianzen und Kooperationen zwischen Aktivistinnen und Aktivisten mit und ohne Rassismuserfahrungen – vom Kampf gegen die Sklaverei über die Schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA, den Kampf für die Abschaffung der Apartheid in Südafrika bis hin zu den aktuellen Protesten Geflüchteter in Deutschland.
Denn Politiken gegen Rassismus können auch von denen mitgetragen werden, die selbst nicht von Rassismus betroffen sind beziehungsweise von Rassismus in Form von Privilegien profitieren. Wenn aber eine gemeinsame antirassistische Politik grundsätzlich als unmöglich deklariert wird aufgrund der unterschiedlichen Erfahrungen in und mit rassistischen Verhältnissen, so ist eine Stabilisierung rassistischer Semantiken entlang identitätspolitischer Linien oder erinnerungspolitischer Opferkonkurrenzen nicht auszuschließen. Eine solche politische Haltung ist auch problematisch gegenüber den oft sehr komplizierten und ambivalenten Biografien derer, die nicht eindeutig als "of Color" oder als "Weiß" zugeordnet werden können oder wollen. Denn wer und auf welche Weise durch Rassismus marginalisiert und wer privilegiert wird, ist angesichts einer Vielzahl rassistischer Diskurse und Ausschlüsse, die oft quer (aber nicht unabhängig) zu Fragen von Staatsangehörigkeit oder Hautfarbe liegen, nicht leicht zu entscheiden.
Wir haben weiter oben vorgeschlagen, Repräsentationspolitik als ein Vehikel der Machtkritik und des Einklagens von ausgleichenden Maßnahmen gegen etablierte Machtverhältnisse zu analysieren. Repräsentationspolitik unterliegt darum immer einem Paradox: Einerseits werden die Teilungslinien, die der Rassismus in die Gesellschaft einzieht, zum konstitutiven Ausgangspunkt der Politik gegen den Rassismus; andererseits kann rassistische Diskriminierung nur dann thematisiert werden, wenn das Kriterium, entlang dessen der rassistische Ausschluss erfolgt, benannt wird. Hannah Arendt brachte es zur berühmten Formel: "daß man sich immer nur als das wehren kann, als was man angegriffen ist".
Verdeutlichen lässt sich dieses repräsentationspolitische Paradox am Streit um den Begriff "Migrationshintergrund". Während Befürworterinnen und Befürworter dieses Begriffs auf seine Notwendigkeit hinweisen, um die Diskriminierung auch der Kinder und Enkel von Migrantinnen und Migranten sichtbar machen zu können, kritisieren seine Gegnerinnen und Gegner, dass damit die Nachkommen ehemaliger Migrantinnen und Migranten über Generationen hinweg aus der deutschen Gesellschaft hinausdefiniert werden. Die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) forderte zur Bundestagswahl 2013 die offizielle Anerkennung Schwarzer Menschen als Gruppe, um die sie betreffenden spezifischen Ausschlüsse überhaupt erheben und erforschen zu können. Dies setzt aber die politisch nicht leicht vorzunehmende Definition voraus, wer überhaupt zur Gruppe Schwarzer Menschen gehört.
Die Orientierung an rassistischen Einteilungen ist sicherlich ein Problem. Gleichwohl ist es gerade in der aktuellen Konjunktur des Rassismus, die mit egalitären und emanzipatorischen Diskursen operiert, wichtig, diese Einteilungen sichtbar zu machen. Ansonsten droht die Verschleierung der Tatsache des rassistischen Ausschlusses. Repräsentationspolitik per se ist aber keine Garantie für effektive Politiken gegen Rassismus. Viele Migrantinnen und Migranten aus muslimischen Ländern beispielsweise bezeichnen und identifizieren sich inzwischen (unabhängig vom Grad ihrer praktizierten Religiosität) nicht mehr als Türkinnen oder Libanesen, sondern als Muslime. Sie tun dies, weil sie im politischen und öffentlichen Diskurs als Muslime adressiert werden. Da Muslimsein mit negativen Stereotypen verbunden wird, führt die Fremdzuschreibung als Muslim in besonderer Weise dazu, dass sich die so adressierten gezwungen fühlen, sich innerhalb der semantischen Ordnung der Stereotypisierung zu erklären, um dem negativen Bild auf diese Weise der Repräsentation ihrer Lebensverhältnisse im Kontext des antimuslimischen Rassismus etwas Positives entgegenzusetzen.
Schließlich hat auch der repräsentationspolitische Fokus auf die Anwesenheit und Sichtbarkeit rassistisch diskriminierter Menschen in den Regeleinrichtungen an sich keine Aussagekraft. Beispielsweise wird in Berlin aktuell Segregation an Schulen diskutiert, die Tatsache also, dass es Schulen gibt, die überproportional stark von Kindern mit Migrationshintergrund besucht werden, und andere, an denen der Anteil herkunftsdeutscher Kinder deutlich höher ist als der des Einzugsgebietes. Die schulische Segregation entlang der vermeintlichen Herkunft ist Ausdruck eines Rassismus und muss darum selbstverständlich politisch bekämpft werden. In der aktuellen Diskussion allerdings wird zumeist nur über die prozentual angemessene "Mischung" von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund diskutiert. Das der Segregation zugrunde liegende eigentliche Problem, die seit Jahrzehnten bereits nachgewiesene institutionelle Diskriminierung nicht-herkunftsdeutscher Kinder,
Die postmigrantische Gesellschaft zeichnet sich also nicht nur durch eine veränderte Repräsentation gesellschaftlicher Diversität aus. In ihr finden wir zudem den kulturellen und lebensweltlichen Ausdruck einer postnationalen gesamtgesellschaftlichen Transformation, in der die Teilhabe- und Partizipationsrealitäten durch die Migration neu verhandelt werden. In unseren Augen stellen postmigrantische Gesellschaften dabei auch Spannungsräume dar, in denen ein Potenzial für die Erschaffung neuer Rechte entsteht, das gesamtgesellschaftlich wirkt und auf das Erfinden von Rechtsprechungen und Gerechtigkeitsordnungen jenseits der Politik der Staatsbürgerschaft zielt. Gleichzeitig kommt es zu einer Neuformation rassistischer Ein- und Ausschlüsse sowie zu neuen Formen der Repräsentation der Migration, was eine aktualisierte Rassismusanalyse notwendig macht. Eine interdisziplinär ausgerichtete kritische Migrationstheorie und Rassismusanalyse ist unserer Ansicht nach gefordert, zu einer Soziologie und Politik postmigrantischer Gesellschaften beizutragen.
Dieser Text ist hervorgegangen aus gemeinsamen Diskussionen mit Serhat Karakayali, Sabine Hess, Annita Kalpaka, Brigitta Kuster und Marianne Pieper sowie mit unseren Kolleginnen aus dem Netzwerk kritische Wissensproduktion in der postmigrantischen Gesellschaft, Iman Attia, Naika Foroutan, Viola Beatrix Georgi, Urmila Goel, Yasemin Shooman, Riem Spielhaus, Gökce Yurdakul und Birgit zur Nieden.