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Das große Schweigen? Was vom #aufschrei übrig blieb | Sexismus | bpb.de

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Das große Schweigen? Was vom #aufschrei übrig blieb

Miriam Hollstein

/ 8 Minuten zu lesen

Es war nur ein Satz. Doch er machte die ganze Verunsicherung deutlich. "Darf ich eigentlich noch mit Ihnen reden?" Ich hörte ihn oft im Frühjahr 2013. Die, die ihn sagten, waren Spitzenpolitiker, Sprecher und Referenten. Einige von ihnen kannte ich schon seit Jahren. Man traf sich auf Medienempfängen, Parteitagen und bei Hintergrundgesprächen. Aber plötzlich stellten sie mir eine neue Frage. Manche lachten dabei, andere schauten sich nervös um. Die Irritation in unserer Kommunikation war Ausdruck einer Ratlosigkeit, die durch den Artikel der "Stern"-Journalistin Laura Himmelreich und die sich daran anschließende Sexismus-Debatte ausgelöst worden war: Was ist im Kontakt zwischen Politikern und Medienvertreterinnen noch erlaubt?

Der Frage war ein doppelter Regelbruch vorangegangen. Ein älterer Spitzenpolitiker hatte einer jungen Reporterin gegenüber am Rande eines Parteitreffens Anfang 2012 anzügliche Bemerkungen gemacht. Er hatte eine Grenze überschritten. Der zweite Regelbruch folgte ein Jahr später. Die Journalistin machte die Geschichte publik: In ihrem Porträt über den Politiker beschrieb sie auch, was an jenem Abend vorgefallen war.

Regelbrüche der ersten Kategorie gibt es oft. Die Politikberichterstattung bewegt sich häufig in einer Grauzone zwischen beruflicher und semi-privater Atmosphäre. Ob ein gemeinsamer "Absacker" am Abend eines langen Parteitags oder eine kleine Abschlussrunde an der Hotelbar bei Dienstreisen nach dem offiziellen Programm – die Grenzen sind mitunter fließend. Es sind Situationen, in denen Duzfreundschaften entstehen, manchmal Verhältnisse eingegangen werden und gelegentlich Grenzüberschreitungen geschehen.

Die Verquickung von Macht und Sexismus ist dabei keineswegs neu. In der Bonner Republik, in der sich politische Korrespondentinnen noch deutlich in der Minderheit befanden und eine überwiegend männliche und noch stärker von alten Rollenbildern geprägte Politikergeneration das Sagen hatte, gehörte die als Anmache getarnte Machtdemonstration zum schlechten Ton dazu. Die ehemalige Bonner "Spiegel"-Korrespondentin Ursula Kosser hat das Phänomen unlängst in einem Buch beschrieben. Sie schildert darin freilich auch die Kehrseite des Phänomens: der gezielte Einsatz von Weiblichkeit und Sex, um an exklusive Informationen zu gelangen.

Dass aus einem dieser Vorfälle eine bundesweite Debatte entstehen konnte, dazu bedurfte es noch des zweiten Regelbruchs: der Veröffentlichung des Namens des Politikers. Nun, da der vermeintliche oder mutmaßliche Sexismus ein Gesicht bekommen hatte, mussten sich die Akteure zu dem Vorwurf verhalten. Weitere Faktoren kamen hinzu. Der Artikel von Laura Himmelreich traf einen gesellschaftspolitischen Nerv: Wie gehen wir, Gesellschaft, Medien und Politik, mit Sexismus um? Und was ist Sexismus im Jahr 2013 überhaupt?

Wie virulent das Thema bereits war, hatte kurz zuvor ein anderer Artikel verdeutlicht. In ihm hatte die "Spiegel-Online"-Redakteurin Annett Meiritz über Sexismus in der Piratenpartei berichtet. Auslöser war die aus Parteikreisen stammende Unterstellung gewesen, sie unterhalte ein Verhältnis mit Politikern der Partei. Auch dies ist ein verbreitetes sexistisches Klischee: Journalistinnen erwerben ihre Informationen nicht durch seriöse Recherche, sondern durch Körpereinsatz.

