Anfang 2013 wurden die Themen Sexismus und sexuelle Belästigung in den deutschen Medien und der breiteren Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Die sogenannte Sexismus-Debatte war durch das Erscheinen eines Artikels angestoßen worden, in dem über grenzüberschreitendes Verhalten eines Politikers gegenüber einer Journalistin berichtet wurde. Der Artikel und die darauf folgende Aufschrei-Bewegung, in deren Rahmen Frauen über Erfahrungen mit Sexismus und sexueller Belästigung berichteten, lösten ein lautes Medienecho aus. Unverständlicherweise spielten Forschungsergebnisse zu den Themen Sexismus und sexuelle Belästigung in den Diskussionsrunden und Berichten nur selten eine Rolle. Dies ist bedauerlich, da viele Argumente, die in der Debatte immer wieder vorgebracht wurden, mit empirischen Befunden klar wider- oder belegt werden können. In diesem Beitrag werden wir auf einige dieser Argumente eingehen und anhand empirischer Befunde aus wissenschaftlicher Sicht darauf antworten. Ziel ist es, Unklarheiten in Bezug auf Sexismus und sexuelle Belästigung wenigstens teilweise aufzuheben.
Was ist Sexismus, was sexuelle Belästigung?
Oft wird bereits infrage gestellt, dass sich Sexismus und sexuelle Belästigung überhaupt eindeutig beschreiben lassen, dass es also allgemeingültige Definitionen gebe. Darüber hinaus herrscht häufig Unklarheit darüber, worin sich die Begriffe "Sexismus" und "sexuelle Belästigung" unterscheiden, sodass sie oft unzutreffenderweise synonym verwendet werden.
Sexismus bezeichnet auf das Geschlecht bezogene Diskriminierung, wird unter dieser Definition in der Gesetzgebung, genauer: im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG), berücksichtigt und ist Gegenstand der Sozialforschung. Sexismus zeichnet sich damit insbesondere durch die strukturelle Unterscheidung von Frauen und Männern aufgrund ihres Geschlechts aus. Darunter fallen außerdem geschlechterstereotype, also vorurteilsbehaftete, oft negative Einstellungen, die wiederum zu Erwartungen, Wahrnehmungen, Affekten und Verhaltensweisen führen, die Menschen abwerten und einen ungleichen sozialen Status von Frauen und Männern herstellen oder festigen.
Während die offene Zustimmung zu klassischen Formen von Sexismus über die Jahre zurückgegangen ist, zeichnen sich moderne Formen von Sexismus heute durch die Leugnung der andauernden Diskriminierung und Benachteiligung von Frauen aus.
Während Sexismus die soziale Konstruktion von Unterschieden zwischen Frauen und Männern bezeichnet und damit die ideologische Grundlage für Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bildet, stellt sexuelle Belästigung als ein geschlechtsbezogenes, unangemessenes Verhalten eine mögliche Form resultierenden, sexistischen Verhaltens dar. Anders als in einigen Diskussionen im Zuge der Sexismus-Debatte behauptet, ist auch sexuelle Belästigung, etwa am Arbeitsplatz, klar definiert und juristisch relevant, da Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber eine Fürsorgepflicht gegenüber ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben. Diese ist ebenfalls im AGG definiert. Dabei unterscheidet das AGG zwischen sexueller Belästigung als Belästigung aufgrund des Geschlechts und Belästigung aufgrund anderer Merkmale (wie Alter oder Religion).
Nach Paragraf 3, Absatz 4 des AGG ist sexuelle Belästigung "ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornografischen Darstellungen gehören, (das) bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, insbesondere wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird". Aus psychologischer Perspektive wird üblicherweise das negative Erleben der Betroffenen als ausschlaggebend betrachtet. Hervorzuheben ist außerdem, dass weder die gesetzliche noch die psychologische Definition eine Absicht, sexuell zu belästigen, auf Seiten des beziehungsweise der Handelnden voraussetzt.
