Nur die letzten drei, vier Wochen zählen vor der Wahl. Aber schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Europaprotestbewegung diesen Wahlkampf beherrschen wird – er wird eindeutig die Negativa Europas zum Vorschein bringen. Die jüngste Abstimmung der Schweizer zugunsten der Begrenzung der Zuwanderung lässt die Stimmung erahnen, die sich die Rechtspopulisten bei der EU-Wahl zunutze machen werden. Die Reaktionen aus Betroffenheit und Unverständnis auf das Schweizer Ergebnis werden sich Ende Mai mit Verstärkereffekt wiederholen.
Dem Vernehmen nach könnte sich die italienische Delegation im Europaparlament zu einem großen Teil aus Populisten, Extremisten und Faschisten zusammensetzen, in Frankreich wird voraussichtlich der Front National die meisten Stimmen auf sich vereinen. In zahlreichen anderen Ländern ist unberechenbar, wie viele Menschen der EU einen Denkzettel verpassen wollen. Es scheinen vor allem diejenigen motiviert zu sein, sich an der Wahl zu beteiligen, die gegen Europa sind. Aber ein entsprechendes Wahlergebnis könnte heilsame Wirkung haben. Im Vergleich zu anderen Ländern ist Deutschland mit seinen Europagegnern noch ein Hort der Stabilität. In diesem Sinne mag die Alternative für Deutschland (AfD) als Geschenk betrachtet werden. Der Auftrieb der Euroskeptiker verschafft die Möglichkeit, klar darzustellen, welches Europa wir eigentlich wollen.
Ein Spaziergang wird das nicht bis zur Wahl am 25. Mai 2014. Eine lange Liste von Stressfaktoren, etliche Großbaustellen und manche Minenfelder säumen die Strecke: nicht nur die Schuldenkrise (die für junge Europäerinnen und Europäer schon zum Identifikationsmerkmal der EU geworden ist, jenseits vom Reisen im Schengenraum, vom Studieren mit Erasmus-Programm, vom Zahlen mit gemeinsamer Währung), auch nicht nur die Energiepolitik, der Klimaschutz und das fragil gewordene transatlantische Verhältnis mit NSA-Abhörskandal einerseits und Freihandelsabkommen andererseits.
Im Folgenden werde ich einige der Stressfaktoren skizzieren, die über die Dauerprobleme, über die täglich in den Medien berichtet wird, hinausgehen. Handlungs- und Diskussionsbedarf besteht in vielen Feldern. Doch leider verabschiedet sich die Kommission gerade jetzt für sehr lange Zeit. Nach der Europawahl wird es wohl fast bis zum Ende des Jahres dauern, bis die neuen Leute in den Institutionen ihre Arbeit aufnehmen können. Allein die fast einjährige Vakanz in der Leitung der EU-Vertretung in Berlin ist mehr als unglücklich.
Suche nach dem Narrativ
Europa ist längst nicht mehr in der visionären Phase. Es ruft keine originäre Begeisterung mehr hervor. Das Friedensargument allein scheint nicht mehr zu ziehen. Die Vorteile von Freizügigkeit und Wirtschaftsaustausch reichen nicht mehr aus, und manche glauben, eine neue sinngebende, begeisternde Erzählung finden zu müssen. Die Finalität der Union, also die "endgültige Ausgestaltung des europäischen Einigungsprojekts" (wie es in einem Europalexikon von 2013 heißt), ja sogar jede Debatte darum, ging irgendwo im Nebel verloren.
Was ist eigentlich die Europäische Union? Was sind die Kernbegriffe, die Europa ausmachen? Welche zählen davon heute noch? Was ist der Kern Europas? Und was ist Kerneuropa? Was bringt uns Europa eigentlich? Ist Europa nur noch gleichzusetzen mit Euro-Krise? Wo ist Europas Platz in der Welt? Was sind die europäischen Interessen? Was wollen die Europäer? Wo stehen wir? Und was wollen die Deutschen?
