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Rechtsaußen, die Große Rezession und die Europawahlen 2014 | Europawahl 2014 | bpb.de

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Rechtsaußen, die Große Rezession und die Europawahlen 2014

Cas Mudde

/ 18 Minuten zu lesen

Wenn wir den internationalen Medien Glauben schenken, wird 2014 das Jahr der "antieuropäischen Rechtspopulisten". In den ersten drei Tagen des Jahres hat die "New York Times" zwei Gastkommentare veröffentlicht, in denen vor dem Aufstieg von Rechtsaußenparteien gewarnt wird, während der Schwerpunkt der ersten Ausgabe des "Economist" auf "Europe’s Tea Parties" lag. Dem waren bereits Monate voller öffentlicher Warnungen prominenter EU-Politikerinnen und -Politiker vor einem europaweiten "populistischen Backlash" vorausgegangen, unter anderem ausgesprochen von den Präsidenten des Europäischen Rates, der Kommission und des Parlamentes sowie mehrerer nationaler Politiker wie dem (damaligen) italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta und dem stellvertretenden niederländischen Premierminister Lodewijk Asscher.

Obwohl sich die Warnungen unterschiedlicher Begriffe bedienten und auf unterschiedliche Gruppen von Parteien und Politikern hinwiesen, waren allen mindestens zwei Hauptbotschaften gemein: (1) Die Wirtschaftskrise beziehungsweise die Große Rezession der vergangenen Jahre hat zum Aufstieg von Rechtsaußen geführt, und (2) die Rechtsaußenparteien werden bei den Europawahlen im Mai 2014 große Stimmenzuwächse erzielen.

Trotz des breiten Medienkonsenses hinsichtlich dieser beiden Punkte, die mittlerweile als allgemein anerkannt gelten, ist der erste faktisch falsch und der zweite höchst unwahrscheinlich. Wie so oft in der Politik basieren diese "Wahrheiten" auf einem toxischen Gemisch aus begrifflichen Ungenauigkeiten, falschen Verallgemeinerungen und berufsbedingtem Opportunismus. Es ist zwar richtig, dass die Wirtschaftskrise einen Anstieg der öffentlichen Unzufriedenheit sowohl mit europäischen als auch mit nationalen Eliten sowie (bedeutende) Stimmenverluste für die meisten Regierungsparteien in den meisten EU-Mitgliedsstaaten verursacht hat. Einen klaren Trend gibt es jedoch bei den Wahlergebnissen der Rechtsaußenparteien nicht. Insgesamt ist die Große Rezession nicht für eine starke Zunahme der Unterstützung für diese Parteien verantwortlich, und weder sie noch die "antieuropäischen Populisten" sind auf dem Wege, einen bedeutenden Sieg bei den bevorstehenden Europawahlen zu erzielen.

Rechtsaußen

Terminologisches Durcheinander und begriffliche Ungenauigkeiten haben in der Debatte über Rechtsaußen stets für Verwirrung gesorgt. Es ist eine Fülle an Begriffen im Umlauf, die eine breite Palette politischer Parteien zusammenbringen sollen. Obgleich ein großer Teil der Diskussion sich immer noch hauptsächlich auf "Rechtsaußen" oder die "radikale Rechte" konzentriert, gewinnen weniger eindeutige Begriffe wie "rechtspopulistisch" und das hochproblematische "antieuropäisch populistisch" insbesondere in der öffentlichen Debatte rapide an Bedeutung. Zu letzterer Kategorie gehört ein bunter Haufen verschiedener Parteien, etwa die niederländische Sozialistische Partei (SP), die Alternative für Deutschland (AfD), die finnische Perussuomalaiset (PS, "Die Finnen", ehemals "Die wahren Finnen"), die italienische Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) und die United Kingdom Independence Party (UKIP).

In der Einsicht, dass es niemals einen akademischen, geschweige denn öffentlichen Konsens über stark aufgeladene Begriffe wie "Rechtsaußen" und "Populismus" geben wird, werde ich mein Verständnis dieser Termini kurz erörtern, bevor ich die wichtigsten Rechtsaußenparteien in den gegenwärtigen EU-Mitgliedsstaaten vorstelle. Mit einfachen Worten: Ich benutze den Begriff "Rechtsaußen" (far right) als übergreifendes Konzept sowohl für die extreme als auch für die radikale Rechte. Der Hauptunterschied zwischen "extrem" und "radikal" ist das Verhältnis zu den fundamentalen Grundsätzen der Demokratie, das heißt Souveränität des Volkes und Mehrheitsprinzip. Der Extremismus lehnt die Demokratie ab. Im Gegensatz dazu akzeptiert der Radikalismus die Demokratie, nicht jedoch die liberale Demokratie, das heißt Pluralismus und Minderheitenrechte. Der Hauptunterschied zwischen der "Linken" und der "Rechten" besteht in ihrem Verhältnis zum Egalitarismus, wobei die Rechte die Hauptungleichheiten zwischen Menschen als natürlich betrachtet und sie daher außerhalb des staatlichen Zuständigkeitsbereiches sieht.

