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Warum ich dieses Mal wählen gehe - Essay | Europawahl 2014 | bpb.de

Europawahl 2014 Editorial Warum ich dieses Mal wählen gehe Europa braucht einen neuen Traum Rechtsaußen, die Große Rezession und die Europawahlen 2014 Europäische Großbaustellen Was für die EU auf dem Spiel steht Demokratie durch Kritik: Wider die EU-Skepsis #EP2014: Europawahlkampf im Netz Majdan: Die andere Europawahl?

Warum ich dieses Mal wählen gehe - Essay

Harald Welzer

/ 13 Minuten zu lesen

Die Überschrift dieses Beitrags ist irreführend. Ich gehe nämlich immer wählen, so auch bei der jüngsten Bundestagswahl. Im Vorfeld der Wahl im vergangenen September aber habe ich meine seit Jahrzehnten eingeübte Routine, mein Kreuzchen beim "kleinsten" aller verfügbaren "Übel" zu machen, nicht mehr ertragen, und ich habe im "Spiegel" und im "Kursbuch" zwei Essays geschrieben, in denen ich begründet habe, weshalb ich zu dieser Bundestagswahl meine Stimme nicht abgeben würde.

Nicht wählen

Die Begründung bestand im Wesentlichen darin, dass sich keine der deutschen Parteien, die über die Fünfprozenthürde kommen würden, an Fragen der zukunftsfähigen Gestaltung von Gesellschaft interessiert zeigt. Seit einigen Jahren herrscht eine hektische Politik des Durchwurstelns, die ignoriert, dass die Demokratien unter immer größeren Stress durch die kumulativen Wirkungen von Finanzkrise, Staatsverschuldung, Klimawandel, Ressourcenkonkurrenz, Globalisierung der Wirtschaftskreisläufe und einer höchst gefährlichen Kooperation staatlicher Einrichtungen und privater Informationsindustrie geraten. Mit anderen Worten: Die Probleme des 21. Jahrhunderts sehen anders aus als die der europäischen Nachkriegsordnung des 20. Jahrhunderts, und es ist überdeutlich, dass die politischen Eliten bislang kaum darauf reagieren. Stattdessen tun sie so, als existierten keine Gefährdungen unseres Gesellschaftsmodells, als ließen sich die wenigen Probleme, die sie als solche anerkennen, mit genau jenen Lösungsstrategien bewältigen, mit denen man früher gut gefahren ist.

Aber die radikale Generationenungerechtigkeit, die Entdemokratisierung, die wie in Ungarn oder Rumänien durch Regierungshandeln stattfindet und global durch die schleichende Selbstermächtigung von Überwachungsdiensten und Unternehmen wie Google und Facebook, werden sich kaum mit dem Verweis auf die erprobten Verfahrensregeln der Nachkriegsdemokratien bekämpfen lassen. Und wirtschaftspolitisch ist das von allen Parteien vorgetragene Mantra des Wachstums als einzig selig machende Lösung der Gegenwartsprobleme eine intellektuelle Zumutung und ein ökologisches Desaster.

Diese essayistische Mitteilung wurde sofort als "Aufruf zum Wahlboykott" verstanden und zog entsprechend viele Gegenmeinungen auf sich. Aus der Politik kamen viele Reaktionen, die aber vor allem darin bestanden, die Nichtwählergruppen einzuordnen, nämlich in zwei Kategorien: in sozial und mental abgehängte RTL2-Zuschauer, die an Politik gleichsam konstitutionell nicht interessiert seien, und – gewissermaßen am entgegengesetzten Ende des gesellschaftlichen Spektrums – in eine irgendwie schnöselige Intellektuellenkaste, die mit den Politikangeboten der Parteien nichts anderes anzufangen wisse, als daran herumzunörgeln. Damit waren die inhaltlichen Kritikpunkte abgehakt – quod erat demonstrandum.