Wer das Narrativ sucht, macht sich selbst und anderen Stress und landet in der Sackgasse. Woher soll es denn kommen? Ausgerechnet aus Deutschland, wo die Krise am wenigsten zu spüren ist, oder ausgerechnet aus den krisenbefallenen Staaten? Erinnert sich jemand noch daran, wie sich die US-Amerikaner über die "Eurosklerose" lustig machten? Und wie die Schaffung des Binnenmarktes sowohl die Amerikaner als auch die Russen nervös machte, weil sie eine "Festung Europa" befürchteten und meinten, Europa werde deren Produkte ausschließen?
Das Narrativ muss von selbst entstehen – wenn überhaupt, denn das alte Narrativ gilt immer noch. Es muss nicht aufgegeben, sondern besser erklärt werden. Und die Europäische Union wird keinesfalls besser, nur weil ihr eine passende Erzählung eingezogen wird. Und was hilft ein Narrativ, ein großer Wurf, wenn in der Politik der kleinen Schritte an einem gerade aktuellen Problem herumgedoktert wird? Außerdem: Das Narrativ allein genügt nicht. Es muss medial wirksam übertragen werden, nicht zu sachlich, nicht zu trocken, nicht zu komplex.
Darüber hinaus ließe sich grundsätzlich die Frage danach stellen, ob Europa überhaupt so eine gemeinsame Erzählung braucht. Hat die Europäische Union wirklich keine anderen, wirklichen Sorgen, als dass sie ein Narrativ suchen zu müssen glaubt?
Geringe Wahlbeteiligung
Europawahlen haben traditionell eine niedrige Wahlbeteiligung, die politischen Werbebotschaften sind bislang kaum wahrnehmbar. Man muss sich darauf gefasst machen, dass die Europäische Union auch bei der diesjährigen Wahl eine kräftige Ohrfeige bekommt, eine Art wake-up-call – was ihr nicht schaden würde. Spätestens da müssten die Europäer aufwachen.
Viele von ihnen sprechen häufig von den demokratischen Defiziten in der Union. Das Europaparlament aber wäre genau das Instrument, mit dem man das ändern könnte. Man könnte zum Beispiel überlegen, unter Umständen eine zweite Kammer einzurichten, in die jedes Land unabhängig von seiner Größe die gleiche Anzahl an Repräsentanten entsendet – ähnlich wie der Senat im US-amerikanischen Kongress. Wer das demokratische Defizit aufheben will, sollte dem Europäischen Parlament den Rücken stärken.
Ebenso wenig hilfreich für eine höhere Wahlbeteiligung ist der Umstand, dass die großen wirtschaftlichen Themen bislang nicht mit dem Europaparlament in Verbindung gebracht werden. Und die großen außenpolitischen Themen sind für die meisten Wählerinnen und Wähler ohnehin weit weg. Sie wollen vor allem die Gewissheit haben, dass ihr Geld nicht "verheizt" wird und dass Europa beziehungsweise der Euro aus der Krise herauskommt. Die Wahlkämpfer sollten also wissen, dass sie Europa nicht idealisiert darstellen sollten, das wäre kontraproduktiv. Inhalte und Aufgaben gäbe es genug. Die komplexen Themen aber im Wahlkampfmodus interessant auf die Straße zu bringen, wird sehr viel Fantasie erfordern.
Gemeinsame Außenpolitik?
Die Amtszeit der ersten EU-Außenbeauftragten, Catherine Ashton, und die des ersten ständigen Präsidenten des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, neigen sich ihrem Ende zu. Beiden ist nur teilweise gelungen, die anfänglich extremen Vorbehalte gegen sie zu widerlegen. Ashton fiel erst relativ spät mit Initiativen in der Ukraine und Engagement auf dem Westbalkan auf. Von einer Antwort auf die berühmte Kissinger-Frage nach der Telefonnummer Europas ist die Europäische Union noch immer weit entfernt.