Auf der Grundlage dieses konzeptionellen Rahmens lässt sich zwischen den derzeit in den nationalen Parlamenten der EU-Mitgliedsstaaten vertretenen Rechtsaußenparteien differenzieren (vgl. Tabelle 1 in der PDF-Version). Die überwiegende Mehrzahl dieser Parteien ist am treffendsten als populistische radikale Rechte zu beschreiben, die einen ideologischen Kern aus Nativismus, Autoritarismus und Populismus kombiniert. Dazu eine kurze Einordnung: Nativismus – eine Mischung aus Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit – behauptet, dass ein Staat ausschließlich von Mitgliedern der einheimischen Volksgruppe ("der Nation") bewohnt werden solle und nichteinheimische "Elemente" (Personen und Ideen) für den homogenen Nationalstaat eine fundamentale Bedrohung darstellen. Autoritarismus ist der Glaube an eine streng geordnete Gesellschaft, in der Verstöße gegen die Autorität hart zu bestrafen seien. Populismus schließlich ist eine dünne Ideologie (thin-centered ideology), der zufolge die Gesellschaft letztlich in zwei homogene, antagonistische Gruppen geteilt sei, nämlich "das lautere Volk" und "die korrupte Elite"; Politik solle demnach Ausdruck des allgemeinen Volkswillens (volonté générale) sein.

Der Prototyp der populistischen rechtsradikalen Partei ist der bereits 1982 gegründete französische Front National (FN), während die Dänische Volkspartei (DF) und die niederländische Partei für die Freiheit (PVV) zu den bekannteren neueren Beispielen gehören. Manche prominente populistische rechtsradikale Parteien fingen als nichtradikale rechte Parteien an und radikalisierten sich infolge interner Parteipolitik; dies ist ganz besonders bei der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) und der Schweizerischen Volkspartei (SVP) der Fall. Im kulturellen und rechtlichen Kontext Nachkriegseuropas haben wenige offen rechtsextreme Parteien relevante Wahlergebnisse erzielt. In den meisten Fällen ist in der nach außen gerichteten Parteiliteratur (etwa in Wahlprogrammen) von – zumindest nomineller – Loyalität zu demokratischen Idealen zu lesen, während die nach innen gerichtete Literatur (etwa interne Parteipapiere) sowie das Verhalten führender Parteimitglieder weniger eindeutig oder offen antidemokratisch sind.

Der prominenteste Fall einer rechtsextremen Partei ist die griechische Goldene Morgenröte (CA), der aktuell ein Parteiverbot droht. Weniger eindeutige Fälle sind die quasi bankrotte British National Party (BNP) und die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) sowie die ungarische Jobbik mit ihren bedeutenden Wahlergebnissen; Letztere verbindet eine nominell demokratische Frontpartei mit einem klar antidemokratischen paramilitärischen Flügel, der (jetzt verbotenen) Magyar Gárda (Ungarische Garde).

Es gibt einige wichtige Grenzfälle, zu denen sogar wissenschaftliche Expertinnen und Experten unterschiedliche Meinungen vertreten. Diese Parteien weisen verschiedene rechtsradikale Merkmale auf, besonders im Wahlkampf, haben jedoch einen ideologischen Kern, der nicht rechtsradikal zu sein scheint. Die am stärksten umstrittenen Grenzfälle in der EU sind die finnische PS und die britische UKIP, die beide den Euroskeptizismus, den Populismus und die Fremdenfeindlichkeit teilen, jedoch nicht fundamental nationalistisch zu sein scheinen.

Eine etwas weniger umstrittene Kategorie lässt sich am besten als neoliberal populistisch beschreiben. Dazu gehören Parteien wie das österreichische Team Stronach und die italienische Forza Italia, deren ideologischer Kern auf dem ökonomischen Liberalismus anstelle des kulturellen Nationalismus beruht. Schließlich gibt es Parteien, die offen euroskeptisch und/oder populistisch sind, jedoch offensichtlich nicht rechtsradikal. Zu dieser Gruppe gehören Parteien wie die AfD in Deutschland und die M5S in Italien.