Aus der Publizistik kamen deutlich interessantere Einlassungen. Es gab Artikel, welche die Differenzen der Parteien ebenso unterstrichen wie die Tatsache, dass das allgemeine Wahlrecht historisch teuer erkämpft und weltweit keineswegs überall erreicht sei. Und es gab auch Beiträge, die sich sehr skrupulös mit den postdemokratischen Defiziten der heutigen Parteiendemokratie auseinandersetzten, am Ende aber gleichwohl für die bürgerliche Pflicht des Wählens plädierten. Kurz: Mit näher rückendem Wahltermin entspann sich eine intensive Debatte darüber, ob demokratische Teilhabe sich darauf beschränke, eben alle vier Jahre ein Kreuzchen zu machen, oder ob Demokratie nicht vor allem in der Vitalität eines politischen Gemeinwesens bestehe, in der die Bürgerinnen und Bürger nicht passive Konsumenten von Politikangeboten oder gar von Politikfolklore ("Wir müssen die Menschen mitnehmen!") sind, sondern die öffentlichen Angelegenheiten als ihre eigenen begreifen.

Etwa zwei Wochen vor dem Wahltag hatte ich dann das Gefühl, dass diese Debatte zur Erhöhung der Wahlbeteiligung beitragen würde. Da konnte ich ebenso gut wählen gehen und mein Kreuzchen wiederum beim "kleinsten Übel" machen.

Wählen

Nun, vor der Europawahl, stellt sich für mich die Frage nicht, ob eine Debatte über Gründe, wählen oder nicht wählen zu gehen, notwendig ist. Schon im "Spiegel"-Essay hatte ich ausdrücklich gesagt, dass alle meine Erwägungen nur unter der Voraussetzung sinnvoll seien, dass es nichts zu verhindern gelte, namentlich eine rechtspopulistische Partei, die grundsätzliche zivilisatorische Errungenschaften wie Gleichheits- und Gerechtigkeitsstandards, Freiheitsrechte oder gar die Demokratie selbst zur Disposition stellt. Das war in Deutschland der Fall; Parteien wie die NPD sind, ganz anders als der Front National in Frankreich, die "Freiheitspartei" von Geert Wilders in den Niederlanden, die Sverigedemokraterna in Schweden oder "Die (wahren) Finnen" in Finnland, hierzulande zum Glück eine zu vernachlässigende Größe. In grotesker Verkennung der Nicht-Bedeutsamkeit der NPD wertet der Bundesrat diese Desperadopartei zwar ausgerechnet vor der Europawahl mit einem Verbotsantrag auf, anstatt sie einfach zu vergessen, aber im Rahmen der gesamteuropäischen Situation und damit auch der künftigen Sitzverteilung im Europäischen Parlament ist die deutsche Situation keineswegs repräsentativ. Im Gegenteil formiert sich gerade im Vorfeld dieser Wahl eine rechte Internationale, welche die Chance sieht, ihren Einfluss auf die Politik der Europäischen Union durch Geschlossenheit und ein in den meisten Ländern beträchtliches Wählerpotenzial zu erhöhen. Hinzu kommt, dass in vielen EU-Ländern keine oder nur niedrige Hürden im Sinne einer Prozentklausel existieren; auch in Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht die (zuvor schon auf drei Prozent gesenkte) Sperrklausel jüngst komplett gekippt.

Es ist also gerade bei dieser Wahl notwendig, durch eine möglichst hohe Wahlbeteiligung sicherzustellen, dass die rechtspopulistischen Parteien keine Repräsentanz im Europäischen Parlament finden, mit der sie eine demokratische, inklusive Politik in der Tradition des europäischen Wertekonsenses gefährden könnten. Ansonsten würde sich die nicht nur groteske, sondern für die weitere Entwicklung auch höchst brisante Konstellation ergeben, dass antieuropäische Parteien eine gewichtige Rolle ausgerechnet im Europäischen Parlament spielen könnten. Einen Vorgeschmack, wie das dann aussehen könnte, hat 2009 schon die British National Party mit ihrem Vorschlag gegeben, Flüchtlingsboote im Mittelmeer doch einfach zu versenken. Der Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz hat bereits in der laufenden Wahlperiode darauf aufmerksam gemacht, dass rassistische Äußerungen mittlerweile zum Alltag des Parlamentsbetriebs gehören.

