Am 21. Juni 2013 wurde der #aufschrei auf Twitter mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Als erster Hashtag
#aufschrei war ein Kulminationspunkt, anhand dessen mehr verhandelt wurde als "nur" die problematische Alltäglichkeit von Sexismus und sexuellen Übergriffen. Unübersehbar prallten in der Debatte neben Befürworter_innen und Kritiker_innen des #aufschrei auch die unterschiedlichen Medienlogiken aufeinander. Digitale Öffentlichkeiten vs. Massenmedien. "Neue" Medien gegen "alte". Und oftmals Ratlosigkeit auf beiden Seiten. Doch dieses Aufeinanderprallen war für die Konjunktur von #aufschrei mitverantwortlich.
Ihren Anfang nimmt die Sexismus-Debatte im Januar 2013 mit zwei Texten. Am 24. Januar erscheint im "Stern" unter dem Titel "Der Herrenwitz"
Auch der zweite Text erscheint am 24. Januar. In ihrem Blogbeitrag "Normal ist das nicht!"
Was beide Artikel – unabhängig vom Ort der Publikation – eint, sind die Schilderungen persönlicher Erfahrungen mit Sexismus. Für politikjournalistische Artikel ist dies ein deutlicher Tabubruch. Sowohl die Form des Artikels von Himmelreich als auch der Inhalt, das heißt das explizite Benennen und Kritisieren des erlebten Sexismus, brechen mit journalistischen Gepflogenheiten, die sich nach wie vor an der (vagen) Vorstellung orientieren, "objektive" (und damit gute) Berichterstattung setze voraus, dass die Journalistin nicht "ich" sagt.
Anders verhält es sich mit Blogposts. Die Bildung digitaler Öffentlichkeiten durch Blogs, Facebook oder Twitter funktioniert deshalb, da Menschen ihren Blick auf (politische) Phänomene oftmals radikal persönlich und vor allem offen subjektiv formulieren. Das gilt ebenso für (netz-)feministische Gegenöffentlichkeiten, die sich in Anlehnung an Nancy Fraser als "parallele diskursive Räume" beschreiben lassen, "in denen Angehörige untergeordneter sozialer Gruppen Gegendiskurse erfinden und in Umlauf setzen, die es ihnen wiederum erlauben, oppositionelle Interpretationen ihrer Identitäten, Interessen und Bedürfnisse zu formulieren".
In Anlehnung an diesen Text fängt Nicole von Horst (auf Twitter: @vonhorst) in der Nacht vom 24. auf den 25. Januar an, ihre persönlichen Erfahrungen mit Sexismus und sexuellen Übergriffen zu twittern. Neben Solidaritätsbekundungen taucht auch die Frage auf, ob von Horst ein neues Mem (Gedanke, Inhalt, der weiterverbreitet wird) schaffen will. Während zunächst die Nutzerin Jasna Strick (@faserpiratin) darüber nachdenkt, die Erfahrungen mit einem Hashtag zu versehen, ist es schließlich Anne Wizorek (@marthadear), die diese Idee aufgreift und – in Anlehnung an den englischen Hashtag shoutingback – #aufschrei vorschlägt.
Diese Entstehungsgeschichte ist paradigmatisch für Netzphänomene. Social-Media-Plattformen wie Twitter funktionieren dezentral und über Many-to-many-Kommunikationen. Der Hashtag entsteht spontan und wird in der öffentlichen Interaktion mehrerer Nutzer_innen ausgehandelt. Ein Hashtag funktioniert, weil Menschen ihn auf die ein oder andere Weise verstehen, weil sie ihn aufgreifen und durch die Art, wie sie ihn verwenden, welche Bedeutung sie ihm zuschreiben, immer auch ein Stück formen und verändern. Erst so spinnt sich ein Netz an Bedeutungen. "Dezentralisierung", schreibt der Medienwissenschaftler Stefan Münker, "ist das Konstruktionsprinzip des Netzes. (…) Nicht alles, aber vieles von dem, was im Internet erzeugt oder über das Internet vermittelt wird, ist ein Effekt dezentraler Momente. Und so eben (…) auch die Öffentlichkeiten, die sich in ihm bilden."
Nach dem Vorschlag Wizoreks dauert es knapp zehn Minuten, bis die Ersten den Hashtag verstehen und anfangen, unter #aufschrei ihre Geschichten zu teilen.