Die Große Rezession

Die Ursachen der aktuellen Wirtschaftskrise, allgemein auch als Große Rezession bezeichnet, sind mittlerweile wohl bekannt. Was als Platzen der Immobilienblase und der daraus folgenden Subprimekrise im Dezember 2007 in den Vereinigten Staaten begann, hatte sich bis September 2008 zu einer ausgewachsenen Weltwirtschaftskrise entwickelt. Die Große Rezession ist die schwerste Wirtschaftskrise seit der Großen Depression der 1930er Jahre und hat, unter anderem, zu Konkursen, finanziellen Verlusten und Arbeitslosenzahlen in Rekordhöhen geführt. In Europa hat die Wirtschaftskrise sowohl die einzelnen Staaten als auch die EU als solche getroffen. Obwohl viele Länder Europas einzeln betrachtet zunächst nur marginal von der Krise betroffen waren, haben alle kollektiv einen hohen Preis bezahlen müssen, und zwar aufgrund der massiven Rettungsaktionen (bailouts) innerhalb der EU.

Für viele Europäerinnen und Europäer bedeuteten diese Rettungsaktionen eine schockierende Konfrontation mit den tatsächlichen Folgen der europäischen Integration und Solidarität, was in der gesamten Union für tiefe Missgunst sorgte, sowohl unter den aktuellen "Zahlern" als auch unter den gegenwärtigen "Empfängern". Rechtsaußenparteien waren an vorderster Front des politischen Kampfes gegen die Rettungsaktionen; sie waren dort jedoch alles andere als allein. Wo aber die meisten anderen Politikerinnen und Politiker hauptsächlich die Umsetzung der Ideen der europäischen Integration und Solidarität (insbesondere die Rettungsaktionen) kritisierten, attackierten viele Rechtsaußenparteien die Essenz dieser Ideen. In mehreren Fällen hat die Große Rezession sogar den Euroskeptizismus von Rechtsaußenparteien derart stark radikalisiert, dass sie mittlerweile einen Ausstieg aus der EU unterstützen – sowohl Marine Le Pen (FN) als auch Geert Wilders (PVV) haben dies in ihren nationalen Wahlkämpfen 2012 angeregt.

Die weit verbreitete Ansicht, dass die Große Rezession ein Wiedererstarken von Rechtsaußenparteien befeuert hat, beruht auf zwei Missverständnissen – hinsichtlich der Geschichte und hinsichtlich der Gegenwart. So fußt die allgemeine Annahme, dass wirtschaftliche Krisenzeiten zu Erfolgen von Rechtsaußen führten und die Abschaffung der Demokratie drohe, auf dem historischen Beispiel des Aufstiegs der NSDAP unter Adolf Hitler in der Weimarer Republik (1919–1933). Auch wenn es nicht überrascht, dass der Fall Weimar im Vordergrund steht, war Deutschland in der Zwischenkriegszeit jedoch die Ausnahme, nicht die Regel. Obwohl die Zahl (mehr oder weniger) demokratischer Regime zwischen 1920 und 1939 von 24 auf elf zurückging, hat eine demokratisch gewählte faschistische Partei nur in einem einzigen Fall die Demokratie abgeschafft – und sogar in diesem Fall, der Weimarer Republik, ist es den Nazis nur mit der stillschweigenden Unterstützung nominell demokratischer Parteien gelungen.

Da die ursprüngliche "Krisentheorie" auf diesem Ausnahmefall beruht, werden die entsprechenden Deutungen der gegenwärtigen Situation hauptsächlich durch den Hinweis auf zwei spezifische, aber medial stark beachtete Fälle gestützt: den FN in Frankreich und die CA in Griechenland. Nachdem sie die Nachfolge ihres Vaters, des Parteigründers Jean-Marie Le Pen, endlich angetreten hatte, hat Marine Le Pen den FN wie ein Phönix aus der Asche geführt: Nach Jahren des elektoralen Niedergangs hat sie bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2012 die historisch besten Ergebnisse ihrer Partei erzielt, bei den Parlamentswahlen kurz darauf die zweitbesten. Noch schockierender waren die beiden Parlamentswahlen in Griechenland im Mai und Juni 2012, bei denen die bis dahin marginale Neonazi-Partei CA den Sprung ins griechische Parlament schaffte. Obwohl viele rechtsradikale Parteien seit 1980 in die nationalen Parlamente eingezogen waren, war dies das erste Mal, dass es einer offen rechtsextremen Partei gelungen war. In den Augen der meisten Beobachterinnen und Beobachter, akademischen wie nichtakademischen, sind diese zwei Fälle symptomatisch für den Aufstieg von Rechtsaußen im heutigen Europa, und sie werden als vorhersehbare Folge der Großen Rezession betrachtet.

