Wenn wir den internationalen Medien Glauben schenken, wird 2014 das Jahr der "antieuropäischen Rechtspopulisten". In den ersten drei Tagen des Jahres hat die "New York Times" zwei Gastkommentare veröffentlicht, in denen vor dem Aufstieg von Rechtsaußenparteien gewarnt wird, während der Schwerpunkt der ersten Ausgabe des "Economist" auf "Europe’s Tea Parties" lag. Dem waren bereits Monate voller öffentlicher Warnungen prominenter EU-Politikerinnen und -Politiker vor einem europaweiten "populistischen Backlash" vorausgegangen, unter anderem ausgesprochen von den Präsidenten des Europäischen Rates, der Kommission und des Parlamentes sowie mehrerer nationaler Politiker wie dem (damaligen) italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta und dem stellvertretenden niederländischen Premierminister Lodewijk Asscher.
Obwohl sich die Warnungen unterschiedlicher Begriffe bedienten und auf unterschiedliche Gruppen von Parteien und Politikern hinwiesen, waren allen mindestens zwei Hauptbotschaften gemein: (1) Die Wirtschaftskrise beziehungsweise die Große Rezession der vergangenen Jahre hat zum Aufstieg von Rechtsaußen geführt, und (2) die Rechtsaußenparteien werden bei den Europawahlen im Mai 2014 große Stimmenzuwächse erzielen.
Trotz des breiten Medienkonsenses hinsichtlich dieser beiden Punkte, die mittlerweile als allgemein anerkannt gelten, ist der erste faktisch falsch und der zweite höchst unwahrscheinlich. Wie so oft in der Politik basieren diese "Wahrheiten" auf einem toxischen Gemisch aus begrifflichen Ungenauigkeiten, falschen Verallgemeinerungen und berufsbedingtem Opportunismus. Es ist zwar richtig, dass die Wirtschaftskrise einen Anstieg der öffentlichen Unzufriedenheit sowohl mit europäischen als auch mit nationalen Eliten sowie (bedeutende) Stimmenverluste für die meisten Regierungsparteien in den meisten EU-Mitgliedsstaaten verursacht hat. Einen klaren Trend gibt es jedoch bei den Wahlergebnissen der Rechtsaußenparteien nicht. Insgesamt ist die Große Rezession nicht für eine starke Zunahme der Unterstützung für diese Parteien verantwortlich, und weder sie noch die "antieuropäischen Populisten" sind auf dem Wege, einen bedeutenden Sieg bei den bevorstehenden Europawahlen zu erzielen.
Rechtsaußen
Terminologisches Durcheinander und begriffliche Ungenauigkeiten haben in der Debatte über Rechtsaußen stets für Verwirrung gesorgt. Es ist eine Fülle an Begriffen im Umlauf, die eine breite Palette politischer Parteien zusammenbringen sollen. Obgleich ein großer Teil der Diskussion sich immer noch hauptsächlich auf "Rechtsaußen" oder die "radikale Rechte" konzentriert, gewinnen weniger eindeutige Begriffe wie "rechtspopulistisch" und das hochproblematische "antieuropäisch populistisch" insbesondere in der öffentlichen Debatte rapide an Bedeutung. Zu letzterer Kategorie gehört ein bunter Haufen verschiedener Parteien, etwa die niederländische Sozialistische Partei (SP), die Alternative für Deutschland (AfD), die finnische Perussuomalaiset (PS, "Die Finnen", ehemals "Die wahren Finnen"), die italienische Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) und die United Kingdom Independence Party (UKIP).
In der Einsicht, dass es niemals einen akademischen, geschweige denn öffentlichen Konsens über stark aufgeladene Begriffe wie "Rechtsaußen" und "Populismus" geben wird, werde ich mein Verständnis dieser Termini kurz erörtern, bevor ich die wichtigsten Rechtsaußenparteien in den gegenwärtigen EU-Mitgliedsstaaten vorstelle. Mit einfachen Worten: Ich benutze den Begriff "Rechtsaußen" (far right) als übergreifendes Konzept sowohl für die extreme als auch für die radikale Rechte.