All dies sollte schon Grund genug sein, mit seiner Wahlbeteiligung und -entscheidung ein Zeichen nicht nur für die Fortsetzung der europäischen Vorstellung von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu setzen. Dieses Zeichen sollte man auch mit der entschiedenen Forderung an seine Kandidatinnen und Kandidaten verknüpfen, jede antidemokratische Tendenz auch in den Mitgliedsstaaten vehement zu kritisieren und auf eine höhere Aufmerksamkeit in Sachen Demokratiegefährdung zu dringen. Denn weder der lässige Umgang mit antidemokratischem Regierungshandeln in Mitgliedsländern wie Ungarn, Rumänien, aber auch Italien unter Silvio Berlusconi, noch die Einsetzung demokratisch nicht legitimierter Gremien wie der "Troika" (aus Vertretern der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds), noch die laxe Aufsicht über das Handeln der Europäischen Zentralbank sind dazu angetan, das Institutionenvertrauen zu stärken. Es ist an der Zeit, dass die einseitige finanzpolitische Orientierung von EU-Kommission und Parlament von einer Haltung abgelöst wird, die wieder eine grundsätzliche Bereitschaft zur Verteidigung von Demokratie, Freiheit und Frieden reklamiert.

Richtig wählen

Stimmenauszählung bei der Europawahl 2009 Foto: Patrick Seeger (© picture-alliance/dpa)

Als Wissenschaftler, der sich in vielen Forschungsprojekten mit der Frage beschäftigt hat, wie sich Gesellschaften im 20. Jahrhundert in totalitäre Systeme verwandeln konnten, deren Mitglieder, wenn sie nicht auf Seiten der Opfer standen, in erschreckend kurzer Zeit Kulturen der Gegenmenschlichkeit entwickelten, ist mir jede antizivilisatorische Bewegung, jede Partei, zu deren Programmatik Ausgrenzung zählt, etwas, das es zu bekämpfen gilt. Und nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als politischer Bürger, der es für ein großes Glück hält, unter den Bedingungen einer freiheitlichen und demokratischen Nachkriegsgesellschaft aufgewachsen zu sein, die ihm ohne Ansehung seiner Herkunft den Besuch von Schulen und Universitäten eröffnet hat und – in höherem Maße als heute – eine Kultur der Chancengleichheit entwickelt hatte.

Ein wesentliches Merkmal totalitären Denkens ist die Unterstellung kategorialer Unterschiede zwischen den Menschen. Selbstverständlich sind Menschen ungleich, an Geschlecht, Gestalt, Intelligenz, Habitus, Interessen, Orientierungen und anderem mehr. Solche Unterschiede können aber niemals auf abstrakte Gruppenzugehörigkeiten zurückgeführt werden. Intelligenzquotienten sind nicht nach Bevölkerungsgruppen verteilt. Und zu sagen, dass bestimmte Gruppen mehr zur Kriminalität, andere mehr zu sexuellen Ausschweifungen neigen und wieder andere oder auch noch dieselben durch Hinterhältigkeit, Versorgungsmentalität, Unterwanderungswünsche oder was auch immer gekennzeichnet seien, ist schlichte Ausgrenzungsfolklore.

Tatsächlich ist das stärkste Zeichen totalitären Denkens die Einteilung von Menschen in essenzielle Kategorien – "Juden", "Arier", "Zigeuner" und andere. Solchen Einteilungen liegt die Voraussetzung zugrunde, dass kein Mitglied einer als minderwertig betrachteten Gruppe imstande sei, durch eigene Begabung, Anstrengung oder Leistung in eine als höherwertig betrachtete Gruppe zu wechseln. Vom "Juden" kann man nicht zum "Arier" werden, und umgekehrt bedeutet eine solche kategoriale Einteilung, dass kein Mitglied einer vermeintlich "besseren" Gruppe jemals auf das Niveau einer vermeintlich "niedrigeren" Gruppe absinken kann – was natürlich in den Augen derjenigen attraktiv ist, die zu ihrem Glück zur Gruppe der kategorial "höher" Eingestuften zählen.

