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We have been those who are neither from here nor there. Now we will be those who are both from here and there – both things at the same time.
Guadalupe Gómez Sowohl in unserer kulturellen Imagination und kollektiven Politikgeschichte als auch in der geografischen Realität ist die US-amerikanisch-mexikanische Grenze mit einer Vielzahl einzigartiger Geschichten und Gestalten verbunden. Die Grenze existiert als ein realer geografischer Ort in einer kahlen Wüste. Sie manifestiert sich in natürlicher Weise als ein sich windender Fluss und als ein von Menschen errichteter Zaun aus Stachel- und Maschendraht. Sie ist ein willkürliches geopolitisches Konstrukt, das sich nicht nur in die geografische Landschaft eingeschrieben, sondern zugleich auch als Trennlinie in den Köpfen der Einwohner der angrenzenden Nationen festgesetzt hat.
Der Grenzraum als interkulturelle Kontaktzone ist eine spannende und reichhaltige Sphäre, die in den US-Medien jedoch oft einseitig als gewalttätig und gefährlich dargestellt wird und dementsprechend der militarisierten Bekämpfung bedürfe. Die Notwendigkeit der Grenzsicherung ist Thema fortwährender kontroverser Debatten in der politischen Arena der USA. Die miteinander verflochtenen Geschichten der drohenden Gefahr illegaler Einwanderung sowie die drastischen Schritte, die unternommen werden, um die Grenze zu sichern, sind Steuerungsinstrumente, die dazu eingesetzt werden, die Illusion von absoluter Gewalt und Kontrolle über die Grenze aufrechtzuerhalten.
Die Dringlichkeit auf Seiten der USA, die Grenze zu sichern, scheint heute mehr denn je übertrieben zu sein, denn Mexiko ist mittlerweile selbst zum Einwanderungsmagnet für Menschen auf der Suche nach neuen Lebenschancen geworden. Laut einem Artikel in der "New York Times" im September 2013 hat sich die Dynamik im Migrationsmuster Mexikos drastisch gewandelt: Der Anteil der im Ausland geborenen und nun in Mexiko angesiedelten Einwanderer habe sich seit 2000 stark erhöht; drei Viertel – etwa 70.000 – dieser in Mexiko lebenden Ausländer sind US-Amerikaner; zudem halte sich die Migration von Mexiko in die USA und umgekehrt mittlerweile nahezu die Waage.
In diesem kulturellen Zwischenraum ist auch die Grenzkunst anzusiedeln. In der Grenzkunst – zu verstehen als Kunst an der Grenze sowie als Kunst von der Grenze – wird die Grenze selbst oder der Akt des Grenzüberschreitens als ein prägnantes visuelles Symbol von Transitionen, also von Übergang oder Wandel, verwendet. Der Grenzraum wird als ein Zwischenraum repräsentiert, als transitional space, und folglich sind die in diesem peripheren Raum angesiedelten Menschen "weder von hier noch von dort",
Im Leben der Menschen, die diesen Zwischenraum bewohnen, ihn prägen und von ihm geprägt werden, ist die Grenze mehr als nur eine geografische Manifestation politischer Grenzziehungen – es ist ihre Lebensweise. Der Ethnologe Arjun Appadurai prägte den Begriff der global ethnoscapes und beschreibt diese als Erfahrungsräume, "die von spezifischen Gruppenidentitäten geprägt werden".
Als ein solches global ethnoscape ist auch das US-amerikanisch-mexikanische borderland zu verstehen. In diesem Artikel sollen die Latina- und Latino-Kultur sowie -Gesellschaft als Ausdruck des facettenreichen US-amerikanisch-mexikanischen Grenzgebiets anerkannt werden. Indem anhand der Kunst von Tatiana Parcero das Konzept des borderlands, des Zwischenraums der Kulturen, bildhaft gemacht wird, richtet sich der Fokus dieser Arbeit gezielt auf Gegendiskurse ethnischer Minderheiten.
Darstellung des Grenzgebiets
Als Bewohner einer globalisierten Welt werden wir täglich mit visuellen Repräsentationen von entlegenen Orten auf der ganzen Welt konfrontiert. Wir erfahren unsere Welt durch Bilder, die uns die Medien präsentieren. Diese werden so ein wesentlicher Teil unserer Realität. Die Publizistin Susan Sontag postulierte, dass wir unser Wissen über die Ereignisse der Vergangenheit und Gegenwart heute hauptsächlich aus Abbildungen schöpfen.