Auf der Grundlage dieses konzeptionellen Rahmens lässt sich zwischen den derzeit in den nationalen Parlamenten der EU-Mitgliedsstaaten vertretenen Rechtsaußenparteien differenzieren (vgl. Tabelle 1 in der PDF-Version). Die überwiegende Mehrzahl dieser Parteien ist am treffendsten als populistische radikale Rechte zu beschreiben, die einen ideologischen Kern aus Nativismus, Autoritarismus und Populismus kombiniert. Dazu eine kurze Einordnung: Nativismus – eine Mischung aus Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit – behauptet, dass ein Staat ausschließlich von Mitgliedern der einheimischen Volksgruppe ("der Nation") bewohnt werden solle und nichteinheimische "Elemente" (Personen und Ideen) für den homogenen Nationalstaat eine fundamentale Bedrohung darstellen. Autoritarismus ist der Glaube an eine streng geordnete Gesellschaft, in der Verstöße gegen die Autorität hart zu bestrafen seien. Populismus schließlich ist eine dünne Ideologie (thin-centered ideology), der zufolge die Gesellschaft letztlich in zwei homogene, antagonistische Gruppen geteilt sei, nämlich "das lautere Volk" und "die korrupte Elite"; Politik solle demnach Ausdruck des allgemeinen Volkswillens (volonté générale) sein.
Der Prototyp der populistischen rechtsradikalen Partei ist der bereits 1982 gegründete französische Front National (FN), während die Dänische Volkspartei (DF) und die niederländische Partei für die Freiheit (PVV) zu den bekannteren neueren Beispielen gehören. Manche prominente populistische rechtsradikale Parteien fingen als nichtradikale rechte Parteien an und radikalisierten sich infolge interner Parteipolitik; dies ist ganz besonders bei der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) und der Schweizerischen Volkspartei (SVP) der Fall. Im kulturellen und rechtlichen Kontext Nachkriegseuropas haben wenige offen rechtsextreme Parteien relevante Wahlergebnisse erzielt. In den meisten Fällen ist in der nach außen gerichteten Parteiliteratur (etwa in Wahlprogrammen) von – zumindest nomineller – Loyalität zu demokratischen Idealen zu lesen, während die nach innen gerichtete Literatur (etwa interne Parteipapiere) sowie das Verhalten führender Parteimitglieder weniger eindeutig oder offen antidemokratisch sind.
Der prominenteste Fall einer rechtsextremen Partei ist die griechische Goldene Morgenröte (CA), der aktuell ein Parteiverbot droht. Weniger eindeutige Fälle sind die quasi bankrotte British National Party (BNP) und die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) sowie die ungarische Jobbik mit ihren bedeutenden Wahlergebnissen; Letztere verbindet eine nominell demokratische Frontpartei mit einem klar antidemokratischen paramilitärischen Flügel, der (jetzt verbotenen) Magyar Gárda (Ungarische Garde).
Es gibt einige wichtige Grenzfälle, zu denen sogar wissenschaftliche Expertinnen und Experten unterschiedliche Meinungen vertreten. Diese Parteien weisen verschiedene rechtsradikale Merkmale auf, besonders im Wahlkampf, haben jedoch einen ideologischen Kern, der nicht rechtsradikal zu sein scheint. Die am stärksten umstrittenen Grenzfälle in der EU sind die finnische PS und die britische UKIP, die beide den Euroskeptizismus, den Populismus und die Fremdenfeindlichkeit teilen, jedoch nicht fundamental nationalistisch zu sein scheinen.
Eine etwas weniger umstrittene Kategorie lässt sich am besten als neoliberal populistisch beschreiben. Dazu gehören Parteien wie das österreichische Team Stronach und die italienische Forza Italia, deren ideologischer Kern auf dem ökonomischen Liberalismus anstelle des kulturellen Nationalismus beruht. Schließlich gibt es Parteien, die offen euroskeptisch und/oder populistisch sind, jedoch offensichtlich nicht rechtsradikal. Zu dieser Gruppe gehören Parteien wie die AfD in Deutschland und die M5S in Italien.