Der von Ashton aufzustellende Europäische Auswärtige Dienst (EAD) hat noch zu viele Reibungsverluste. Er hat immer noch Mühe, sich zurechtzufinden, und steht überdies in starken institutionellen Konkurrenzen, vor allem zur Kommission selbst. Der EAD sollte seinem Auftrag gemäß die Außenpolitik gestalten, aber diese Kompetenz findet sich auch im Auftrag der Kommission. Unter anderem gibt es große Überschneidungen mit dem Aufgabenbereich des Erweiterungskommissars.
Ashtons Nachfolgerin oder Nachfolger wäre zu wünschen, dass sie oder er das Amt mit etwas mehr drive ausübt und bisweilen stärker durchgreift, um die Zusammenarbeit in der Union effizienter zu gestalten. Neue Strategien sollten eben nicht nur besprochen und entwickelt, sondern auch umgesetzt werden, während rund um Europa große strategische Veränderungen vor sich gehen. Zu oft wirkt die Europäische Union hilflos, um auf Umbrüche und Paradigmenwechsel zu reagieren. Der oder die Außenbeauftragte sollte viel öfter in Vorlage gehen und die Verantwortung und die Führung übernehmen, auch wenn nicht alle mit allem einverstanden sind. Denn wer sich mit 28 EU-Außenministerinnen und -ministern abstimmen muss, wird ohnehin nie alle zufriedenstellen können.
Die Ukraine bietet Ashton die Möglichkeit, ihr Meisterstück abzulegen, bevor sie demnächst aus dem Amt scheidet. Sie muss jetzt auf nichts mehr Rücksicht nehmen, kann sich mutig engagieren. Ansätze gibt es. Seit Anfang des Jahres 2014 ist die Europäische Union in Sachen Ukraine stärker als bisher mit einer gemeinsamen Stimme vernehmbar. Auch deswegen, weil sich Berlin und Paris bewusst zurücknehmen, um den Eindruck zu vermeiden, die Angebote der Europäischen Union an Kiew seien deutsche oder französische Initiativen.
Auch wenn gewiss sehr viel mehr geschieht, als in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird: Die Europäische Union ist noch zu wenig in der Außenpolitik angekommen. Sie wird wohl noch lange nicht die Stelle der Außen- und Sicherheitspolitik der einzelnen Staaten einnehmen, bestenfalls etwas ergänzen. Im Gegenteil: Die Finanz- und Staatsschuldenkrise hat die gemeinsame Außenpolitik sogar spürbar desolidarisiert.
Viele Gipfel, wenige Ergebnisse
Auch Ratspräsident Van Rompuy bestätigte leider die anfänglichen Vorbehalte, die seinen Amtsantritt 2009 begleiteten. Er beendete die jahrzehntelange Praxis, zu den EU-Gipfeln der Staats- und Regierungschefs auch die jeweiligen Außenminister hinzuzubitten. Wie sich jedoch zeigt, könnten die Staats- und Regierungschefs die Unterstützung ihrer Außenminister durchaus brauchen. Der erwünschte Effekt, nämlich die Gipfel effizienter zu gestalten, ist ausgeblieben. Die Gipfeltreffen sind nicht spektakulärer, sondern inhaltsleerer geworden und befinden sich im Prozess schleichender Entwertung. Reformvorhaben verkümmern nicht selten zu Absichtserklärungen und werden auf die lange Bank geschoben.
Immer mehr Gipfel, immer weniger Output: Diese unbefriedigende Situation birgt die Gefahr, dass sich neben den Gipfelkonferenzen mit dem engen Korsett wieder informelle Gruppen bilden, in denen die Staats- und Regierungschefs die eigentlichen Absprachen treffen. Transparenz geht anders. Es steht zu befürchten, dass der nächste "Hohe Repräsentant" wieder nicht nach außenpolitischer Kompetenz ernannt, sondern nach Kriterien wie Herkunft, Geschlecht und natürlich Parteizugehörigkeit ausgesucht wird. Allerdings: Der EU-Apparat würde vermutlich auch ohne seine Spitze weiter funktionieren.
