Erstaunlich große und unterschiedliche Teile der Öffentlichkeit(en) beteiligten sich an der Sexismus-Debatte im Jahr 2013, und das auf allen Kanälen. Sie begann mit einer Welle der Empörung und mit viel Medieninteresse am sexistischen Verhalten eines Spitzenpolitikers. Und sie endete in einem Wahlkampf, in dem der betreffende Mann im Gespräch mit Journalisten kein einziges Mal gefragt wurde, ob er inzwischen denn eingesehen habe, warum man den Busen einer Frau im beruflichen Zusammenhang nicht kommentiert. Dazwischen lagen Talkshows, in denen sich einige von Deutschlands bestbezahlten Moderatoren auf dem Tiefstand ihres Niveaus zeigen konnten, eine überwältigende Fülle von Berichten unter dem Hashtag Aufschrei (#aufschrei) und ungezählte Diskussionen, die ein Wort wieder in den öffentlichen aktiven Wortschatz zurückkehren ließen, das lange als "verstaubt" und "altfeministisch" gegolten hatte: Sexismus.
Sind wir in diesem Jahr also insgesamt vorangekommen oder nicht? Ja, denn die Debatte hat vielen Frauen Selbstbewusstsein gegeben und unsere feministische Wahrnehmung geschärft; aber etliche Erkenntnisse, die nötig wären, um das Problem bei der Wurzel zu packen, haben wir noch immer nicht durchsetzen können. Zum Beispiel ist es der Gegenseite immer wieder gelungen, zu suggerieren, dass es uns, die Sexismus kritisieren, um eine Art Verhaltenskodex oder "Gender-Knigge" gehe, wobei wir angeblich in gefährlicher Nähe zu Lustfeindlichkeit und Humorlosigkeit operieren. Es ist natürlich nicht schwer, Kritik an einem gesellschaftlichen Ganzen dadurch ins Lächerliche zu ziehen, dass man einzelne Phänomene aus dem Zusammenhang reißt und in sie so weit hineinzoomt, bis sie banal wirken. "Ein Foto von einem schönen Körper, einem lächelnden Mund, im Wind wehenden Haaren – was soll jetzt daran sexistisch sein? Habt ihr vielleicht etwas gegen Schönheit oder Haare?"
Wenn wir weiter an dem Wort "Sexismus" als Teil des aktiven deutschen Wortschatzes arbeiten wollen, müssen wir daher vor allem deutlich machen, dass Sexismus nicht nur ein Einwand gegen eine bestimmte Bemerkung, ein einzelnes Grabschen oder eine Werbekampagne ist – sondern dass dieser Begriff ein Grundmuster unserer Gesellschaft bezeichnet. Man wird ein einzelnes Bild oder ein Verhalten nicht einmal als sexistisch erkennen oder benennen können, wenn man sich scheut, Sexismus insgesamt zu verstehen oder zu benennen. Wir leben in einer grundlegend geschlechterungerechten und sexistischen Gesellschaft – aber sich dies einzugestehen, dazu hat sich die breite Öffentlichkeit auch im Jahr 2013 noch nicht durchgerungen.
Ich meine also etwas Grundsätzlicheres, nämlich ein strukturelles Problem, wenn ich sage: Sexismus besitzt einige wiederkehrende Komponenten – Körper, Geschlecht, Macht, Grenzüberschreitung, Demütigung – und im Konkreten viele Gesichter. Und ich möchte ein Beispiel für Sexismus geben, das sich alltäglich so oder ähnlich manifestieren kann, ganz unspektakulär, ohne offenkundige dramatische Opfer; und das übrigens nicht nur ohne Spitzenpolitiker, sondern überhaupt ohne Täter auskommt: An der Bushaltestelle stehen zwei junge Mädchen. In Röhrenjeans und mit Stiefeletten; die Beine haben sie jeweils überkreuzt und die Fußspitzen so nach außen gedreht, dass man aus dieser Position keinen Schritt tun kann. Es gibt ja für Mädchen und Frauen drei Arten, dekorativ herumzustehen: die eine Hüfte hochgezogen; beide Füße einwärts gedreht (so steht Heidi Klum bisweilen mit ihrer "Jury", auf diese Weise sieht auch eine großgewachsene Frau ein bisschen nach Kind aus); oder eben die Füße überkreuzt.
Keine dieser Haltungen ist in orthopädischer Hinsicht gesund, und keine zeigt an, dass die Person willens oder aus dem Stand in der Lage wäre, sich vom Fleck zu bewegen; im Gegenteil sind es Haltungen der inszenierten Tollpatschigkeit, Kindlichkeit und Selbstblockade. Signale der Inferiorität und der Anerkenntnis, dass wir die Hauptfunktion unseres Körpers nicht darin sehen, uns stark und sicher durch die Welt zu tragen. Sondern hübsch auszusehen. Wer einmal mit hohen Absätzen versucht hat, einen beinahe schon losfahrenden Bus zu erwischen, weiß, was ich meine. Das Bein sieht schön und "verlängert" aus, ist als Bein aber nur eingeschränkt zu gebrauchen.