Die Große Rezession
Die Ursachen der aktuellen Wirtschaftskrise, allgemein auch als Große Rezession bezeichnet, sind mittlerweile wohl bekannt. Was als Platzen der Immobilienblase und der daraus folgenden Subprimekrise im Dezember 2007 in den Vereinigten Staaten begann, hatte sich bis September 2008 zu einer ausgewachsenen Weltwirtschaftskrise entwickelt. Die Große Rezession ist die schwerste Wirtschaftskrise seit der Großen Depression der 1930er Jahre und hat, unter anderem, zu Konkursen, finanziellen Verlusten und Arbeitslosenzahlen in Rekordhöhen geführt. In Europa hat die Wirtschaftskrise sowohl die einzelnen Staaten als auch die EU als solche getroffen. Obwohl viele Länder Europas einzeln betrachtet zunächst nur marginal von der Krise betroffen waren, haben alle kollektiv einen hohen Preis bezahlen müssen, und zwar aufgrund der massiven Rettungsaktionen (bailouts) innerhalb der EU.
Für viele Europäerinnen und Europäer bedeuteten diese Rettungsaktionen eine schockierende Konfrontation mit den tatsächlichen Folgen der europäischen Integration und Solidarität, was in der gesamten Union für tiefe Missgunst sorgte, sowohl unter den aktuellen "Zahlern" als auch unter den gegenwärtigen "Empfängern". Rechtsaußenparteien waren an vorderster Front des politischen Kampfes gegen die Rettungsaktionen; sie waren dort jedoch alles andere als allein. Wo aber die meisten anderen Politikerinnen und Politiker hauptsächlich die Umsetzung der Ideen der europäischen Integration und Solidarität (insbesondere die Rettungsaktionen) kritisierten, attackierten viele Rechtsaußenparteien die Essenz dieser Ideen. In mehreren Fällen hat die Große Rezession sogar den Euroskeptizismus von Rechtsaußenparteien derart stark radikalisiert, dass sie mittlerweile einen Ausstieg aus der EU unterstützen – sowohl Marine Le Pen (FN) als auch Geert Wilders (PVV) haben dies in ihren nationalen Wahlkämpfen 2012 angeregt.
Die weit verbreitete Ansicht, dass die Große Rezession ein Wiedererstarken von Rechtsaußenparteien befeuert hat, beruht auf zwei Missverständnissen – hinsichtlich der Geschichte und hinsichtlich der Gegenwart. So fußt die allgemeine Annahme, dass wirtschaftliche Krisenzeiten zu Erfolgen von Rechtsaußen führten und die Abschaffung der Demokratie drohe, auf dem historischen Beispiel des Aufstiegs der NSDAP unter Adolf Hitler in der Weimarer Republik (1919–1933). Auch wenn es nicht überrascht, dass der Fall Weimar im Vordergrund steht, war Deutschland in der Zwischenkriegszeit jedoch die Ausnahme, nicht die Regel. Obwohl die Zahl (mehr oder weniger) demokratischer Regime zwischen 1920 und 1939 von 24 auf elf zurückging,
Da die ursprüngliche "Krisentheorie" auf diesem Ausnahmefall beruht, werden die entsprechenden Deutungen der gegenwärtigen Situation hauptsächlich durch den Hinweis auf zwei spezifische, aber medial stark beachtete Fälle gestützt: den FN in Frankreich und die CA in Griechenland. Nachdem sie die Nachfolge ihres Vaters, des Parteigründers Jean-Marie Le Pen, endlich angetreten hatte, hat Marine Le Pen den FN wie ein Phönix aus der Asche geführt: Nach Jahren des elektoralen Niedergangs hat sie bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2012 die historisch besten Ergebnisse ihrer Partei erzielt, bei den Parlamentswahlen kurz darauf die zweitbesten. Noch schockierender waren die beiden Parlamentswahlen in Griechenland im Mai und Juni 2012, bei denen die bis dahin marginale Neonazi-Partei CA den Sprung ins griechische Parlament schaffte. Obwohl viele rechtsradikale Parteien seit 1980 in die nationalen Parlamente eingezogen waren, war dies das erste Mal, dass es einer offen rechtsextremen Partei gelungen war. In den Augen der meisten Beobachterinnen und Beobachter, akademischen wie nichtakademischen, sind diese zwei Fälle symptomatisch für den Aufstieg von Rechtsaußen im heutigen Europa, und sie werden als vorhersehbare Folge der Großen Rezession betrachtet.