Dass die Kommission verschlankt werden muss und nicht jeder Mitgliedsstaat einen Kommissar haben kann, sollte eine wichtige Erkenntnis der zu Ende gehenden Legislaturperiode sein. Die Institutionen der Europäischen Union sind zu kompliziert geworden und müssen klarer strukturiert werden, sodass Widersprüche und überlappende Kompetenzen möglichst ausgeschlossen sind. Es bringt nichts, wenn die Kommissare für kleine Bereiche verantwortlich sind, die sie mit irgendeiner Aktivität aufwerten wollen, um sich zu rechtfertigen.
Dabei ist auch in Brüssel im Prinzip bekannt, wie es geht: big on the bigger things, small on the smaller things. Trotzdem enttäuscht die Kommission immer wieder mit ungünstigem Timing: Wie kann man sich, frage ich etwas polemisch, auf dem Höhepunkt wochenlanger Debatten über die NSA-Abhöraffäre, wo man gern eine starke Stimme aus Europa in Richtung USA gehört hätte, nach langer Funkstille mit einer Staubsaugerverordnung zu Wort melden?
Deutschlands Führungsrolle
Deutschland muss sich immer wieder vorhalten lassen, es spiele seine politische und wirtschaftliche Stärke aus und trete wie ein Oberlehrer auf. Dass Deutschland Führung beziehungsweise Verantwortung übernommen hat und sein Einfluss weiter zunimmt, war früher schier undenkbar. Nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Wiedervereinigung war der Ursprungsgedanke der europäischen Integration, Deutschland einzubinden, oder besser noch: eine freiwillige deutsche Selbstbindung zu erreichen. Wie präsent die Ängste der europäischen und außereuropäischen Partner vor dem wiedervereinigten, mutmaßlich großmannssüchtigen, wirtschaftlich erstarkten, politisch dominierenden Deutschland noch immer sind, hat die jüngste Vergangenheit gezeigt.
Doch der "Spirit of Berlin" ist mittlerweile zu einem Kiez-Gespenst geworden, das mit dem Spuk um den Hauptstadtflughafen, dessen Eröffnung noch immer nicht absehbar ist, weltweiten Schaden für das Label "Made in Germany" verursacht – dies aber selbst nicht merkt. Der Bundesrepublik insgesamt wird die früher gefürchtete Führungsrolle geradezu aufgedrängt. Schwaches Agieren an der Spitze der Europäischen Union und gleichzeitig ein nicht rund laufender deutsch-französischer Motor, begleitet von den mit sich selbst beschäftigten Krisenländern und von desinteressierten, euroskeptischen Nachbarländern – das zwingt Deutschland zunehmend Entscheidungen auf, die es für den Rest der Union treffen muss. Oft genug wird nicht mehr in Brüssel, sondern schon im Vorfeld in Berlin entschieden.
Deutschland geht mit seiner Rolle – für viele überraschend – besonnen um. Für die zuschauenden Partner vorerst eine bequeme Situation: Die Deutschen werden vorgeschickt, doch wenn es dann doch schief oder nicht im Sinne aller läuft, braucht man bloß auf Berlin zu zeigen. Auf die Dauer wird dies die Bundesrepublik überfordern. So kann eine Gemeinschaft nicht bestehen.
Schwächelnde Partner
Die berühmte deutsch-französische Achse befindet sich seit Längerem in der Werkstatt. Aber ohne Frankreich und Deutschland läuft in Europa nichts. Horst Teltschik, der frühere Chef der Münchner Sicherheitskonferenz und einstige außenpolitische Berater von Helmut Kohl, beschrieb jüngst im Interview mit "Euractiv.de" die Abhängigkeit Europas von der Achse Paris–Berlin: "Es gab immer diese Ambivalenz: Wenn sich Deutschland und Frankreich einig waren, sahen die anderen gar keine Alternative. Und umgekehrt: Haben sie sich aber nicht geeinigt, hieß es sofort: Wenn ihr euch nicht einigt, dann läuft doch überhaupt nichts."