Parallel zur Veröffentlichung des Artikels der "Stern"-Reporterin Himmelreich fand in einem Blog eine Auseinandersetzung mit einer Aktion gegen Sexismus in Großbritannien statt. Sie war der Impuls für Anne Wizorek, auf Twitter unter dem Hashtag Aufschrei (#aufschrei) eine Debatte zu initiieren. Die Ausweitung der (Debatten-)Kampfzone auf Twitter führte zu einer kulturgeschichtlichen Zäsur. Während in den Redaktionen der traditionellen Medien noch überlegt wurde, ob die Himmelreich-Geschichte mit einem Kommentar gewürdigt werden sollte (und wenn ja, mit welchem), beschrieben Tausende von Frauen und auch einige Männer auf Twitter unter #aufschrei eigene Erfahrungen der Diskriminierung. So stark und heftig waren die Reaktionen, dass die Diskussion – obgleich sie sich zunächst nur in einem noch als elitäres "Nischenmedium" wahrgenommenen sozialen Netzwerk abspielte – auch von den großen Verlagshäusern und TV-Anstalten nicht länger ignoriert werden konnte. Das Thema wurde zum Gegenstand von Printartikeln, Fernsehnachrichten, Hörfunksendungen und Talkshows. In diesem Ausmaß ist das zuvor und seither keiner anderen Kampagne aus den sozialen Netzwerken gelungen.

Schnell weitete sich der mediale Fokus. Nun ging es um die grundsätzlichen Fragen. Um den Umgang der Geschlechter miteinander, um Feminismus und poststrukturalistische Gendertheorien, aber auch um einzelne Aspekte wie sexuelle Diskriminierung am Arbeitsplatz oder männerdominierte Arbeitskulturen. Auf diese Weise kehrte das Thema auch wieder dorthin zurück, woher es gekommen war: in die politische Sphäre.

Dass hier ein Wendepunkt in der politischen Kommunikation stattgefunden hatte, zeigte ein paar Monate später die Verleihung des Grimme Online Awards, dem wichtigsten Preis für Online-Inhalte, an die Initiatorinnen des #aufschrei. Erstmals wurden ein Hashtag und der damit verbundene Diskurs gewürdigt. Und selbst der ranghöchste Repräsentant des Staates äußerte sich. Auf die Frage, ob er den Umgang mit dem FDP-Politiker Rainer Brüderle als unfair empfunden habe, kommentierte Bundespräsident Joachim Gauck in einem Interview mit dem "Spiegel" gleich die ganze Debatte: "Wenn so ein Tugendfuror herrscht, bin ich weniger moralisch, als man es von mir als ehemaligem Pfarrer vielleicht erwarten würde." Mit Sicherheit gebe es in der Frauenfrage noch einiges zu tun. "Aber eine besonders gravierende flächendeckende Fehlhaltung von Männern gegenüber Frauen kann ich hierzulande nicht erkennen."

Wer ein Jahr nach Beginn der #aufschrei-Debatte nach konkreten Spuren sucht, wird trotzdem nur wenige finden. Haben Kommentatoren wie Alexander Kissler, Ressortleiter Salon bei der Zeitschrift "Cicero", also Recht behalten, als sie die Diskussion für wirkungslos erklärten, noch während sie in vollem Gang war?

Aus den klassischen Medien ist das Thema längst wieder verschwunden. Auch bei Twitter sind die Einträge spärlich geworden. Verhalten klingt die Bilanz der Journalistin Laura Himmelreich. In ihrem Beitrag "Wie die stern-Autorin den #aufschrei erlebte" entzieht sie sich allen Zuschreibungen der vergangenen zwölf Monate – und nimmt dies auch für ihr politisches Gegenüber in Anspruch. "Rainer Brüderle und ich dienten als Projektionsflächen. Wir bekamen die Rollen des Täters und des Opfers beziehungsweise des Opfers und der Täterin – je nach Sichtweise", schreibt Himmelreich. "Wir waren Antagonisten einer Debatte über die ebenso einfache wie alte Frage: Wie gehen Männer und Frauen korrekt miteinander um?"

Eine Antwort hat die Debatte nicht geben können. Es sind keine neuen Gesetze oder Kodizes entstanden, an denen man eine Weiterentwicklung oder ein Ergebnis festmachen könnte. Dennoch hat der #aufschrei mehr verändert, als es zunächst scheint.

Geblieben ist #aufschrei als Möglichkeit, mit einem einzigen Schlagwort an eine ganze Debatte zu erinnern. Vereinzelte Versuche, die Semantik des Begriffs umzudeuten – etwa als Empörung über politische Missstände – sind gescheitert. Der #aufschrei bleibt fest mit der Sexismus-Debatte verbunden.

Manifest geworden ist durch die Diskussion, dass wir das Entstehen eines neuen Feminismus erleben. Neu an ihm ist, dass er sich von älteren Vertreterinnen der Frauenbewegung wie Alice Schwarzer loslöst und einen großen Teil seiner Dynamik aus dem Netz gewinnt ("Netzfeminismus"). Dieser Erfolg wird auch von älteren Frauenrechtlerinnen anerkannt. So machte die britische Kulturtheoretikerin und Feministin Angela McRobbie im #aufschrei einen "feministischen Frühling" aus.