Ein Überblick über die jüngsten Wahlergebnisse von Rechtsaußenparteien in EU-Mitgliedsstaaten zeigt jedoch ein ganz anderes Bild (vgl. Abbildung in der PDF-Version). Beim Vergleich der Wahlergebnisse vor der Krise (2005–2007) mit denen während der Krise (2009–2013) sticht vor allem der augenfällige Mangel an Wahlerfolgen hervor. Was ist darüber hinaus festzustellen? Erstens gibt es in zehn der 28 EU-Mitgliedsstaaten (36 Prozent) keine nennenswerte Rechtsaußenpartei, darunter interessanterweise auch vier der fünf "Bailout-Länder" (Zypern, Irland, Portugal, Spanien); Griechenland ist dabei die einzige Ausnahme. Zweitens sind die Wahlergebnisse der Rechtsaußenparteien in neun der 18 Länder, in denen sie (einigermaßen) relevant sind, während des Zeitraums 2005 bis 2013 gestiegen, in den anderen neun jedoch nicht. Drittens, von den neun Ländern mit steigender Unterstützung für Rechtsaußen gab es absolut betrachtet nur in vier Ländern eine deutliche Zunahme (das heißt um mehr als fünf Prozentpunkte). In derselben Anzahl Länder gab es einen Rückgang um mehr als fünf Prozentpunkte (Belgien, Italien, Rumänien und der Slowakei).
Die vier EU-Länder, in denen Rechtsaußenparteien bei Wahlen erhebliche Stimmenzuwächse verbuchen konnten, sind Ungarn (+14,5 Prozentpunkte), Frankreich (+9,1), Österreich (+8,9) und Lettland (+5,4).
Der Aufstieg der ungarischen Jobbik hat erhebliche wissenschaftliche wie öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen, auch wenn die Partei von den besorgniserregenden politischen Maßnahmen der Regierung Viktor Orbáns (Fidesz) bisweilen in den Hintergrund gedrängt wird. Mit dem schwindelerregenden Ergebnis von 16,7 Prozent der Stimmen bei ihrer ersten Wahlteilnahme 2010, bei der sie den Platz der randständigen Ungarischen Wahrheits- und Lebenspartei (MIÉP) als größte Rechtsaußenpartei des Landes einnahm, kann die Jobbik den größten Anstieg innerhalb der EU verzeichnen. Aber obwohl Ungarn von der Wirtschaftskrise extrem betroffen ist und mit der Möglichkeit einer Rettungsaktion liebäugelt, ging es bei der Wahl 2010 nicht wirklich um die Große Rezession. Sowohl Orbáns Fidesz-Partei als auch die Jobbik haben von weit verbreiteter politischer Unzufriedenheit profitiert, aber die Ursachen hatten nur teilweise mit der Großen Rezession zu tun.