Genau dieses psychosoziale Angebot, sich grundsätzlich – also trotz aller sozialen, kulturellen, materiellen Defizite – anderen Gruppen überlegen fühlen zu dürfen, sorgte für die außerordentlich hohe Zustimmungsbereitschaft etwa zum nationalsozialistischen Regime. In den kommunistischen Systemen lief die Einteilung der Zugehörigkeiten etwas anders und wurde weniger biologisch als geschichtstheoretisch begründet, lieferte aber in gleicher Weise die je persönliche Lizenz zu Ausgrenzung und Gegenmenschlichkeit.

Da kein Politikangebot der rechtspopulistischen Parteien ohne solche essenzielle Kategorisierungen auskommt, sind ihre Gesellschaftsvorstellungen totalitär und zielen damit auf die Abschaffung jenes zivilisatorischen Standards, der gerade die jüngste europäische Geschichte charakterisiert. Dieser Standard liegt im Kern auf dem Bestehen auf die – faktisch zweifellos nie vollständig realisierte – formale Gleichheit aller Menschen. Aus den daraus abgeleiteten Vorstellungen von Gerechtigkeit, persönlicher Unantastbarkeit, Teilhaberechten und anderem mehr leitet sich die politische Identität des europäischen Projekts ab – nicht aus dem Euro, nicht aus dem gemeinsamen Wirtschaftsraum, nicht aus Einkommensniveaus, nicht aus Transferzahlungen, nicht aus EU-Richtlinien.

Rechtspopulistische Parteien kapitalisieren die verständlichen und erklärbaren Ängste, die Menschen vor sozialem Abstieg oder vor der Veränderung ihrer Lebenswelt haben, zumal dann, wenn sie Einschränkungen ihrer sozialen Sicherheit, wenn sie Arbeitslosigkeit und berufliche Zukunftslosigkeit wie heute in vielen Mitgliedsländern der EU am eigenen Leib erfahren. Genau deshalb sieht der organisierte Rechtspopulismus gerade in dieser Europawahl angesichts des gesunkenen Politik- und Systemvertrauens, des Absinkens der Mittelschichten in vielen Mitgliedsländern und der skandalösen Jugendarbeitslosigkeit eine historische Chance, gesamteuropäisch einflussreich zu werden.

Daher ist es auch nicht hilfreich, wenn sich die EU und die sie repräsentierende Politik als eine lebensweltferne Kaste aufführt, deren Wirken individuell negativ erfahren werden kann, während gleichzeitig der Eindruck vorherrscht, dass man der Finanz- und Informationsindustrie äußerst tolerant gegenübersteht. Und dass man gegen die "Steuervermeidung" großer Unternehmen ebenso wenig zu tun gedenkt wie gegen die absurden Einkommensunterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten auf der einen und sogenannten Leistungsträgern und Topmanagern auf der anderen Seite.

Mit politischer Gleichgültigkeit gegenüber den Nöten vieler Bürgerinnen und Bürger wird System- und Politikvertrauen verspielt, und es sind exakt diese Vertrauensverluste, die extremen Parteien zugutekommen. Man sollte an dieser Wahl auch teilnehmen, um die gewählten Vertreterinnen und Vertreter der demokratischen Parteien wieder stärker auf das Gemeinwohl zu verpflichten. Eine hohe Wahlbeteiligung ist eine hilfreiche Erinnerung daran, dass die Abgeordneten im Auftrag des Souveräns und nicht von Lobbyisten in Straßburg und Brüssel unterwegs sind.

Was ist das "europäische Narrativ"? Oder: Eine Anleitung zum Kreuzchen machen

"Während die EU, entstanden als Plan visionärer Staatsmänner der Kriegs- und Nachkriegsgenerationen, in ihrer größten Krise nurmehr von einem Kreis atemlos von Gipfel zu Gipfel hastender Staatslenker mit Primärorientierung auf nationale Wahlarithmetik verwaltet wird, ist das demokratische Europa eine Utopie darüber mehr oder weniger frustrierter intellektueller Veteranen geworden. Deren vielbeschworenes ‚Europa der Bürgerinnen und Bürger‘ muss derweil ohne den Souverän auskommen, der sich in vielen Mitgliedsstaaten enttäuscht abwendet – entweder weil er (in den reicheren Ländern) glaubt, dass Europa zu viel verlange oder (in den ärmeren Ländern) zu wenig gebe." So hat es unlängst der Leiter des Brüsseler Goethe-Instituts Berthold Franke formuliert und damit den politisch brisanten Befund markiert, dass die inhaltliche Bestimmung des "Europäischen Projekts" vor lauter Euro-Rettung und Symbolpolitik unter die Räder gekommen ist, die Deutungseliten aber gleichfalls, wenn auch aus anderen Gründen, daran scheitern, Europa zu denken. Denn allenthalben findet sich bei ihnen der Gedanke, dass nur ein vereinigtes Europa die kritische Größe habe, um geopolitisch nicht unter die Räder zu kommen.