In Deutschland ist sexuelle Belästigung im privaten Bereich nur schwer juristisch belangbar. Als eines der wenigen europäischen Länder hat Frankreich 2012 ein neues Gesetz gegen sexuelle Belästigung eingeführt, das explizit unterschiedliche Formen und Kontexte sexueller Belästigung berücksichtigt (bei der Arbeit, in der Öffentlichkeit, einmalig oder wiederholt, etc.) und diese mit bis zu drei Jahren Haft ahndet.
"Sexismus" ist also der umfassendere Begriff, weil er auch Überzeugungen und Einstellungen einschließt, wohingegen "sexuelle Belästigung" sich immer auf Verhalten bezieht, das dazu führt, dass sich eine Person unwohl und in ihrer Würde verletzt fühlt.
Sind sexuelle Übergriffe bloß Einzelfälle?
Im Verlauf der medialen Sexismus-Debatte war immer wieder zu hören, dass es sich bei einem Verhalten wie dem des in dem Artikel kritisierten Politikers doch eigentlich um einen Einzelfall handele.
Laut einer repräsentativen Untersuchung zur "Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen" im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) haben insgesamt 58,2 Prozent aller befragten Frauen in Deutschland Situationen sexueller Belästigung erlebt. Von sexueller Belästigung bei der Arbeit, in der Schule oder der Ausbildung berichteten 22 Prozent der befragten Frauen. Auf die Frage, welche konkreten sexuell belästigenden Verhaltensweisen sie erlebt hatten, gab mehr als die Hälfte der Frauen an, per Telefon, E-Mail oder Brief belästigt worden zu sein, und ähnlich viele Frauen berichteten von Nachpfeifen und Anstarren. Ungefähr ein Drittel der Frauen gab an, Kommentare über ihren Körper, sexuelle Anspielungen, wiederholtes Fragen nach einem privaten Treffen, unnötiges Nahekommen, Betatschen und Versuche, sie zu küssen, erlebt zu haben (Mehrfachnennungen möglich).
Wenn in der Debatte eingeräumt wurde, dass sexistisches Verhalten und Belästigung regelmäßig vorkommen, dann oftmals mit dem Hinweis, dass etwa gleich häufig auch Männer betroffen und Frauen die Täterinnen seien.
Tatsächlich sind nachweislich Frauen deutlich häufiger das Ziel sexueller Belästigung als Männer: Durchschnittlich sind in Europa etwa 30 bis 50 Prozent aller berufstätigen Frauen und demgegenüber etwa zehn Prozent der berufstätigen Männer von sexueller Belästigung betroffen.
Können Männer wissen, was Frauen als sexuelle Belästigung empfinden?
Immer wieder wird behauptet, Frauen würden die Deutungshoheit über die Frage beanspruchen, was unangemessenes Verhalten beziehungsweise sexuelle Belästigung sei. Sie würden als solche auch völlig harmlose Verhaltensweisen bewerten, ohne dass es Männern möglich sei, das nachzuvollziehen oder zu antizipieren. Auch hier liegt der Argumentationslogik eine Schuldumkehr zugrunde: Männer müssen demnach in ständiger Angst leben, dass ihnen normales, "gut gemeintes" Verhalten als Sexismus ausgelegt und gegen sie verwendet wird.
Hierzu liegen Ergebnisse aus einer Befragung unter Studierenden vor, die zeigen, dass sich Männer und Frauen weitgehend einig darüber sind, welche Bemerkungen oder Witze in einer Interaktion vom Gegenüber als sexuell belästigend und unangenehm wahrgenommen werden. Den Befragten wurden 58 potenziell belästigende Bemerkungen und sexistische Witze vorgelegt, die Männer und Frauen übereinstimmend als belästigend und unangenehm einschätzten (etwa "Hast du Fieber? Du siehst so verdammt heiß aus" oder "Warum gibt es Frauenparkplätze? – Damit die Autos der Männer nicht beschädigt werden"). Männer fanden lediglich vier der Witze lustiger als Frauen, wobei den Männern aber dennoch bewusst war, dass die Witze sexistisch und für Frauen unangenehm sind.
Folgen sexueller Belästigung – ist wirklich nichts passiert?