Spätestens seit dem Erfolg der Piratenpartei ist die öffentliche Twitter-Interaktion zwischen Journalist_innen und politischen Akteur_innen Routine. So leicht der Zutritt zum Medium und so egalitär die Interaktionen auch wirken, soziales und kulturelles Kapital spielen dabei stets eine Rolle: Wer gut vernetzt ist, viele Follower_innen hat, die richtige Sprache spricht und die habituellen Gepflogenheiten des (elitären) Kreises kennt,
Am Vormittag des 25. Januar berichten die ersten Online-Medien über #aufschrei. Die Artikel sind zu Beginn eher deskriptiv und zitieren ausgewählte #aufschrei-Tweets und O-Töne von Politiker_innen in der Causa Brüderle. Im Laufe des Tages folgen Interviews mit Anne Wizorek und Nicole von Horst, deren Platz als Initiatorinnen so im Diskurs festgeschrieben wird. Von den Online-Medien wandert das Thema ins Radio, anschließend ins Fernsehen und schließlich in die Wochenendausgaben der Zeitungen. Am 27. Januar 2013 widmet die ARD-Talkshow "Günther Jauch" dem Thema eine eigene Sendung: "Herrenwitz mit Folgen – hat Deutschland ein Sexismus-Problem?" Zu Gast unter anderem: Anne Wizorek. Spätestens hier lässt sich beobachten, wie die unterschiedlichen Medienlogiken aufeinanderprallen. Wie für Talkshows üblich, ist die Zusammensetzung der Gäste möglichst kontrovers gewählt. An die Stelle der Normverhandlung, wie sie noch auf Twitter zu beobachten war, tritt das agenda setting der geladenen Gäste und das ritualhafte Sezieren einzelner Situationen und Handlungen.
Die folgende Hochphase der Debatte wird – neben der Causa Brüderle – schließlich von zwei Schwerpunkten bestimmt: dem "Kampf der Geschlechter" und "Sexismus am Arbeitsplatz". Insbesondere der Teildiskurs über den Geschlechterkampf räumt dem Tugendfuror alter, weißer, heterosexueller und zumeist etablierter Publizisten Raum ein. Dabei widmen sich die empörungsgetriebenen Kommentare und Artikel überwiegend dem vermeintlichen Ende des (bisher) unkomplizierten Geschlechterverhältnisses. Unberücksichtigt bleibt hier die Forschung mit all jenen Studien, die Hinweise darauf geben, dass sich Männer und Frauen weitgehend einig darüber sind, was sie als sexistisch ansehen und wo Grenzen überschritten werden.
Im Laufe des Newszyklus wird #aufschrei Schritt für Schritt in die massenmedialen Strategien der Komplexitätsreduktion eingepasst. Die Dezentralität des Phänomens wird in klare Chronologien und Kausalitäten übersetzt, sie weicht der Individualisierung und Personalisierung. #aufschrei wird in den Erzählungen der "alten" Medien vom dezentralen Moment zur gezielten Kampagne und Anne Wizorek zur offiziellen Sprecherin. Unter die vielen TV-Sendungen, Radio-Features und Artikel mischen sich so auch erste Porträts über Wizorek als das neue Gesicht des Feminismus. Die Diversität feministischer Bewegungen bleibt dabei ebenso unberücksichtigt und unsichtbar wie die Vielzahl der Stimmen und die Spannweite der Diskussion. Mit Eintritt in die Massenmedien entwickelt sich #aufschrei aber auch von einer "digitalen Straßenversammlung" zu einem stehenden Begriff. Er ist zeitlich eine Art Nullpunkt, ein Bezugspunkt für jede weitere Debatte über Sexismus. Und er ist semantisch ein neues Label,
Mit dem Abstand von einem Jahr offenbart die Sexismus-Debatte einen spannenden Einblick in die Konflikte, die beim Aufeinandertreffen verschiedener Medienlogiken entstehen. Die Heftigkeit der Debatte indes lässt sich damit nicht erklären. Die Neugier und Begeisterung, die Wut und Verärgerung, die Faszination und die Abscheu – all die Emotionen, deren gesamte Bandbreite in der Diskussion zu beobachten war, waren unmittelbar-affektive Reaktionen auf den wunden Punkt, den #aufschrei offenbarte. #aufschrei brach mit der Tabuisierung des alltäglichen Sexismus und der Alltäglichkeit sexueller Übergriffe. Frauen weigerten sich plötzlich, ihre Erfahrungen und Verletzungen weiterhin totzuschweigen. Es war die Rückkehr von den Versprechen des Erfolgs, von den (oft elitären) Debatten um Aufstieg, Quote und Karrierechancen zurück zum alltäglichen Geschlechter- und Machtverhältnis und zur Sexualpolitik. Der patriarchale Deal der vorherigen Generation(en), dass Frauen die Welt offen steht, so lange sie über Sexismus schweigen, wurde aufgekündigt.