Indizien deuten auf eine engere Zusammenarbeit hin, wenigstens in der Außenpolitik. Die Außenminister beider Länder, Frank-Walter Steinmeier und Laurent Fabius, planen mehrere gemeinsame Reisen, die in die Ukraine war der Anfang. Sogar das Weimarer Dreieck (Berlin, Paris, Warschau) soll – zum wievielten Mal eigentlich schon? – wiederbelebt werden. Eine heikle Sache: Während Deutschland und Polen in der Östlichen Partnerschaft stark engagiert sind, hält sich Frankreich zurück. Nun soll versucht werden, Paris auch hier einzubinden. Umgekehrt legt Frankreich größten Wert darauf, dass die deutsch-französischen Beziehungen nicht im Weimarer Dreieck aufgehen, sondern die Dreierbeziehung mit Polen nur als Ergänzung dient. Darin ist immerhin der Ehrgeiz erkennbar, die deutsch-französische Achse zu reparieren.
Ob nach den Reformankündigungen des Präsidenten François Hollande und mit den Initiativen Steinmeiers eine neue Dynamik zu erwarten ist und die Beziehungen intensiviert werden, muss sich erst bestätigen. Hollande ist wie gelähmt, der Front National sitzt ihm im Nacken. Die Einstellungen gegenüber Europa ändern sich in Frankreich massiv zum Negativen.
Frankreich wird vor der Europawahl keine größeren Reformanstrengungen beginnen. Hollande muss befürchten, dass die Wahl zu einer Abrechnung auch mit ihm wird. Das war auch bei seinem Vorvorgänger Jacques Chirac zu erleben, als es 2005 in einem Referendum um die Europäische Verfassung ging, desgleichen im selben Jahr in den Niederlanden: Die Bevölkerungen haben damals nicht allein gegen die EU-Verfassung gestimmt, sondern vor allem gegen ihre jeweilige nationale Regierung. Das kann Hollande nun auch passieren.
Wenn die Problematik mit den "klassischen" Krisenländern überwunden sein wird, kommen dann die Briten als nächstes Krisenthema? Ist die Dynamik, die in Großbritannien im Gange ist, unvermeidbar? Wohin geht die Reise der Briten? Driften die Insel und der Kontinent im Kanalnebel immer weiter auseinander? Was können Berlin und Brüssel tun, um die Briten zu halten? Hat Europa genug hingehört? Viele Fragen, die aus London kommen, sind berechtigt. Es wäre auf beiden Seiten Zeit für eine Entdämonisierung. Wenn die Briten die EU verlassen wollen, sollen sie es tun. Im Interesse der Europäischen Union wäre es nicht – den Freihandel und Binnenmarkt aufrecht zu erhalten, würde äußerst schwierig. Im Interesse des Vereinigten Königreiches wäre es jedoch ebenso wenig.
Andauernde Krise in Südeuropa
Im Sparen scheinen die Krisenländer Südeuropas allmählich erfolgreich zu sein – aber nicht in Strukturreformen. Was auf dem Papier erfolgreich aussehen mag, hat sich bislang noch nicht ausgezahlt. Zu oft wurde bloß die Fassade hergerichtet, um die EU-Kontrolleure zufriedenzustellen, dahinter tat sich zu wenig. Die Krisenländer wurden teilweise zu immer größerer Unselbstständigkeit erzogen. Die Folge ist ein Vertauensverlust, der wiederum zur Folge hat, dass zu wenig investiert wird.
Vor allem Griechenland scheint in den Augen vieler Beobachter ein hoffnungsloser Fall zu sein. Die meisten Reichen zahlen weiterhin kaum oder keine Steuern – und werden von den Parteien geschützt, weil alle Parteien "ihre" Reichen haben. Die harten Maßnahmen, welche die kleinen Leute in Hellas treffen, würden in Deutschland zu anhaltenden Massendemonstrationen führen. Die Aufregung nach den Hartz-IV-Reformen wäre damit nicht zu vergleichen. Dass die Proteste in Griechenland mittlerweile abgeebbt sind, ist immerhin etwas Erreichtes.