Warum ist das jetzt eine Veranschaulichung von Sexismus? Weil die Tatsache, dass wir in einer sexistischen Gesellschaft leben, unter anderem auch dieses bedeutet: dass Körperlichkeit für viele von uns in vielen Situationen nicht heißt, sich zu bewegen, sondern zu verharren; und dass wir immer wieder auf diesen Körper zurückgeworfen und zum Stillstand gebracht werden können. Das haben diese jungen Mädchen an der Bushaltestelle mit der älteren Geschlechtsgenossin gemeinsam, die in einer öffentlichen Diskussion, zum Beispiel in einem der erwähnten TV-Talks, teilnimmt und plötzlich merkt: Eigentlich bin ich hergekommen, um meine Meinung zu sagen – aber plötzlich ist alles Körper. Die Herren (meist ohnehin in der Überzahl) plumpsen breitbeinig in ihre Sessel, aber die Frauen sind damit beschäftigt, die Beine beieinander zu halten oder so zu überschlagen, dass es auf dem Bildschirm nicht ungünstig wirkt. Bei den Männern darf der Bauch gemütlich unterm Jackett herausschauen; die Frauen ziehen meist etwas "Körperbetonteres" an, und ihr Bauch gilt nicht als normal, sondern als verräterisches Indiz dafür, dass sie "wohl ein bisschen aus dem Leim gegangen" sind. Für das Pudern der Männer haben die Maskenbildnerinnen vor der Sendung drei Minuten gebraucht, die Frauen wurden 20 Minuten lang geschminkt. (Warum eigentlich – gelten Frauen nicht als das schöne Geschlecht? Wenn sie also schöner sind als Männer, müsste dann das Schminken von Männern nicht länger dauern? Aber es ist natürlich umgekehrt.)
Sexismus heißt ebenfalls: dass Sexualität keine rein lustvolle Angelegenheit zwischen zwei Personen ist, sondern wiederum von der einen auf Kosten der anderen eingesetzt werden kann; dass die Grenzen zwischen dem einen Körper und dem anderen, zwischen dem Erotischen und dem Nicht-Erotischen, nicht von beiden Beteiligten gleichberechtigt gezogen werden, sondern dass einer dabei mehr Definitionsgewalt hat. Damit ist alles gemeint von der gewalttätigen sexuellen Handlung bis zu dummen Sprüchen, von denen ja auch die Debatte 2013 ihren Ausgang nahm. Solche anzüglichen Bemerkungen im beruflichen Kontext sind eine Grenzverschiebung. Vorab geeinigt haben sich beide auf das berufliche Gespräch, doch er nimmt sich heraus, jederzeit ihren Körper ins Spiel bringen zu können – ein willkürlicher, unvorbereiteter, einseitig initiierter Wechsel der Ebenen.
Was ist nun der entscheidende Unterschied zwischen einer sexistischen Bemerkung und einem Flirt? Bei einem Flirt probiert man zunächst aus, ob dem anderen dieser Wechsel der Ebenen auch gefällt. Man erhofft es, ansonsten ist es einem eher peinlich und man zieht sich zurück. Bei einem Flirtversuch sieht man doch zumindest eine gewisse Chance, sein Gegenüber zu erfreuen; der Spruch des älteren Alphatiers gegenüber der jüngeren Journalistin hingegen bezweckt dies gar nicht, und er ist daher auch kein "Kompliment". Falls diese Bemerkung etwas mit Lust zu tun hat, dann nur mit der des Sprechers, und ein Teil seiner Lust besteht gerade darin, dass er die Frau gegenüber auf ihren Busen ansprechen kann, wann immer er – und egal ob sie – es will. Auch hier läuft es wieder darauf hinaus, dass jede Frau jederzeit von ihren Inhalten, ihrem Beruf oder von der Bedeutung dessen, wofür sie kämpft, ein kleines Stück zurückgepfiffen werden kann, indem man einfach nur auf ihren Körper und ihr Geschlecht, ihre vorhandene oder mangelnde Attraktivität oder ihre körperliche Verletzlichkeit anspielt und daran erinnert.
Gewiss sind diese Grenzen, wann eine einzelne Geste oder eine Äußerung sexistisch ist, nicht absolut trennscharf; man kann sich irren, und es gibt Abstufungen. Neulich wurde im Internet diskutiert, ob ein bestimmtes Werbeplakat sexistisch sei, weil es rot geschminkte Frauenlippen in Großaufnahme zeigte. Warum gilt ein Frauenmund meist als gepflegter, ansprechender? Warum tragen nur Frauen Lippenstift? In einer grundlegend sexistischen Gesellschaft sind ungezählte Phänomene sexistisch eingefärbt, weil unnötig gegendert, also auf Männer oder Frauen bezogen; und wenn gegendert, dann unter Bezug auf bestehende Geschlechterrollen und -stereotype. Die Frage, ob eine Geste oder eine Darstellung sexistisch sei, heißt daher meist: ob sie zu sexistisch sind, ob eine gewisse, kontextabhängige Schwelle überschritten wurde. Wo diese Schwelle liegt, das verdankt sich weder bloß "subjektiver Empfindlichkeit" noch ergibt es sich aus präziser Mathematik. Wir müssen darüber und über den gesamten Hintergrund des strukturellen Sexismus eben weiter debattieren.