Eine weitere Folge ist die Aufwertung der sozialen Netzwerke als Plattform für gesellschaftspolitische Diskussionen. Insbesondere der Kurznachrichtendienst Twitter ist als Medium relevanter geworden. Er wird nun in weiten Teilen von Politik, Medien und Gesellschaft auch als politischer Faktor wahrgenommen. Mehr als das: Wir haben während des #aufschrei ein zukunftsweisendes Zusammenspiel zwischen den "alten" und den "neuen" Medien erlebt. Obgleich im Netz angestoßen, hätte die Debatte ohne die klassischen Medien nicht jene Relevanz bekommen, die sie am Ende hatte. Umgekehrt wurden die klassischen Medien geradezu durch die neuen Medien gezwungen, sich des Themas anzunehmen.

Festzustellen ist, dass die #aufschrei-Kampagne einen kulturellen und gesellschaftspolitischen Referenzpunkt geschaffen hat. Dies gilt insbesondere für den politischen Raum. Spitzenpolitiker müssen stets damit rechnen, dass ihr (privates) Fehlverhalten einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht wird. Twitter spielt dabei eine durchaus ambivalente Rolle. Der Kurznachrichtendienst ist nicht nur zur politischen Plattform, sondern auch zu einer Art Pranger geworden, zum Strafwerkzeug der Postmoderne. Wie im Mittelalter auf den Marktplätzen, so wird hier der, der sich in den Augen seiner Richter(innen) fehl verhalten hat, öffentlich vorgeführt. Problematisch ist freilich, dass hier kein Gremium, ja nicht einmal eine Redaktionsleitung darüber entscheidet, über wen diese Strafe verhängt wird. Es liegt einzig im Empfinden des twitternden Individuums, das keinerlei Rechenschaft ablegen muss und sich zudem in der Anonymität verstecken kann. Die einzige Kontrolle, der es ausgesetzt ist, ist die Gemeinschaft der anderen Twitter-Nutzer.

Das kann gravierende Folgen haben: Für den FDP-Politiker Brüderle markierte die Kampagne den Beginn vom Ende seiner Karriere. Zwar lässt sich nicht messen, ob und in welchem Maß der Sexismus-Vorwurf die Bundestagswahl 2013 beeinflusste, bei der die FDP den Wiedereinzug ins Parlament verpasste. Sicher ist aber, dass er dazu beitrug, Brüderles Image zu beschädigen. Er selbst verweigerte sich der öffentlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema. So bleibt nicht nur die Klärung der Gesamtproblematik, sondern auch die des konkreten Falles offen.

Dass es auch anders geht, zeigt eine andere Geschichte. Sie geht auf die einzige Grenzüberschreitung zurück, die ich in meiner über 15-jährigen Karriere als politische Reporterin erlebt habe. Ich hatte vor Jahren bei einem Medienempfang einen schon erkennbar angetrunkenen Spitzenpolitiker nach einem Interview gefragt. Daraufhin versuchte er, mich zu küssen. Ich wandte mich irritiert ab, sagte aber nichts. Bei allen weiteren Treffen verhielt sich der Politiker mir gegenüber korrekt. Kurz nach Beginn der #aufschrei-Diskussion bat mich der "Stern" um eine Stellungnahme zum Thema. Ich beschrieb darin den Vorfall, ohne einen Namen zu nennen. Am Tag der Veröffentlichung läutete in meiner Redaktion das Telefon. Der Politiker war persönlich am Apparat. Er habe den Beitrag gelesen und zu seiner Überraschung von seinen Mitarbeitern erfahren, dass es sich um ihn handele. Auch wenn er sich nicht mehr an den Vorfall erinnern könne, wolle er mich um Entschuldigung für sein Verhalten bitten.

Meine tägliche Arbeit hat sich durch den #aufschrei nicht verändert. Die Ankündigung einiger Politiker, man werde mit Journalistinnen keine Vier-Augen-Gespräche mehr führen, ist meines Wissens nicht umgesetzt worden. Die Frage, ob man sich schon bei einem Gespräch mit mir des Sexismus-Verdachts aussetzt, wird mir nicht mehr gestellt. Aber wenn wie neulich ein Politiker bei unserer ersten Begegnung während einer Abendveranstaltung scheinbar spielerisch meine Hand nimmt, um mir etwas "zu erklären", dann wissen wir beide, dass wir uns auf dünnem Eis bewegen. Ein #aufschrei ist nur 140 Twitterzeichen entfernt.

M.A., geb. 1970; Journalistin; seit 2006 Innenpolitik-Redakteurin bei "Die Welt", Axel-Springer-Straße 65, 10888 Berlin. E-Mail Link: miriam.hollstein@welt.de