Auf nationaler Ebene können Fotografien mithilfe einer geopolitischen geographical imagination eine nationale Gemeinschaft schaffen. Der Politikwissenschaftler Benedict Anderson beschreibt diese Gemeinschaften als imagined communities.
Verortung des Grenzraums
Für das Verständnis des Konzepts der Grenze ist es entscheidend, zwischen der Verörtlichung der Grenze im physischen Raum (also dem, was wir umgangssprachlich als Grenze verstehen) und dem mental mapping des borderland zu differenzieren. Mit Letzterem werden die imaginären Linien beschrieben, die durch die Platzierung unserer Körper im geografischen Raum, in unserem Sprachgebrauch mit anderen Menschen und unserer Kultur gezogen werden. Auch der Sprache kommt im Grenzraum eine große Bedeutung zu, denn durch diese werden Sprachwelten geschaffen, in die nur die Mitglieder eintreten können, die den Wortschatz besitzen, der ihnen diese Welt eröffnet. Die Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick postuliert, dass es gerade "das performative Vermögen der Sprache ist (…), das Räume herstellt, die mehr sind als bloße Verhaltensumwelten".
Der US-amerikanisch-mexikanische Grenzraum wird hier zudem als ein third space verstanden, ein von dem Postkolonialismus-Theoretiker Homi K. Bhabha geprägtes Konzept, in welchem die herrschenden Paradigmen der Nation untergraben und kritisiert werden.
Hier und an Andersons Konzept der imagined communities knüpft das theoretische Konstrukt der migrant imaginary der Professorin für Amerikastudien Alicia Schmidt Camachos an. Dieses Konzept imaginiert einen third space als kulturellen, aber zugleich politischen Raum, innerhalb dessen die Mitglieder der Diaspora losgelöst vom Nationalitätsbegriff ihr soziales Wesen verstehen und beschreiben sowie ihre Kultur zelebrieren. Die Idee, dass Raum an ein nationalstaatliches Konstrukt gebunden ist und als statischer Behälter von kulturellen Traditionen fungiert, ist laut Bachmann-Medick überholt – zunehmend entterritorialisierte Raumverhältnisse und Beziehungsgeflechte hätten das Raumverständnis transnationalisiert: "Erst dadurch ist etwa das Phänomen zu erfassen, dass Diasporagruppen weltweit vernetzt sind und gemeinsame kulturelle Vorstellungen teilen, dabei aber doch in verschiedene Lokalitäten zerstreut sind."
Kunst wird im Grenzraum als ein Medium verwendet, in welchem neue Realitäten entstehen und somit alternative Gegenwarten und Zukunftsvisionen verhandelt werden. Die beiden Raumplaner Michael Dear und Gustavo Leclerc sind sogar der Ansicht, dass Kunst die Macht und Reichweite besitzt, Zukunft zu verändern.
In den 1960er Jahren war dieser Kampf um Entfaltungsraum auch ein Kampf um die Kontrolle bestimmter Gebiete, wie zum Beispiel um den heutigen Chicano People’s Park in San Diego. Der Park entstand aus einem Versuch, ein Stück enteignetes Land, von dem die Gemeinschaft der Latinas und Latinos gewaltsam verdrängt wurde und auf dem nun eine achtspurige Schnellstraße gebaut worden war, durch Kunst visuell als ihr Eigen zu kennzeichnen und zurückzuerobern. Die Chicano-Bewegung markiert hiermit einen der ersten bedeutenden Momente in der US-amerikanisch-mexikanischen Geschichte, in denen Kunst als politische Strategie verwendet wurde.
Die Strömung des Multikulturalismus verabschiedet sich von kollektiven Identitäten und besinnt sich auf die persönliche Geschichte des Künstlers. Der Künstler wird zu einem Grenzgänger, einem Mythos-Macher und Visionär, der seine Kunst auf die Zukunft ausrichtet, in der eine Welt ohne Grenzen möglich ist. Tatiana Parcero kann als solch eine Visionärin verstanden werden. In ihrer Kunst werden bestehende Kategorien der Nationalität und die damit verbundene Autorität des Staates angezweifelt, gleichzeitig wird eine alternative Zukunftsvision präsentiert. Parcero nutzt in ihrer Kunst ihren eigenen Körper als eine site of resistance, als einen Ort, an dem Widerstand aktiv gelebt wird.