Ein Überblick über die jüngsten Wahlergebnisse von Rechtsaußenparteien in EU-Mitgliedsstaaten zeigt jedoch ein ganz anderes Bild (vgl. Abbildung in der PDF-Version). Beim Vergleich der Wahlergebnisse vor der Krise (2005–2007) mit denen während der Krise (2009–2013) sticht vor allem der augenfällige Mangel an Wahlerfolgen hervor. Was ist darüber hinaus festzustellen? Erstens gibt es in zehn der 28 EU-Mitgliedsstaaten (36 Prozent) keine nennenswerte Rechtsaußenpartei, darunter interessanterweise auch vier der fünf "Bailout-Länder" (Zypern, Irland, Portugal, Spanien); Griechenland ist dabei die einzige Ausnahme. Zweitens sind die Wahlergebnisse der Rechtsaußenparteien in neun der 18 Länder, in denen sie (einigermaßen) relevant sind, während des Zeitraums 2005 bis 2013 gestiegen, in den anderen neun jedoch nicht. Drittens, von den neun Ländern mit steigender Unterstützung für Rechtsaußen gab es absolut betrachtet nur in vier Ländern eine deutliche Zunahme (das heißt um mehr als fünf Prozentpunkte). In derselben Anzahl Länder gab es einen Rückgang um mehr als fünf Prozentpunkte (Belgien, Italien, Rumänien und der Slowakei).

Die vier EU-Länder, in denen Rechtsaußenparteien bei Wahlen erhebliche Stimmenzuwächse verbuchen konnten, sind Ungarn (+14,5 Prozentpunkte), Frankreich (+9,1), Österreich (+8,9) und Lettland (+5,4). Griechenland liegt mit einem Zuwachs von 4,7 Prozentpunkten, also fast einer Verdopplung, knapp dahinter und wird unten gesondert erörtert. Im Gegensatz zu den beiden osteuropäischen Ländern Ungarn und Lettland haben die beiden westeuropäischen Länder Österreich und Frankreich eher moderat unter wirtschaftlichen Problemen gelitten. Und obwohl kein Zweifel daran besteht, dass die Parteien von der politischen Unzufriedenheit im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise profitiert haben, handelt es sich beim FN wie bei der FPÖ um etablierte populistische rechtsradikale Parteien, die bereits lange vor Beginn der Krise ähnliche Wahlergebnisse erzielt haben. Damit verbleiben Ungarn und Lettland, zwei der am härtesten getroffenen Länder des ehemaligen Ostblocks, der jedoch als Region betrachtet nicht die volle Wucht der Großen Rezession abbekommen hat.

Der Aufstieg der ungarischen Jobbik hat erhebliche wissenschaftliche wie öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen, auch wenn die Partei von den besorgniserregenden politischen Maßnahmen der Regierung Viktor Orbáns (Fidesz) bisweilen in den Hintergrund gedrängt wird. Mit dem schwindelerregenden Ergebnis von 16,7 Prozent der Stimmen bei ihrer ersten Wahlteilnahme 2010, bei der sie den Platz der randständigen Ungarischen Wahrheits- und Lebenspartei (MIÉP) als größte Rechtsaußenpartei des Landes einnahm, kann die Jobbik den größten Anstieg innerhalb der EU verzeichnen. Aber obwohl Ungarn von der Wirtschaftskrise extrem betroffen ist und mit der Möglichkeit einer Rettungsaktion liebäugelt, ging es bei der Wahl 2010 nicht wirklich um die Große Rezession. Sowohl Orbáns Fidesz-Partei als auch die Jobbik haben von weit verbreiteter politischer Unzufriedenheit profitiert, aber die Ursachen hatten nur teilweise mit der Großen Rezession zu tun.

Der klarste Fall im Sinne der "Krisentheorie" scheint – eigenartigerweise – das kleine und kaum beachtete Lettland zu sein, das von der Wirtschaftskrise besonders schwer getroffen wurde. Ähnlich wie im Szenario von Weimar hat die Rechtsaußenpartei NA nicht nur zwischen 2006 und 2011 die Zahl ihrer Parlamentssitze deutlich erhöht, sondern ist auch Juniorpartner in der lettischen Regierungskoalition geworden. Rätselhaft ist, dass der Anstieg der NA sich zwischen 2010 und 2011 vollzog, also nach dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise in Lettland. Nach dem Absturz 2008/2009 stabilisierte sich die Wirtschaft im Jahr 2010 wieder und wies 2011 ein reales Wachstum von 5,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf.