Der klarste Fall im Sinne der "Krisentheorie" scheint – eigenartigerweise – das kleine und kaum beachtete Lettland zu sein, das von der Wirtschaftskrise besonders schwer getroffen wurde. Ähnlich wie im Szenario von Weimar hat die Rechtsaußenpartei NA nicht nur zwischen 2006 und 2011 die Zahl ihrer Parlamentssitze deutlich erhöht, sondern ist auch Juniorpartner in der lettischen Regierungskoalition geworden. Rätselhaft ist, dass der Anstieg der NA sich zwischen 2010 und 2011 vollzog,
Kurz gesagt: Die Zahlen passen einfach nicht zusammen. Trotz des Geredes über einen Aufstand von Rechtsaußen als Folge der Großen Rezession lautet die nüchterne Tatsache: Die Unterstützung für Rechtsaußenparteien hat nur in neun der 28 EU-Mitgliedsstaaten (32 Prozent) zugenommen und davon lediglich in vier (14 Prozent) in bedeutendem Maße. Wie schon bei der Weltwirtschaftskrise ab Ende der 1920er Jahre verschleiern auch heute einige wenige, aber besonders beachtete Fälle (Frankreich und Griechenland) die Tatsache, dass Rechtsaußenparteien in den allermeisten EU-Ländern sowohl vor als auch nach der Großen Rezession politisch und elektoral nur von marginaler Bedeutung waren beziehungsweise sind. Anfang 2014 ist nur in elf der 28 EU-Mitgliedsstaaten (39 Prozent) eine Rechtsaußenpartei im Parlament vertreten, in lediglich zwei Ländern sind sie an der Regierung beteiligt – in Lettland als Juniorpartner und in Bulgarien als unterstützende Partei der Minderheitsregierung.
Entgegen der allgemeinen Annahme haben (west-)europäische Rechtsaußenparteien am ehesten in wohlhabenden Ländern und Regionen in Zeiten wirtschaftlichen Wohlstands und Stabilität Erfolg (zum Beispiel DF, FPÖ, SVP, VB). Wie der US-amerikanische Politologe Ronald Inglehart überzeugend dargelegt hat, sind soziokulturelle Themen für gewisse Wählergruppen unter diesen Bedingungen wichtiger als sozioökonomische Fragen.
Die Europawahlen
Vor allem aus drei Gründen erwarten Kommentatorinnen und Kommentatoren bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2014 besonders bemerkenswerte Ergebnisse für die Rechtsaußenparteien: (1) die Wirtschaftskrise, (2) die zweitrangige Natur der Europawahlen und (3) der Anstieg des Euroskeptizismus.
Wie die obige Analyse zeigt, stellt sich die "Krisentheorie" als nicht haltbar heraus, zumindest nicht für nationale Parlamentswahlen. Jedoch argumentieren Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler, dass Europawahlen "Wahlen zweiter Ordnung" sind, die durch geringere Wahlbeteiligung und höhere Ergebnisse für Parteien außerhalb des Establishments gekennzeichnet sind.
Es stellt sich die Frage, ob Europawahlen im Jahr 2014 immer noch als zweitrangig zu betrachten sind. Der Politologe Hermann Schmitt hat bereits nach der Wahl 2004 angemerkt, dass sich ihr Charakter als zweitrangige Wahlen allmählich ändere, und er erwarte, dass sich dieser Prozess infolge der zunehmenden Sichtbarkeit der EU fortsetzen werde.
Ich habe die voraussichtliche Anzahl der Sitze von Rechtsaußenparteien im nächsten Europäischen Parlament (EP) auf Grundlage der Ergebnisse der jüngsten nationalen Parlamentswahlen berechnet
Diese eher trüben Aussichten für Rechtsaußen sind hauptsächlich auf drei Faktoren zurückzuführen: (1) Rechtsaußen ist nur in gut der Hälfte aller EU-Länder relevant, (2) die Bedeutung von Rechtsaußen ist sogar in diesen Ländern bei Wahlen recht bescheiden, und (3) es handelt sich bei nur einem dieser Länder um einen großen EU-Staat mit vielen Sitzen im Europäischen Parlament (Frankreich). Auch wenn wir unseren Vorhersagen günstigere Meinungsumfragen zugrunde legen, verändern sich die Ergebnisse kaum. Wenn wir für den FN in Frankreich rund 24 Prozent und für die PVV in den Niederlanden 18 Prozent annehmen, würde die Gesamtzahl der Sitze für Rechtsaußen im Europäischen Parlament nur auf 45 Sitze (6,0 Prozent aller Sitze) steigen (vgl. Tabelle 2 in der PDF-Version).