Wie Franke glaube ich nicht, dass eine Zielbestimmung europäischer Identität in der doch ziemlich altmodischen Idee liegen könnte, ein zentraler geopolitischer Spieler zu bleiben. Die globale Machtfiguration hat sich durch die wirtschaftliche Globalisierung so rasch und tiefgreifend verändert, dass vielleicht eher die Frage angebracht ist, ob es ausgerechnet auf Größe ankommt, wenn den Bewohnerinnen und Bewohnern der EU-Länder so etwas wie ein gutes Leben ermöglicht werden soll.

Mir scheint, dass vor dem Hintergrund des erreichten materiellen Niveaus in der EU die zentralen Zukunftsaufgaben eher darin bestehen, den gleichfalls erreichten, aber immer gefährdeten zivilisatorischen Standard zu bewahren und zu kultivieren. Dass Europa der Teil der Welt ist, in dem man nicht nur materiell gut, sondern überdies frei, gleich und gerecht lebt, Beteiligungsrechte, Meinungs- und Pressefreiheit genießt, vor staatlicher Willkür geschützt ist und im Ernstfall auf Sozial- und Gesundheitsleistungen vertrauen kann, ist viel identitätsstiftender als die pubertäre Schulhoffrage, wer bei irgendwas der Größte sei. So ließe sich auch die neuerdings allenthalben gestellte Frage nach dem "europäischen Narrativ" beantworten: Die Europäer könnten die Geschichte über sich erzählen, in der zivilisiertesten Staatengemeinschaft der Welt zu leben, in einer, deren Selbstverständnis inklusiv und nicht ausgrenzend ist, die keine Großmachtansprüche hegt und daher eine Kultur militärischer Zurückhaltung und Nicht-Intervention pflegt und insgesamt darauf vertraut, dass ein gutes Bildungssystem und die Pflege kultureller Einrichtungen eher garantieren, dass man ganz gut durch das 21. Jahrhundert kommt, als alles Gerede von "Innovation", "Leadership" oder "Governance".

Dazu gehört allerdings auch eine Kultur der Aufmerksamkeit gegenüber allem, was das zivilisatorische Projekt Europa gefährden könnte: etwa die brandgefährliche Aushebelung rechtsstaatlicher Standards durch das geplante, seinem Geist nach radikal antieuropäische Freihandelsabkommen mit den USA, das die ohnehin zu groß gewordene Macht der Konzerne nahezu schrankenlos erweitern und Umweltschutzauflagen ebenso torpedierbar machen würde wie Arbeitnehmerrechte und all das, was zivilgesellschaftlich mühevoll gegen ausufernde wirtschaftliche Interessen erkämpft wurde. Was hier, übrigens jenseits parlamentarischer Debatten, geplant wird, ist eines der beiden größten antieuropäischen Narrative, das man sich vorstellen kann.