Kurz gesagt: Die Zahlen passen einfach nicht zusammen. Trotz des Geredes über einen Aufstand von Rechtsaußen als Folge der Großen Rezession lautet die nüchterne Tatsache: Die Unterstützung für Rechtsaußenparteien hat nur in neun der 28 EU-Mitgliedsstaaten (32 Prozent) zugenommen und davon lediglich in vier (14 Prozent) in bedeutendem Maße. Wie schon bei der Weltwirtschaftskrise ab Ende der 1920er Jahre verschleiern auch heute einige wenige, aber besonders beachtete Fälle (Frankreich und Griechenland) die Tatsache, dass Rechtsaußenparteien in den allermeisten EU-Ländern sowohl vor als auch nach der Großen Rezession politisch und elektoral nur von marginaler Bedeutung waren beziehungsweise sind. Anfang 2014 ist nur in elf der 28 EU-Mitgliedsstaaten (39 Prozent) eine Rechtsaußenpartei im Parlament vertreten, in lediglich zwei Ländern sind sie an der Regierung beteiligt – in Lettland als Juniorpartner und in Bulgarien als unterstützende Partei der Minderheitsregierung.

Entgegen der allgemeinen Annahme haben (west-)europäische Rechtsaußenparteien am ehesten in wohlhabenden Ländern und Regionen in Zeiten wirtschaftlichen Wohlstands und Stabilität Erfolg (zum Beispiel DF, FPÖ, SVP, VB). Wie der US-amerikanische Politologe Ronald Inglehart überzeugend dargelegt hat, sind soziokulturelle Themen für gewisse Wählergruppen unter diesen Bedingungen wichtiger als sozioökonomische Fragen. Wie die Grünen ist auch Rechtsaußen größtenteils ein postmaterialistisches Phänomen, das wegen soziokultureller und nicht wegen soziökonomischer Angelegenheiten Unterstützung findet. Für viele potenzielle Rechtsaußenwählerinnen und -wähler bedeutet dies, dass ihre Ängste vor Kriminalität und Einwanderung in Zeiten wirtschaftlicher und politischer Stabilität ihre Sorgen hinsichtlich der ökonomischen Situation, der Inflation und der Arbeitslosigkeit verdrängen und sich ihre Parteipräferenz vom Mainstream (links oder rechts) nach Rechtsaußen verschiebt.

Die Europawahlen

Vor allem aus drei Gründen erwarten Kommentatorinnen und Kommentatoren bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2014 besonders bemerkenswerte Ergebnisse für die Rechtsaußenparteien: (1) die Wirtschaftskrise, (2) die zweitrangige Natur der Europawahlen und (3) der Anstieg des Euroskeptizismus.

Wie die obige Analyse zeigt, stellt sich die "Krisentheorie" als nicht haltbar heraus, zumindest nicht für nationale Parlamentswahlen. Jedoch argumentieren Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler, dass Europawahlen "Wahlen zweiter Ordnung" sind, die durch geringere Wahlbeteiligung und höhere Ergebnisse für Parteien außerhalb des Establishments gekennzeichnet sind. Während dies oft so interpretiert wird, dass Protestparteien im Allgemeinen und Rechtsaußenparteien im Besonderen bei Wahlen zweiter Ordnung sehr gut abschneiden, ist dies nicht ganz korrekt. Der Zeitpunkt von Wahlen zweiter Ordnung in Bezug auf den Zyklus von Wahlen erster Ordnung beeinflusst die Wahlergebnisse stark: Im Allgemeinen erzielen etablierte Parteien bei Wahlen zweiter Ordnung, die etwa in der Mitte zwischen Wahlen erster Ordnung stattfinden, die schlechtesten Ergebnisse, wenn Wählerinnen und Wähler die Gelegenheit dazu nutzen, den nationalen Eliten einen Denkzettel zu verpassen (voting with the boot). Allerdings schneiden Protestparteien bei Wahlen zweiter Ordnung, die kurz nach Wahlen erster Ordnung abgehalten werden, eher schlecht ab, da die Menschen hauptsächlich deswegen zur Wahl gehen, um ihre Partei zu unterstützen (voting with the heart). Angesichts der unterschiedlichen nationalen Wahlzyklen können sich deren Effekte auf EU-Ebene zum großen Teil ausgleichen. Folglich stellten die Politologen Michael Minkenberg und Pascal Perrineau fest, dass die Europawahlen 2004 in Bezug auf die radikale Rechte "überraschend unüberraschend" waren.

