Wenn von der Sexismus-Debatte die Rede ist, die der "Stern"-Artikel "Der Herrenwitz"
Wie Brüderle zum Sexismusopfer wurde
Die von der Journalistin Laura Himmelreich gleich zu Beginn ihres Artikels geschilderten Anzüglichkeiten Rainer Brüderles und die Einrichtung des Hashtags Aufschrei (#aufschrei) Anfang 2013 wirkten wie ein Katalysator für die Artikulation eines angestauten weiblichen Unmuts über einen verbreiteten männlichen Alltagssexismus. Überraschend war damit eine von manchen bereits als verabschiedet angesehene Kategorie, jene des Sexismus, wieder auf die Bühne öffentlicher Diskussionen zurückgekehrt.
Ebenso überraschend war auch das Auftauchen der Inversion des Sexismusvorwurfs. Schon zu Beginn der Brüderle-Debatte titelte "Die Welt": "Keiner redet von Sexismus gegenüber Männern"
Es versteht sich nicht von selbst, dass ausgerechnet dieser Fall eine solche Debatte auslösen konnte. Eines lässt sich nämlich gewiss nicht behaupten: dass Rainer Brüderle von Himmelreich sexistisch belästigt worden wäre. Sicher, Brüderle konnte auch als Opfer angesehen werden. Zum Zeitpunkt der "Stern"-Veröffentlichung war er gerade zum Spitzenkandidaten seiner Partei gekürt worden, die kolportierten Geschehnisse lagen bereits ein Jahr zurück, die Annahme einer politisch motivierten Medienkampagne lag daher nahe. Die Möglichkeit einer Viktimisierung wurde zusätzlich durch Himmelreichs wenig charmanten Einstieg in das Interview ("Ich möchte von ihm wissen, wie er es findet, im fortgeschrittenen Alter zum Hoffnungsträger aufzusteigen") geboten. Seine Antwort ("Er will lieber über etwas anderes sprechen: mein Alter") konnte nämlich auch als Retourkutsche auf eine altersdiskriminierende Verletzung gelesen werden.
Um zu verstehen, warum Brüderle als Opfer eines antimännlichen Sexismus gezeichnet werden konnte, muss man aber einen Blick auf Debatten werfen, die in den Wochen zuvor geführt worden waren. Dazu gehört in erster Linie die Debatte um das Ende weißer, männlicher Vorherrschaft. Nachdem US-Präsident Barack Obama Ende 2012 zum zweiten Mal einen weißen Gegenkandidaten besiegt und dabei die große Mehrzahl der Frauen sowie der Nicht-Weißen und anderer Minderheiten für sich gewonnen hatte, verfestigte sich der Eindruck, dass es weiße männliche Kandidaten in der Politik zunehmend schwerer haben würden, eine Mehrheit hinter sich zu vereinigen. "Macho, weiß, von gestern", "Ade, weißer Mann" ("Die Zeit"), "Die Krise des weißen Mannes" ("Der Spiegel"), "Weißer Mann, was nun?" ("Die Welt") titelten deutsche Medien.
Der medial lautstark begleitete Fehlstart des SPD-Kanzlerkandidaten, Peer Steinbrück, in den Bundestagswahlkampf füllte in der Weihnachtszeit die Schlagzeilen und wurde ebenfalls als Beleg dafür gesehen, dass vermeintlich typische Eigenschaften weißer Männer gesellschaftlich nicht länger attraktiv wirkten. Dazu passte schließlich auch das Anfang 2013 auf Deutsch erschienene und breit diskutierte Buch der amerikanischen Reporterin Hanna Rosin mit dem provokativen Titel "Das Ende der Männer und der Aufstieg der Frauen". Ihr zufolge habe die Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2007 offengelegt, dass Frauen den neuen Arbeitsverhältnissen besser angepasst seien als Männer und diese zunehmend hinter sich lassen würden.
Vor diesem Hintergrund konnte nun auch Brüderle als Opfer einer sexistischen Berichterstattung wahrgenommen werden, die sich in der Negativierung, Verabschiedung und Diffamierung der Männer eingerichtet habe und für die die Schuldigen grundsätzlich nur die Männer sein konnten.
Ersatzkompensatorische Negativierung
Mit dem Soziologen Christoph Kucklick beteiligte sich auch einer der ausgewiesensten Experten an der Debatte über einen antimännlichen Sexismus. In einem Beitrag für "Spiegel Online" mahnte er eine "Gesamtrechnung der Gender-Gerechtigkeit" an. Man habe es grundsätzlich mit "gegenläufigen, vielfältigen Sexismen" zu tun, "die nach wie vor Frauen, aber eben auch Männer treffen können".