Das andere ist die Erzählung, dass man Sicherheit ausschließlich durch Überwachung gewährleisten könne. Auch dies entspricht weder dem europäischen Freiheitsbegriff noch der Erfahrung des Totalitarismus, dessen zentrales Element ja die Aufhebung der Gewaltenteilung und der strikten Trennung von staatlichem Handeln und dem privater Organisationen war. Wenn man, wie es gerade mit ungeheurer Wucht geschieht, eine informationelle Machtkonzentration gerade in der Kooperation von staatlichen Nachrichtendiensten und privaten Datensammelunternehmen entstehen sieht, ist das nichts anderes als die Umdrehung der historischen Lernerfahrung aus den Zivilisationsbrüchen des 20. Jahrhunderts.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik legt die Unverletzlichkeit der Person fest und betont in Artikel 10 eigens die Unverletzlichkeit des Post- und Briefgeheimnisses. Und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sieht in Artikel 12 vor, dass niemand willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr ausgesetzt werden darf. Diese Artikel wurden nach dem Zweiten Weltkrieg exakt aufgrund der Erfahrung formuliert, dass die Verletzung des Privaten ein Wesenszug totalitärer Gesellschaften ist. Nun hat sich aber durch die Digitalisierung der Kommunikation ein Strukturwandel vollzogen, in dem das Verhältnis von öffentlich und privat, von informationeller Selbst- und Fremdbestimmung neu sortiert worden ist. Damit verändert sich auch der Raum des Politischen: Denn ohne Autonomie ihrer Bürgerinnen und Bürger und ohne Institutionenvertrauen ist Demokratie nicht denkbar. Aber im Unterschied zu totalitären Gesellschaften, wie wir sie kannten, müssen die Geheimdienste ja gar nicht mehr mühsam und gegen Widerstände herausfinden, was sie über uns wissen wollen, sondern brauchen es nur noch von den reich bestellten Feldern der Informationsindustrie und der sozialen Netzwerke zu ernten.

Die Annahme, dass die Datenflut unter Bedingungen von Rechtsstaatlichkeit zwar beunruhigend, aber noch nicht wirklich gefährlich sei, und man erst für den Fall, dass es durch einen Regimewechsel plötzlich nicht mehr mit rechtsstaatlichen Dingen zuginge, existenziell besorgt sein müsse, ist grundfalsch. Sie geht nämlich von der irrigen Vorstellung aus, dass Systemwechsel aussehen wie Systemwechsel, dass sie abrupt und erklärtermaßen stattfinden und darüber hinaus auch heute noch so daherkommen, wie sie das 20. Jahrhundert in Gestalt von Revolutionen, Machtergreifungen oder Putschen vorgeführt hat. Aber Systemwechsel finden dann statt, wenn sich Macht- und Vertrauensverhältnisse und die für selbstverständlich gehaltenen Regeln des Alltagslebens verändern, die Normen darüber, was als richtig und falsch gelten kann, und die Standards, welche Verfahren des sozialen Umgangs legitim und welche unzulässig sind. Man muss sich das Entstehen von Totalitarismus als Übergang vorstellen, nicht als Zäsur.

Freiheit und Selbstbestimmung sind bereits in Abschaffung begriffen, wenn die Informationsindustrie das Verhalten der Menschen ebenso zu steuern begonnen hat wie ihr wirtschaftliches Schicksal. Solcher Totalitarismus kommt ganz unideologisch daher. Es braucht keine Uniformen, wenn die Uniformität informationell unter Kontrolle ist.

Ein europäisches Projekt im 21. Jahrhundert würde dafür stehen, gegenüber solchem harmlos und smart daherkommenden Totalitarismus höchst sensibel und abwehrbereit zu sein. Das wiederum heißt, sich nicht jedem Sachzwang mit der Begründung zu unterwerfen, dass man im globalen Wettbewerb stehe und sich daher nicht den Luxus des Ausscherens aus internationalen Entwicklungen leisten könne. Das Gegenteil ist richtig. Der globale Wettbewerb ist kein Selbstzweck, und internationale Entwicklungen sind nicht schon deshalb gut, weil sie geschehen. Politisches Denken und Handeln im europäischen Sinne ist auch und gerade hier der Aufklärung verpflichtet und bedeutet, dass gutes Leben in etwas anderem besteht als im erfolgreichen Durchsetzen partikularer Interessen.

Diese Desiderate an die europäische Politik werde ich bei meiner Wahlentscheidung berücksichtigen und niemanden wählen, der leichtfertig oder ignorant mit genau diesem europäischen Narrativ umgeht. Aber wählen werde ich auf jeden Fall.

Dr. phil., geb. 1958; Soziologe und Sozialpsychologe, Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg und Direktor der Stiftung Futurzwei, Rosenstraße 18, 10178 Berlin. E-Mail Link: welzer@futurzwei.org