Häufig besteht die Einschätzung, ein Verhalten, wie in der Sexismus-Debatte diskutiert, sei tolerabel, "frau" könne das aushalten und sollte es nicht zu ernst nehmen – Herrenwitze eben.
In der repräsentativen Befragung im Auftrag des BMFSFJ gaben 27 Prozent der befragten Frauen an, bereits Situationen erlebt zu haben, die als sexuelle Belästigung einzustufen sind, und in denen sie sich ernsthaft bedroht fühlten oder Angst um ihre persönliche Sicherheit hatten. Unter denjenigen, die sexuelle Belästigung erlebt hatten, gaben neun Prozent an, dass eine oder mehrere dieser Situationen auch zu ungewolltem Geschlechtsverkehr oder zu körperlicher Gewalt geführt hätten.
Die schwerwiegenden Konsequenzen sexueller Belästigung gelten inzwischen als umfassend erforscht und belegt. Sie reichen von primären Auswirkungen wie Stress, Angst, Unsicherheit, psychosomatischen Beschwerden, verringerter Konzentrationsfähigkeit, Entwicklung psychischer Störungen (Depression, Essstörungen) und Alkoholmissbrauch bis hin zu sekundären arbeitsbezogenen Konsequenzen wie geringeren Karrierechancen durch Leistungsabfall und häufigen Krankenstand.
Kann "frau" sich "einfach" wehren?
Oft wird behauptet, eine Frau könne sich doch (heutzutage und überhaupt) "einfach" gegen sexistische Anmache und Belästigung wehren, und zwar verbal oder – wenn nötig – körperlich.
Neuere Forschung zeigt hingegen sehr deutlich, dass bei der negativen Beurteilung passiven Verhaltens von Belästigungsopfern übersehen wird, wie schwierig es für eine Frau in der realen Belästigungssituation sein kann, sich zu wehren. Sogenannte Analogstudien, in denen Frauen zu ihrem Verhalten in hypothetischen Situationen befragt werden, zeigen, dass Frauen in Bezug auf ihr eigenes Verhalten im Fall einer Belästigung optimistische Fehleinschätzungen vornehmen. Besonders eindringlich belegt dies eine Studie der Psychologin Nina Vanselow:
In einer weiteren Analogstudie wurden die Reaktionen von Studentinnen auf sexuell belästigende Fragen in einem (zu wissenschaftlichen Zwecken fingierten, aber für die Teilnehmerinnen scheinbar realen) Bewerbungsgespräch für eine Stelle als studentische Hilfskraft erforscht, und diese mit den vorhergesagten Reaktionen von Studentinnen, die sich das belästigende Interview nur rein hypothetisch vorstellten, verglichen.
Zusammenfassend zeigen diese Studien also, dass Personen in der Regel unterschätzen, wie schockierend reale Belästigungssituationen für Betroffene sind, und wie viel Überwindung es kostet, sich aktiv zur Wehr zu setzen. Stattdessen sehen sich Betroffene mit einer Reihe von Schwierigkeiten konfrontiert: Sexuell belästigende Verhaltensweisen sind oft mehrdeutig. Diese Mehrdeutigkeit macht es für Betroffene schwieriger zu erkennen, ob es sich um Verhalten handelt, über das sie sich berechtigterweise beschweren sollten.
Andere Forschungsarbeiten zeigen, dass eine direkte Konfrontation oder Beschwerde über den Täter oft negative soziale Konsequenzen für die betroffene Frau nach sich zieht. Frauen, die sich beschweren oder aktiv zur Wehr setzen, werden oft negativ bewertet, büßen an Beliebtheit ein und werden als Querulantinnen angesehen, sodass die Zurückhaltung einiger Frauen in realen Belästigungssituationen durchaus nachvollziehbar sein kann.
Nur ein Flirt?
Immer wieder wird diskutiert, ob sexistisches oder grenzüberschreitendes Verhalten das Ausspielen männlicher Macht oder doch nur einen missglückten Flirtversuch darstellt.
Befragungsergebnisse der Umfrage im Auftrag des BMFSFJ zeigen, dass Frauen am Arbeitsplatz überdurchschnittlich häufig betroffen sind, wenn sie keine berufliche Qualifikation oder Ausbildung vorweisen können, sie sich noch in der Probezeit befinden oder erst kurze Zeit im Betrieb sind.