Es stellt sich die Frage, ob Europawahlen im Jahr 2014 immer noch als zweitrangig zu betrachten sind. Der Politologe Hermann Schmitt hat bereits nach der Wahl 2004 angemerkt, dass sich ihr Charakter als zweitrangige Wahlen allmählich ändere, und er erwarte, dass sich dieser Prozess infolge der zunehmenden Sichtbarkeit der EU fortsetzen werde. Die grundlegende EU-Dimension der Großen Rezession und insbesondere die hochgradig unbeliebten Rettungsaktionen haben die Sichtbarkeit der EU deutlich erhöht und sind der Hauptgrund für den "gesamtkontinentalen Anstieg des Euroskeptizismus". Die Zunahme des Euroskeptizismus ist jedoch nicht nur auf der Ebene der breiten Bevölkerung sichtbar; immer mehr Außenseiter- und sogar Insiderparteien bringen weiche wie harte euroskeptische Kritik offen zum Ausdruck. Folglich steht Rechtsaußen mit einer wachsenden Zahl nationaler Gruppierungen im Wettbewerb um (weiche) euroskeptische Wählerstimmen.

Ich habe die voraussichtliche Anzahl der Sitze von Rechtsaußenparteien im nächsten Europäischen Parlament (EP) auf Grundlage der Ergebnisse der jüngsten nationalen Parlamentswahlen berechnet – in sämtlichen Fällen fanden diese während der Wirtschaftskrise statt, in den meisten Ländern innerhalb der vergangenen zwei Jahre. Ausgehend von diesen Ergebnissen würden Rechtsaußenparteien aus 13 der 28 EU-Mitgliedsstaaten ins Europäische Parlament einziehen. Sie würden insgesamt 34 Sitze (4,5 Prozent aller Sitze) gewinnen, drei Sitze weniger als im gegenwärtigen EP.

Diese eher trüben Aussichten für Rechtsaußen sind hauptsächlich auf drei Faktoren zurückzuführen: (1) Rechtsaußen ist nur in gut der Hälfte aller EU-Länder relevant, (2) die Bedeutung von Rechtsaußen ist sogar in diesen Ländern bei Wahlen recht bescheiden, und (3) es handelt sich bei nur einem dieser Länder um einen großen EU-Staat mit vielen Sitzen im Europäischen Parlament (Frankreich). Auch wenn wir unseren Vorhersagen günstigere Meinungsumfragen zugrunde legen, verändern sich die Ergebnisse kaum. Wenn wir für den FN in Frankreich rund 24 Prozent und für die PVV in den Niederlanden 18 Prozent annehmen, würde die Gesamtzahl der Sitze für Rechtsaußen im Europäischen Parlament nur auf 45 Sitze (6,0 Prozent aller Sitze) steigen (vgl. Tabelle 2 in der PDF-Version).

Es ist wichtig, Folgendes festzuhalten: Auch wenn die Rechtsaußenparteien tatsächlich 45 Sitze erringen sollten, bedeutet dies nicht, dass es eine 45-köpfige Rechtsaußenfraktion geben wird. Die Kooperationsvereinbarung zwischen Marine Le Pen (FN) und Geert Wilders (PVV) garantiert zwar praktisch, dass die Rechtsaußenparteien in der Lage sein werden, im nächsten Europäischen Parlament eine offiziell anerkannte Fraktion zu bilden (wahrscheinlich unter dem Banner der Europäischen Allianz für Freiheit, EAF), zumal dafür nur 25 Abgeordnete aus mindestens sieben Mitgliedsstaaten erforderlich sind. Aber diese Gruppe wird stark vom FN dominiert sein, der allein wahrscheinlich rund 20 Sitze stellen wird. Auch hat die Geschichte gezeigt, dass Rechtsaußenparteien in der europäischen Arena selten effektiv zusammenarbeiten und dass die Führungsrolle des FN häufig sowohl entscheidend als auch höchst kontrovers gewesen ist.

Im Verlauf der verschiedenen Wahlperioden hat Rechtsaußen entweder keine offizielle Fraktion im Europäischen Parlament gebildet oder aber eine, die wegen (oft kleinlicher) interner Streitigkeiten auseinandergebrochen ist. In allen Fällen war Rechtsaußen auf verschiedene Fraktionen verteilt (etwa Europa der Freiheit und der Demokratie, EFD), während sich mehrere Rechtsaußen-Abgeordnete gar keiner Fraktion anschlossen. Was die Auswirkungen ihrer Anwesenheit auf das Funktionieren des Parlaments betrifft, kam eine jüngere Analyse zu dem Schluss, der an das Sprichwort "Bellende Hunde beißen nicht" erinnert: "Our analysis suggests that the populist radical right focuses its role on gaining publicity rather than participating in policy-making activities in the European Parliament."