Projektion von Andersartigkeit
Das Leben im borderland, also in dem Raum, der eher semantisch als räumlich an die US-amerikanisch-mexikanische Grenze geknüpft ist, hat im Laufe der Zeit unauslöschlich sowohl das Leben seiner Bewohnerinnen und Bewohner als auch ihre Körper geprägt. Parcero macht in ihrer Arbeit diese Spuren der Geografie des Grenzraums auf ihrem Körper sichtbar.
In der Serie Cartografía Interior ("Interne Kartografien") scheint Parcero historische Dokumente auf ihren eigenen Körper zu projizieren. Tatsächlich superimposiert, also überlagert sie historische Karten und Kodizes über Schwarz-Weiß-Fotografien ihres nackten Körpers und reflektiert so über ihre Verortung im geografischen Raum. Insbesondere die Verortung und Navigation ihres Frauenkörpers in der heutigen Gesellschaft wird dadurch diskutiert. Parcero schreibt sich mit ihren re-imaginierten Kartografien in die postkoloniale Tradition des re-mapping und re-writing ein und integriert sich somit in das postkoloniale Raumkonzept des borderlands.
Die Themen, die Parcero in ihrer Arbeit aufgreift, sind unter anderem die Kolonialisierung, die Geschichte von Kartierung und Geografie, Identität und Weiblichkeit sowie das Konzept des eigenen Körpers als ein Ort des Widerstands. Der postkoloniale Literaturwissenschaftler Bill Ashcroft argumentiert, dass "Geografie, Karten und Kartierung einen wohl größeren Effekt auf unsere Art, die Welt zu imaginieren, haben, als jeder andere Diskurs".
Indem sie ihren eigenen Körper benutzt, um diese Bilder zu transportieren, wird Parcero selbst ein wesentlicher Teil ihrer Kunst. Sie steht damit in der Tradition des amerikanischen Selbstporträts. Parceros eigenes Leben ist ein Faden im bunten Gewebe des US-amerikanisch-mexikanischen borderlands. Als Mitglied der Diaspora bewohnt auch sie den liminalen Raum des migrant imaginary und drückt genau dies in ihrer Kunst aus. Durch das Medium der Fotografie knüpft Parcero an eine lange Tradition an, das US-amerikanisch-mexikanische Grenzgebiet durch Bilder zu beschreiben und zu prägen: Fotografie war einst das Medium, das diese Grenze im kulturellen imaginary der USA etablierte und exklusive Bedeutungen von Nationalität und Staatsangehörigkeit forcierte. Dies vermag die Fotografie noch heute. Sie trägt dadurch weiterhin maßgeblich dazu bei, die vermeintlich binären Kategorien "US-Amerikaner" und "Mexikaner" zu festigen. Auch heute werden im Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko aufgenommene Fotografien in den Medien gezielt dazu verwendet, um ein bestimmtes Bild dieses vermeintlich gefährlichen und kriminalisierten Raums zu prägen und aufrechtzuerhalten. Mit ihrer Körper-Karten-Kunst re-appropriiert Parcero das Medium der Fotografie, um genau diese exklusiven Bedeutungen zu ändern und neu zu definieren.
Durch die Nutzung ihrer nackten Haut als Träger von Illustrationen, Symbolen und Karten spiegeln Parceros Kunstwerke die Ästhetik der Tattoo-Kunst wieder. Indem sie ihre Haut mit Bildern überschreibt, wodurch sie ihrer Reflexion eine weitere Bedeutungsebene hinzufügt, bewegt sich Parcero in der Foucault’schen Tradition, den Körper als einen Text zu lesen, auf den soziale Realität inskribiert wird. Die Anthropologin Enid Schildkrout ist der Ansicht, dass unsere Haut "wahrscheinlich die erste, und sicherlich die offensichtlichste Leinwand ist, auf der menschliche Unterschiede geschrieben und gelesen werden können".