Kucklicks Ansatz hinterfragt die allgemeine Fokussierung auf Machtanalytik in den Geschlechterwissenschaften. Eine solche versperre nicht nur den Blick auf sexistische Beleidigungen auch der Männer, sondern grundsätzlicher die Tatsache, dass die Moderne gerade von der Überführung traditionell-hierarchischer Beziehungen in die "Heterarchie der modernen Geschlechterverhältnisse" geprägt sei, "in der sozialer Wert, gesellschaftlicher Rang und geschlechterideologische Zuschreibungen ganz neue, komplexe Verbindungen"
Ein Grundproblem der Argumentation liegt in dieser expliziten Abkehr von der Fokussierung auf Machtfragen. Sie lässt den Verdacht aufkommen, dass im Interesse des Fortbestands bestehender Machtgefälle auf deren Invisibilisierung hingearbeitet wird. Das gilt auch für die Fokussierung auf eine "antimännliche Andrologie" um 1800 und die ihr eigene Tendenz zur Symmetrisierung der Sexismen.
Allerdings zeigt sich selbst bei Lembkes ausgewogenem Beitrag, dass die Fixierung auf die Geschlechterhierarchie tatsächlich, wie Kucklick schreibt, von einem "blinden Fleck"
Am 2009 erschienenen, inflationsbereinigt erfolgreichsten Kinofilm aller Zeiten, "Avatar – Aufbruch nach Pandora", lässt sich das beispielhaft aufzeigen. Während sich das Frauenbild gegenüber dem um 1800 deutlich gewandelt hat und Frauen fast ausnahmslos nicht nur als differenzsensibel und moralisch integer, sondern auch als kompetent und mutig gezeichnet werden, erscheinen weiße Männer fast durchgängig als unempathisch, rücksichtslos, interessengesteuert und gegenüber allen Schwächeren und der Umwelt unsensibel und aggressiv. Das entspricht ziemlich exakt jenen abwertenden Charakterisierungen, die Kucklick bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufkommen sieht: "gewalttätig, egoistisch, asozial, unmoralisch, hypersexuell, triebhaft, gefühlskalt, kommunikationsunfähig und verantwortungslos".
Abgesehen von der Hartnäckigkeit dieser Attribute fällt noch etwas anderes auf. Kucklick zufolge ist das Aufkommen einer negativen Andrologie Ausdruck einer Verunsicherung, die mit der Umstellung von einer stratifikatorisch auf eine funktional differenzierte Gesellschaft verbunden ist.
Man wird daher nach alternativen Erklärungen zu suchen haben, von denen mir eine medienhistorische besonders aussichtsreich erscheint. Im Zuge der Massenalphabetisierung im 18. Jahrhundert verringerte sich der Abstand zwischen den Alphabetisierungsgraden von Männern und Frauen beträchtlich. Gleichzeitig fand in der Wissenschaft ein Übergang vom Lateinischen zu den jeweiligen Nationalsprachen statt.
Eine solche Interpretation hat den Vorteil, auch kulturelle Abwertungen des Männlichen in den Blick nehmen zu können, ohne dabei Gefahr zu laufen, sie zu überschätzen und dadurch einer kontrafaktischen Angleichung der Sexismen oder gar Viktimisierungen der Privilegierten zuzuarbeiten.
Reaktionäres Ressentiment
Eine Debatte über einen antimännlichen Sexismus kann Aspekte zum Vorschein bringen, die lange Zeit wenig beachtet wurden. Doch bereits die erwähnte Gefahr, symbolische Abwertungen zu überschätzen, zeigt ein grundlegendes Folgeproblem von Fokussierungen der Privilegierten auf sich selbst: das Problem der schiefen Ebene. Was zunächst als legitime Thematisierung von Problemen beginnen mag, als Artikulation von Nachteilen und Sexismen, von denen auch Männer betroffen sind, mutiert schleichend zu einer problematischen Symmetrisierung der Diskriminierungsverhältnisse und landet schlimmstenfalls bei ihrer Inversion: einer Viktimisierung der Männer, die zu "Delinquentisierungen" Diskriminierter verführt.
Schon die Titel oder Untertitel einschlägiger Beiträge lassen eine solche Tendenz erkennen: "Das verteufelte Geschlecht" (Kucklick), "Das missachtete Geschlecht" (Walter Hollstein),
Zwar ist es richtig, dass Privilegierte mit gegen sie gerichteten Ressentiments zu rechnen haben. Wozu sie aber notorisch tendieren, ist die Möglichkeit zu unterschätzen, selbst dem Ressentiment zu unterliegen. Der französische Literatur- und Religionswissenschaftler René Girard hat die Gefahr dieses spezifischen Ressentiments als vielleicht Erster diagnostiziert – und zwar anhand des französischen Adels im 18. und 19. Jahrhundert: "Der Adlige, der vergleicht, ist, gesellschaftlich betrachtet, etwas adliger, geistig betrachtet jedoch bereits etwas weniger adlig. Ein Denkprozeß ist in Gang gesetzt, der allmählich den Adligen von seinem eigenen Adel trennt und diesen, vermittelt im Blick des Nicht-Adligen, in schlichten Besitz verwandelt. (…) Von nun an wird der Adel nicht mehr davon ablassen, die übrigen, zur Nachahmung des Adels bestimmten Klassen in die Eitelkeit zu führen und ihnen auf dem verheerenden Weg des metaphysischen Begehrens sogar voranzuschreiten."