Was bewirken Mythen über sexuelle Aggression?
Eine weitere Behauptung, die immer wieder in verschiedenen Varianten zu hören war und ist, besagt, dass Frauen Vorwürfe sexueller Belästigung erfinden oder aufbauschen würden – sodass Männer zu Opfern werden.
Eine solche Schuldumkehr entspricht weit verbreiteten Mythen über sexuelle Belästigung und sexuelle Aggression, die dazu dienen, durch eine Entlastung des Täters und Schuldzuschreibung an das Opfer den ungleichen Status quo in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern aufrechtzuerhalten (Beispielhafte Aussagen für solche Mythen sind etwa "Männer sind halt so", "Wenn Frauen sich so aufreizend kleiden, dann sind sie selbst schuld, wenn sie sexuell belästigt werden"). Zur Entlastung der Täter und zur Schuldumkehr können außerdem die bereits angesprochenen Behauptungen dienen, dass es sich bei sexueller Belästigung nicht um ein gesellschaftliches Problem, sondern lediglich um Einzelfälle handele, oder der Vorwurf an die Betroffenen, sie würden sich nicht ausreichend wehren. Mythen über sexuelle Aggression lassen sich definieren als Einstellungen und Überzeugungen zu sexueller Aggression, die der Leugnung, Verharmlosung oder Rechtfertigung sexueller Aggression dienen, die Männer gegenüber Frauen ausüben.
Es ist nicht erstaunlich, dass sich diese Mythen in gewissen Kreisen auch in der Sexismus-Debatte großer Beliebtheit erfreuten. Dass auch Frauen solchen Mythen über sexuelle Aggression zustimmen, mag zunächst verwundern. In einschlägigen Forschungsarbeiten konnte allerdings gezeigt werden, dass viele Frauen diese Mythen nutzen, um sich selbst von den Opfern sexueller Aggression abzugrenzen ("Ich bin nicht so eine. Ich verhalte mich korrekt"), und damit ein Gefühl der Kontrolle und eine Illusion der eigenen Unverletzlichkeit aufbauen, die letztendlich dem Selbstschutz dienen.
Erste Forschungsarbeiten zeigen jedoch auch, dass diese opferfeindlichen und täterschützenden Einstellungen und Überzeugungen zu sexueller Belästigung und sexueller Aggression gezielt reduziert werden können. Als eine wirksame Intervention gegen Mythen über sexuelle Aggression hat sich beispielsweise normatives Feedback erwiesen: Wenn Personen mitgeteilt wird, dass die Mythenakzeptanz anderer geringer ausgeprägt ist, als sie vermuteten, geht dadurch ihre eigene Mythenakzeptanz und Aggressionsbereitschaft zurück.
Zusammenfassung
Zusammenfassend lassen sich folgende Befunde festhalten: Erstens, Sexismus und sexuelle Belästigung sind nicht Dasselbe. Beide sind rechtlich und psychologisch klar definiert. Zweitens, sexuelle Belästigung ist kein Einzelfall. Drittens, Männer sind in der Lage einzuschätzen, welche Verhaltensweisen von Frauen als sexuell belästigend wahrgenommen werden und welche nicht. Viertens, die negativen psychischen und arbeitsbezogenen Folgen für die Betroffenen sind wissenschaftlich belegt und erwiesenermaßen schwerwiegend. Fünftens, Personen unterschätzen in der Regel, wie schwer es ist, sich in einer Belästigungssituation aktiv zu wehren. Sechstens, sexuell belästigendes Verhalten erfüllt oftmals eine Doppelfunktion: Sex und Machtdemonstration. Hierarchien am Arbeitsplatz machen sexuelle Belästigung wahrscheinlicher. Siebtens und letztens tragen weit verbreitete Mythen über sexuelle Aggression zur Bagatellisierung der Übergriffe und zur Schuldverschiebung bei. Diese opferfeindlichen Einstellungen lassen sich jedoch durch gezielte Interventionen auch positiv verändern.