Es ist wichtig, Folgendes festzuhalten: Auch wenn die Rechtsaußenparteien tatsächlich 45 Sitze erringen sollten, bedeutet dies nicht, dass es eine 45-köpfige Rechtsaußenfraktion geben wird. Die Kooperationsvereinbarung zwischen Marine Le Pen (FN) und Geert Wilders (PVV) garantiert zwar praktisch, dass die Rechtsaußenparteien in der Lage sein werden, im nächsten Europäischen Parlament eine offiziell anerkannte Fraktion zu bilden (wahrscheinlich unter dem Banner der Europäischen Allianz für Freiheit, EAF), zumal dafür nur 25 Abgeordnete aus mindestens sieben Mitgliedsstaaten erforderlich sind. Aber diese Gruppe wird stark vom FN dominiert sein, der allein wahrscheinlich rund 20 Sitze stellen wird. Auch hat die Geschichte gezeigt, dass Rechtsaußenparteien in der europäischen Arena selten effektiv zusammenarbeiten und dass die Führungsrolle des FN häufig sowohl entscheidend als auch höchst kontrovers gewesen ist.
Im Verlauf der verschiedenen Wahlperioden hat Rechtsaußen entweder keine offizielle Fraktion im Europäischen Parlament gebildet oder aber eine, die wegen (oft kleinlicher) interner Streitigkeiten auseinandergebrochen ist. In allen Fällen war Rechtsaußen auf verschiedene Fraktionen verteilt (etwa Europa der Freiheit und der Demokratie, EFD), während sich mehrere Rechtsaußen-Abgeordnete gar keiner Fraktion anschlossen. Was die Auswirkungen ihrer Anwesenheit auf das Funktionieren des Parlaments betrifft, kam eine jüngere Analyse zu dem Schluss, der an das Sprichwort "Bellende Hunde beißen nicht" erinnert: "Our analysis suggests that the populist radical right focuses its role on gaining publicity rather than participating in policy-making activities in the European Parliament."
Fazit
Die Tatsache, dass die Große Rezession zu keinem signifikanten Zuwachs an Unterstützung für Rechtsaußen geführt hat, sollte eigentlich nicht überraschen. Wirtschaftskrisen haben in Europa selten zu Wahlerfolgen für Rechtsaußen geführt: nicht die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, nicht die Ölkrise der 1970er Jahre, nicht der Wandel von sozialistischer Diktatur zu kapitalistischer Demokratie in Osteuropa in den 1990er Jahren. Dies bedeutet nicht, dass Wirtschaftskrisen nicht zu politischer Unzufriedenheit oder (schweren) Wahlniederlagen von Regierungsparteien führen. Aber in den meisten Fällen kommt der Protest auf vielfältige Weise zum Ausdruck – durch Wahlenthaltung, Wählen einer etablierten Oppositionspartei oder die Stimmabgabe für eine der vielen alten und neuen Protestparteien. Dies wird zweifellos auch bei den bevorstehenden Europawahlen der Fall sein, bei denen die Präsenz von Rechtsaußen insgesamt wahrscheinlich um lediglich etwa acht Sitze (von derzeit 37 auf 45) zunehmen wird und die der "antieuropäischen populistischen" Stimmen um etwa 34 Sitze (von 92 auf 126),
Die geschilderte Beziehung zwischen Wirtschaftskrisen und Wählerstimmen für Rechtsaußen mag der Intuition widersprechen, aber ihre Ursache ist implizit in Ingleharts berühmter Postmaterialismusthese dargelegt worden. Während einer Wirtschaftskrise wird die politische Debatte von soziökonomischen Themen dominiert, denen Rechtsaußenparteien wenig Beachtung schenken und bei denen sie nur wenig glaubwürdige Expertise aufweisen.