Tatiana Parcero, Cartografia interior #44, 1995 (© Tatiana Parcero)
Tatiana Parcero, Cartografia interior #44, 1995 (© Tatiana Parcero)
Auch Tattoos wurden in der Geschichte häufig genutzt, um Andersartigkeit visuell zu markieren und Grenzen zu ziehen. Ein Beispiel dafür sind Tattoos auf den Körpern von Sklaven, Leibeigenen und Inhaftierten. In ihrer Arbeit wählt Parcero also eine Ästhetik, die eine lange Tradition darin besitzt, Andersartigkeit und das persönliche Schicksal auf menschlichen Körpern einzuschreiben. Durch diese Art der Kunst erzählt sie zunächst ihre eigene Geschichte, aber auch die der borderland diaspora, insbesondere allerdings die der Frauen, die ein Teil des migrant imaginary des borderland sind.
Die in der Schwarz-Weiß-Fotografie von Parcero verwendete Karte stammt aus einer Serie von aztekischen Karten und Kodizes, deren Ursprung im 16. Jahrhundert vermutet wird. Diese Karten wurden nach der spanischen Eroberung Mexikos von einheimischen Kartografen mit Pigmenten auf handgefertigtes amate-Papier gezeichnet, um der spanischen Regierung Informationen über die aztekische Geografie und Kultur zur Verfügung zu stellen.
Eine eurozentrische Lesart der Karte kann den Betrachter auf einen Irrweg führen: Die Linien stellen nämlich keine Grenzen dar, sondern Reise- oder Handelsrouten; es sind Linien der Migration – es wird also kein trennendes Element dargestellt, sondern vielmehr ein verbindendes. Aus europäischer Sicht, gerade auch im Hinblick auf die Kolonialisierung anderer Kontinente, haben Grenzen und Zäune – und das damit eng verflochtene Konzept von persönlichem oder staatlichem Eigentum – schon immer eine große Rolle gespielt. Andere Kulturen, so wie die aztekische, legen ihren Fokus jedoch auf das gemeinschaftliche, verbindende Element. Die Wege und Handelsrouten werden in einer sekundären Karte widergespiegelt – die der natürlichen Linien und Falten unserer Handflächen. Diese Linien sind einzigartige Identitätsmerkmale, kein Fingerabdruck gleicht dem anderen. Die Linien unserer Hände erzählen die Geschichte unserer Vorfahren. So, wie wir biologische Erbmerkmale zurückverfolgen können, lassen auch unsere Werte und Überzeugungen auf unsere kulturelle Herkunft schließen.
Koloniale Spuren in der Geografie sind auch heute noch in der Landschaft abzulesen. Parcero transportiert die Kartierung von Amerika während der Kolonialisierung auf ihren eigenen Körper und macht diese Spuren so lesbar. Wie Bachmann-Medick treffend beschreibt, werden auf Karten nicht nur natürliche Verhältnisse abgebildet, sondern diese bringen auch Vermessungen und symbolische Codierungen zum Ausdruck, "bis hin zu Manipulationen, womit sie nicht zuletzt auch als Instrumente politischer Herrschaft eingesetzt werden".
Durch Kunst die Zukunft verändern?
Es ist unweigerlich ein hoch gegriffenes Ziel, mit seiner Kunst die Welt verändern zu wollen. Jedoch bin ich davon überzeugt, dass die Künstlerinnen und Künstler des US-amerikanisch-mexikanischen borderland einen bedeutenden Teil dazu beitragen können, unser heutiges Verständnis von Grenzen, Herrschaft, Nationalität und nationaler Identität herauszufordern und zu verändern – und damit die Verbindung von kultureller Identität und nationalem Territorium zu brechen.
Guadalupe Gómez beklagt, dass es die Misere der Diaspora sei, einen Zwischenraum zu bewohnen – also weder von hier noch von dort zu sein. Er beendet seine Aussage jedoch mit der Offenbarung, dass die Mitglieder dieser Diaspora "jetzt jene sein werden, die beides, also von hier und dort sind – beides zur gleichen Zeit".
Bhabha unterstrich, dass Gegendarstellungen zur nationalen Geschichtsschreibung dazu beitragen, die Grenzlinien des Nationalstaates aufzuweichen und sich dadurch einer neuen Definition von Staatlichkeit zu öffnen. Kunst ist das Medium, in dem viele dieser abweichenden Geschichten geschrieben werden. Was jetzt fast überall auf der Welt geschehen sollte, ist der Beginn der Erosion von Grenzen – ob jene aus Metall und Maschendraht oder derjenigen unserer Gedanken; wir sollten danach streben, alltägliche kulturelle Kontakte zuzulassen, die langfristig zu einer Art Integration führen können, wie auch der Intellektuelle Noam Chomsky im Herbst 2013 unterstrich.