Girards zentrale, christlich inspirierte Einsicht besteht darin, dass das "mimetische", also das vom Begehren des Anderen angeheizte Begehren, gerade nicht nur die Schwächeren eingegrenzt werden kann. Er affiziert ausnahmslos alle, also auch jene, die als Privilegierte oder Bessergestellte gerne dazu tendieren, das mimetische Begehren auf die Schwächeren zu beschränken und sich selbst davon frei glauben. Analog kann man das reaktionäre Ressentiment als Dekadenzausdruck verstehen, der bei denen ins Spiel kommt, die degradiert oder geschwächt werden oder solches befürchten. Es betrifft daher jene, denen es relativ zu anderen gesehen immer noch besser geht. Girard deutet dies an, indem er sagt, die Adligen würden auf dem verheerenden Weg des metaphysischen Begehrens voranschreiten. Die Eigentümlichkeit des reaktionären Ressentiments besteht darin, dass die absteigenden oder von Abstiegsangst besessenen Bessergestellten in der Regel zu stolz sind, sich ihr Ressentiment anmerken zu lassen oder einzugestehen. Es ist in der Tat peinlich, anderen etwas zu neiden, denen es objektiv weniger gut geht. Daher äußert sich dieses Ressentiment nicht direkt, sondern im Modus einer schwer zu durchschauenden Projektion.
Der berühmt-berüchtigte Begriff der "spätrömischen Dekadenz", mit dem der ehemalige FDP-Parteichef Guido Westerwelle in einer Zeit eskalierender Umverteilung nach oben ausgerechnet die Lebensverhältnisse von Hartz-IV-Empfängern titulierte, war gerade in seiner monströsen Abseitigkeit und Umkehrung der wahren Verhältnisse sichtbarer Ausdruck eines solchen Ressentiments in seiner reinsten Form. Es war Ausdruck einer Abstiegserfahrung (des eigenen Absturzes als Parteichef ebenso wie des Absturzes der eigenen Partei und des Neoliberalismus überhaupt) im Modus der Verurteilung der anderen. Auch eine in den vergangenen Jahren in Deutschland verbreitete Tendenz, Südeuropäern antideutsche Einstellungen vorzuhalten, ist nicht frei von Ressentiments gegenüber denen, die man im Verdacht hat, im sonnigen Süden ein schönes Leben geführt zu haben und die nun angeblich "auf unsere Kosten gerettet" werden müssen.
Es gibt natürlich Ressentiments gegenüber Bessergestellten. Das Problem ist aber die elitäre Begrenzung des Ressentiments auf die Schwächeren (die "Sklavenmoral" bei Friedrich Nietzsche, die "Beherrschten" bei Max Scheler, die "Verlierer" bei Peter Sloterdijk, die "Hartz-IV-Empfänger" bei Westerwelle), denn genau diese ist in der Regel Ausdruck eines verkappten Ressentiments. Ebenso laufen (weiße, heterosexuelle) Männer, die auf ihre Benachteiligungen fokussieren, Gefahr, auch noch bei stigmatisierten und diskriminierten Identitäten nach deren Vorteilen zu schielen und dabei ihr Ressentiment in der Projektion eines umfassenden, gegen sie gerichteten Ressentiments zu übersehen.
Fazit
Es wäre abwegig, jegliche Thematisierung eines antimännlichen Sexismus mit Verweis auf die Gefahren eines reaktionären Ressentiments zu inkriminieren. Es gibt auch Asymmetrien zuungunsten der Jungs und der Männer, ebenso wie auch Männer oder das Männliche Gegenstand sexistischer Abwertungen werden können. Ebenso wenig hilfreich ist es, solche Klagen mit Verweis auf einen strukturellen Sexismus gegen Frauen als Wehleidigkeit abzutun. Dadurch werden ironischerweise männliche Stereotype wie Einsilbigkeit oder Härte im Nehmen noch bekräftigt.
Gleichzeitig können gerade Privilegierte dazu tendieren, Gleichstellungsmaßnahmen als diskriminierende und gegen sich gerichtete Maßnahmen misszuverstehen. Sobald sie auf eigene Schlechterstellungen und Abwertungen fokussieren, laufen sie daher Gefahr, partielle Diskriminierungen und bloße symbolische oder kulturelle Abwertungen und Ausschlüsse zu überschätzen und dabei auf eine schwer zu kontrollierende schiefe Ebene zu geraten, an deren Ende die Inversion der Diskriminierungsverhältnisse, die Selbstviktimisierung und im schlimmsten Fall der Absturz in antifeministische, homophobe oder rassistische Gewalt steht.
Wie ich anderswo genauer ausgearbeitet habe,