Wer aber daran denkt, die Griechen aus der Euro-Zone auszuschließen, müsste konsequenterweise auch das Saarland, Bremen und Berlin aus der Bundesrepublik ausschließen. Auch sie sind "hoffnungslose Fälle" und wären allein nicht lebensfähig.
Hilfspakete für Krisenländer müssten auch in Deutschland besser kommuniziert werden. Die Bundesrepublik ist zur Zeit wirtschaftlich zwar robust, aber gleichzeitig eines der verwundbarsten Länder in Europa. Wenn Deutschland zu sechzig Prozent in den europäischen Binnenmarkt exportiert, ist es von der Kaufkraft der Mitgliedsländer abhängig. Länder, die von Krise und Arbeitslosigkeit regiert werden, werden den Deutschen nichts mehr abkaufen können.
Vor allem die extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit in den südeuropäischen EU-Ländern birgt hohes Gefahrenpotenzial. Auch hier wecken große und gut gemeinte Versprechungen aus Brüssel Hoffnungen, die nicht zu erfüllen sind und umso mehr Frust erzeugen. Die sechs Milliarden Euro, die Brüssel zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit aufbringen will, nehmen sich auf den ersten Blick bescheiden aus. Was lässt sich mit 250 Euro pro Arbeitslosem pro Jahr anfangen? Wenn Initiativen zu greifen versprechen, sollte hier baldmöglichst aufgestockt werden.
Die Einführung des dualen Berufsausbildungssystems à la Deutschland oder Österreich in anderen Ländern kostet viel Zeit. Schneller wäre wohl die Anerkennung von Berufsabschlüssen zu erreichen, die für arbeitslose junge Leute, die woanders in Europa Fuß fassen wollen, äußerst wichtig ist. Doch auch damit manövriert sich Deutschland in eine Zwickmühle: Es bietet jungen Europäern Ausbildungs- und Arbeitsplätze an, bezieht aber Prügel, weil es aus den Krisenländern die jungen Eliten absaugt.
Banken und Fiskalpakt
Nach wie vor stellen insbesondere auch die Banken ein Problem dar. Geht man einen Schritt zurück und vergleicht, wie andere Industriebereiche reguliert werden, zeigt sich, dass das bestehende System nicht funktioniert. Um das zu erkennen, muss man kein Freund staatlicher Interventionen sein. Alle anderen Industriebereiche – Energie, Telekommunikation, kritische Infrastrukturen – werden strenger kontrolliert als die Banken. Hier sehen auch liberal-marktwirtschaftlich denkende Menschen Handlungsbedarf. Um mehr Transparenz und Verlässlichkeit für die Kunden zu erreichen und die Verbraucher vor leichtfertig auf den Markt geschmissenen Fake-Produkten zu schützen, bedarf es einer funktionierenden Finanzaufsicht.
Einige wenige Kreditinstitute machen mit Derivaten oder anderen Produkten, die niemand versteht, Riesengewinne, destabilisieren damit aber den gesamten Finanzmarkt und bereiten der Wirtschaft massive Probleme. Die Gegenmaßnahmen wirken noch nicht schlüssig, und das Verhalten der Akteure unterscheidet sich nicht von ihrem Verhalten vor Beginn der Krise. Einerseits wird behauptet, man sei systemrelevant, andererseits ist keine Bereitschaft erkennbar, sich als systemrelevantes Institut entsprechend regulieren zu lassen.
In Sachen Finanzmarktregulierung hat sich die Politik mit der Finanztransaktionssteuer so weit nach vorn gewagt, dass es wichtig wäre, das Projekt endlich zum Abschluss zu bringen. Allerdings ist vor den Europawahlen nicht damit zu rechnen. Die möglichen Folgen werden wohl eher unterschätzt. Wichtig wäre noch vor der Wahl ein entsprechendes Signal, eine erkennbare message, um eine Perspektive für einen genauen Zeitplan zu eröffnen. Der Kommunikationsmangel ist einer der Gründe für eine zunehmend skeptische Grundstimmung gegenüber Europa. Wenn aber den Worten keine Taten folgen und geweckte Erwartungen enttäuscht werden, schürt das weiteres Unbehagen und Misstrauen.