Fazit

Die Tatsache, dass die Große Rezession zu keinem signifikanten Zuwachs an Unterstützung für Rechtsaußen geführt hat, sollte eigentlich nicht überraschen. Wirtschaftskrisen haben in Europa selten zu Wahlerfolgen für Rechtsaußen geführt: nicht die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, nicht die Ölkrise der 1970er Jahre, nicht der Wandel von sozialistischer Diktatur zu kapitalistischer Demokratie in Osteuropa in den 1990er Jahren. Dies bedeutet nicht, dass Wirtschaftskrisen nicht zu politischer Unzufriedenheit oder (schweren) Wahlniederlagen von Regierungsparteien führen. Aber in den meisten Fällen kommt der Protest auf vielfältige Weise zum Ausdruck – durch Wahlenthaltung, Wählen einer etablierten Oppositionspartei oder die Stimmabgabe für eine der vielen alten und neuen Protestparteien. Dies wird zweifellos auch bei den bevorstehenden Europawahlen der Fall sein, bei denen die Präsenz von Rechtsaußen insgesamt wahrscheinlich um lediglich etwa acht Sitze (von derzeit 37 auf 45) zunehmen wird und die der "antieuropäischen populistischen" Stimmen um etwa 34 Sitze (von 92 auf 126), was auf einen Anteil von etwa 17 Prozent aller Parlamentssitze hinausliefe.

Die geschilderte Beziehung zwischen Wirtschaftskrisen und Wählerstimmen für Rechtsaußen mag der Intuition widersprechen, aber ihre Ursache ist implizit in Ingleharts berühmter Postmaterialismusthese dargelegt worden. Während einer Wirtschaftskrise wird die politische Debatte von soziökonomischen Themen dominiert, denen Rechtsaußenparteien wenig Beachtung schenken und bei denen sie nur wenig glaubwürdige Expertise aufweisen. Wenn die Große Rezession jedoch erst einmal überwunden und die wirtschaftliche Situation stabilisiert worden ist, werden viele potenzielle Rechtsaußenwählerinnen und -wähler soziokulturelle Themen, die mit nationaler Identität und Sicherheit zu tun haben, wieder als wichtiger erachten. Und zu jenem Zeitpunkt wird die Unzufriedenheit mit nationalen und europäischen Eliten, die während der Großen Rezession noch weiter angestiegen ist, tatsächlich sichtbar, und zwar rechtsaußen wie in anderen Ecken des Protests gegen das Establishment. Ob dies jedoch geschieht oder nicht, wird mindestens so stark vom Handeln der Mainstreamparteien abhängen wie von dem der Rechtsaußenparteien.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für eine ausführlichere Erörterung meines konzeptionellen Rahmens sowie der Klassifizierungen der Parteien vgl. Cas Mudde, Populist Radical Right Parties in Europe, Cambridge 2007, Kapitel 1 und 2.

  2. Vgl. Giovanni Capoccia, Defending Democracy: Reactions to Extremism in Interwar Europe, Baltimore 2005.

  3. Das Wahlergebnis der finnischen PS schnellte von 4,1 Prozent im Jahr 2007 auf 19 Prozent im Jahr 2011 (+14,9 Prozentpunkte). Wie bereits erwähnt, halte ich die Partei nicht für populistisch rechtsradikal, obwohl sie als "funktionales Äquivalent" dienen könnte, das heißt, dass sie aus denselben Gründen Unterstützung findet wie populistische rechtsradikale Parteien in anderen Ländern (Euroskeptizismus, Unzufriedenheit mit der Politik, Fremdenfeindlichkeit). Interessanterweise gehört Finnland zu den von der aktuellen Krise am wenigsten betroffenen EU-Ländern, war es doch bereits über ein Jahrzehnt vor der Großen Rezession mit einer eigenen Wirtschaftskrise konfrontiert. Dennoch spielte die aktuelle Krise eine große Rolle im Wahlkampf und für den Erfolg "Der Finnen", die vehement gegen die Bailout-Rettungsaktionen waren. Vgl. Tapio Raunio, Europe and the Finnish Parliamentary Elections of April 17, 2011, in: EPERN Election Briefing, 63 (2011).

  4. Vgl. Agnes Batory, Europe and the Hungarian Parliamentary Elections of April 2010, in: EPERN Election Briefing, 51 (2010).