Flüchtlings- und Staatsbürgerschaftsfragen
Der Umgang mit den afrikanischen Flüchtlingen, die in Lampedusa stranden oder sich nach Griechenland durchschlagen, aber auch mit Sinti und Roma innerhalb der Europäischen Union zeigt ein weiteres Problemfeld auf. Kommunen, Regionen und sogar Nationalstaaten fühlen sich häufig damit alleingelassen. Es handelt sich um ein gesamteuropäisches Thema – das aber nicht europäisch behandelt wird.
Dies befördert die Reden vom vermeintlichen "Sozialtourismus". In der Wohlfühlzone der EU – zum Beispiel in Österreich mit seinem stark sozial ausgeprägten Wohlfahrtsstaat – nimmt die Angst zu, dass es zur Nivellierung nach unten kommt, frei nach dem Motto: "Wir zahlen für die anderen, und alle anderen benutzen unsere staatlichen Transfers." Freilich sind bei diesen Themen den Akteuren auf der europäischen Ebene häufig die Hände gebunden, weil die Kompetenzen auf nationaler Ebene liegen. Nötig wäre es aber, dass sich hier alle zusammen Lösungen überlegen.
Auch die sonderbaren Praktiken mancher EU-Länder bei der Vergabe von Aufenthaltsgenehmigungen oder Reisepässen sind in diesem Zusammenhang anzuführen. Die Reisepässe zu 650.000 Euro auf Malta bekommen nicht etwa Flüchtlinge oder "Armutsmigranten", sondern Oligarchen aus dem postsowjetischen Raum. Zypern, Rumänien und einige andere Länder bieten ebenfalls attraktive Bedingungen, sodass sich die Interessenten jeweils in dem Land mit dem individuell passendsten und unkompliziertesten System Zutritt in den EU-Raum erkaufen. Die Vergabe der Staatsbürgerschaften und Reisepässe sind zwar nationales Hoheitsrecht. Am Pass hängt aber weit mehr, nämlich die Unionsbürgerschaft. Wenn Staaten ab einem bestimmten Preis erwiesenermaßen bereit sind, nicht mehr so ordentlich zu prüfen, wird es kritisch und zu einem gesamteuropäischen Problem.
Solche Praktiken untergraben das gegenseitige Vertrauen der EU-Partner. Europaweite Standards, klare Regeln für die Vergabe von staatsbürgerlichen Rechten, die Prüfung, ob die nationalen Bestimmungen mit den europäischen Werten vereinbar sind, all das haben sehr wohl europäische Themen zu sein. Auch hier ist die Kommission gefragt.
Schluss
Die Menschen müssen gar nicht unbedingt im Detail wissen, wie die europäische Rechtsetzung funktioniert – häufig wissen sie ja auch nicht, wie in Deutschland zwischen Bundestag und Bundesrat, "Bild"-Zeitung und Bundesverfassungsgericht Gesetze entstehen. Aber sie sollten (zu Recht) darauf vertrauen können, dass alles "richtig" läuft. Aktuell sind die Bürger oft verunsichert und haben keine Orientierung, wohin die Reise überhaupt geht.
Um die angesprochenen Probleme und Stressfaktoren lösen beziehungsweise lindern zu können, ist gesamteuropäisches Agieren gefragt – mit einem starken Parlament und starken Repräsentanten, aber auch mit besserer Kommunikation: Selbst die 1.000 in Brüssel akkreditierten Korrespondenten und die 15.000 hauptamtlich dort tätigen Lobbyisten brauchen meist eine längere Zeit, um sich in die abkürzungsreiche "Geheimsprache" der Europäischen Union einzuarbeiten. Ein Plädoyer für eine einfachere Sprache mag naiv und unrealistisch sein – und allein hilft sie auch nicht weiter. Aber es wäre ein Anfang, um die Europäische Union buchstäblich besser "begreifen" und auch als Bürgerin oder Bürger stärker mitgestalten zu können.