  5. Die NA ist eine Koalition der konservativen Tēvzemei un Brīvībai ("Für Vaterland und Freiheit", TB/LNNK) und der Rechtsaußenpartei Visu Latvijai! (VL, "Alle für Lettland!"), die bei der Wahl 2006 unabhängig voneinander 7,0 Prozent und 1,5 Prozent erreichten, bei der Wahl 2010 als Wahlbündnis 7,8 Prozent und 2011 als eine Partei 13,9 Prozent.

  6. Vgl. Elita Kalnina, GDP of Latvia increased by 5.5% in 2001, 9.3.2012, Externer Link: http://www.baltic-course.com/eng/analytics/?doc=54355 (13.2.2014).

  7. Vgl. Ronald Inglehart, The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles Among Western Publics, Princeton 1977.

  8. Vgl. Piero Ignazi, The Silent Counter-Revolution: Hypotheses on the Emergence of Extreme Right-Wing Parties in Europe, in: European Journal of Political Research, 22 (1992), S. 3–34.

  9. Vgl. Karlheinz Reif/Hermann Schmitt, Nine Second-Order National Elections – A Conceptual Framework for the Analysis of European Election Results, in: European Journal of Political Research, 8 (1980), S. 3–44.

  10. Vgl. unter anderem Michael Marsh, Testing the Second-Order Model After Four European Elections, in: British Journal of Political Science, 28 (1998), S. 591–607.

  11. Vgl. Michael Minkenberg/Pascal Perrineau, The Radical Right in the European Elections 2004, in: International Political Science Review, 28 (2007), S. 29–55.

  12. Vgl. Hermann Schmitt, The European Parliament Elections of June 2004: Still Second Order?, in: West European Politics, 28 (2005), S. 650–679.

  13. Vgl. Jose Ignacio Torreblanco/Marc Leonard, The Continent-Wide Rise of Euroscepticism, in: European Council for Foreign Relations Policy Memo, 79 (2013).

  14. Eine empirische Längsschnittanalyse hat im Übrigen gezeigt, dass die Ergebnisse von Rechtsaußenparteien bei Europawahlen nur geringfügig besser sind als ihre Ergebnisse bei gleichzeitig stattfindenden Wahlen erster Ordnung. Vgl. Gilles Ivaldi, The Populist Radical Right in European Elections 1979–2009, in: Uwe Backes/Patrick Moreau (Hrsg.), The Extreme Right in Europe: Current Trends and Perspectives, Göttingen 2012, S. 15–33.

  15. Obwohl es Unterschiede zwischen den spezifischen Wahlsystemen gibt, kommt bei Europawahlen in fast allen Ländern eine Form des Verhältniswahlrechts zum Tragen, häufig in Kombination mit einer Sperrklausel (meist vier oder fünf Prozent). Die Anzahl der umkämpften Sitze reicht von sechs (zum Beispiel Luxemburg und Malta) bis 96 (Deutschland); folglich ist in Ländern mit weniger als 20 Sitzen die Hürde bei Europawahlen (viel) höher als fünf Prozent, was bedeutet, dass weniger Parteien im Europäischen Parlament vertreten sind als im nationalen Parlament.

  16. Selbst unter Einbeziehung der UKIP würde sich die Situation nicht grundsätzlich ändern, denn Meinungsumfragen (YouGov) zeigen, dass die derzeitige Unterstützung für die Partei (rund 18 Prozent) in etwa ihrem Ergebnis bei der Europawahl 2009 entspricht (16,5 Prozent).

  17. Zur Geschichte von Rechtsaußen im Europäischen Parlament vgl. C. Mudde (Anm. 1), Kapitel 7; Petra Vejvodovèá, Transnational Cooperation of the Far Right in the European Union and Attempts to Institutionalize Mutual Relations, in: U. Backes/P. Moreau (Anm. 14), S. 215–228.

  18. Marley Morris, Conflicted Politicians: The Populist Radical Right in the European Parliament, London 2013.

  19. Der "antieuropäische populistische" Stimmenblock ist eine Kombination aus Wählerstimmen für Linksaußen, Rechtsaußen und den anderen euroskeptischen und/oder populistischen Parteien (zum Beispiel AfD, PS, UKIP, M5S). Fast zwei Drittel des prognostizierten Anstiegs von 34 Sitzen kommt von der M5S (19 Sitze).

  20. Vgl. C. Mudde (Anm. 1), Kapitel 5.

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M.A., Ph. D., geb. 1967; Associate Professor am Department of International Affairs an der University of Georgia, Candler Hall 329, Athens, GA 30602-1492, USA. E-Mail Link: mudde@uga.edu