Die Krisen der vergangenen Dekaden haben die öffentliche Aufmerksamkeit wiederholt und vermehrt auf die Finanzmärkte gelenkt. Davor waren die Prozesse der Finanzmarktliberalisierung aufgrund ihres komplexen Charakters, vor allem aber wegen der weniger eindeutigen wirtschaftlichen Implikationen und Verteilungseffekte lange wenig politisiert. Dies kann von den internationalen Handelsbeziehungen nicht behauptet werden. Sie stellen einen seit jeher unmittelbar politischen Gegenstand dar. Der politische Charakter des internationalen Handels resultiert nicht zuletzt daraus, dass durch die Errichtung oder den Abbau von Handelsschranken die relative Wettbewerbsposition der betroffenen Sektoren, Industriezweige und Unternehmen, einschließlich der Beschäftigungskonditionen der Belegschaften, unmittelbar berührt werden.
So überrascht es wenig, dass schon die Klassiker der Politischen Ökonomie darüber gestritten haben, ob, in welchem Maße und unter welchen Bedingungen liberalisierte Außenhandelsbeziehungen die wirtschaftliche Entwicklung und gesellschaftliche Wohlfahrt eines Landes fördern oder bremsen.
In den akademischen Debatten der entwickelten kapitalistischen Länder avancierte die liberale Freihandelslehre über weite Strecken zur tendenziell hegemonialen Weltsicht. Dies ist unter anderem daran erkennbar, dass sich die Analysekonzepte vielfach ausdifferenzierten. So wurde in neoklassischer Perspektive das Theorem der komparativen Kostenvorteile mehrfach fortentwickelt: etwa durch das Heckscher-Ohlin-Theorem, das angesichts einer unterschiedlichen volkswirtschaftlichen Faktor-Ausstattung die Spezialisierung auf arbeits- oder aber kapitalintensive Güter begründet, oder auch das Stolper-Samuelson-Theorem, das sich unter Berücksichtigung veränderter Faktor- und Güterpreise auch für die Verteilungswirkungen der Handelsliberalisierung interessiert. Auch die von John Maynard Keynes vorgebrachte Kritik am neoklassischen Modellplatonismus
Politökonomische Determinanten der internationalen Handelspolitik
Im Unterschied zur keynesianischen Perspektive fällt es der neoklassischen Außenhandelstheorie grundsätzlich schwer, das Paradox von erfolgreicher Handelsliberalisierung und einer gleichzeitigen umfassenden politischen Regulierung zu begreifen; und selbst die beschleunigt-expansive Liberalisierungsdynamik der vergangenen Jahrzehnte kann eigentlich nur postuliert, nicht aber wirklich erklärt werden. Die analytischen Schwierigkeiten resultieren daraus, dass die wirtschaftlichen Verflechtungen als direkter Ausdruck einer, mehr oder minder natürlichen, marktvermittelten Spezialisierung innerhalb der internationalen Arbeitsteilung betrachtet werden.
Es ist ein Verdienst der seit den 1970er Jahren revitalisierten politökonomischen Diskussion, diese Perspektive problematisiert und die konstitutive Bedeutung gesellschaftlicher Faktoren, also von Institutionen, politischen Allianzen, Konflikten oder auch spezifischen Diskursen und Überzeugungen, in die Diskussion eingebracht zu haben. Nur so wird verständlich, warum und inwiefern sich die Bedingungen, Schwerpunkte und Verlaufsformen der internationalen Handelspolitik in den vergangenen Jahrzehnten verändert haben. Einen wichtigen Einschnitt stellte sicherlich der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems dar, das heißt des internationalen Systems fester, an das Gold und den US-Dollar gekoppelter Wechselkurse und relativ umfassender Kapitalverkehrskontrollen. In dessen Folge wurde die Freihandelsidee zunehmend offensiver propagiert: zunächst noch in Reaktion auf den "neuen Protektionismus", also im Kampf gegen nicht-tarifäre Handelshemmnisse wie spezifische Produktnormen, Mengenbeschränkungen, Steuern oder Subventionen; dann aber auch im Bestreben, die Liberalisierungsidee auf weitere Bereiche, vor allem auf Dienstleistungen oder die öffentliche Auftragsvergabe, auszudehnen. Die internationale Handelspolitik wird damit zugleich unmittelbar gesellschaftspolitisch relevant, zumal nicht selten von einer "deep trade agenda" und Praktiken einer "behind the border liberalisation" die Rede ist.
Dieser Prozess hin zu einer umfassenden Liberalisierungsagenda verlief keineswegs stetig und gleichförmig, sondern war selbst durch eine Abfolge spezifischer Initiativen geprägt, die ihrerseits auch die gesellschaftlichen wie internationalen Kräfteverhältnisse veränderten. Als eine treibende Kraft der handelspolitischen Globalisierung lassen sich die Transnationalen Konzerne (TNKs) und deren Verbände identifizieren. In dem Maße, wie sich das Operationsfeld der TNKs aus investitions- und absatzstrategischen Erwägungen und Amortisationskalkülen – Innovationen wurden zunehmend kostenintensiv – erweiterte, drängten sie die politischen Entscheidungsträger vermehrt dazu, die noch bestehenden Handelsbarrieren zu beseitigen. In den 1970er und 1980er Jahren galt dies vor allem für die TNKs der alten "Triade", das heißt aus den USA, Westeuropa und Japan. Seit den 1990er Jahren kamen dann mehr und mehr TNKs aus Schwellenländern hinzu, die sich ebenfalls stark internationalisierten.
Auf den ersten Blick sprechen mehrere Entwicklungen dafür, dass diese Anstrengungen erfolgreich gewesen sind. So kristallisierte sich unter dem Einfluss der TNKs seit den 1980er Jahren eine neue Welle der regionalen Integration heraus, in der neue Abkommen – so etwa die Asia-Pacific Economic Cooperation (APEC, 1989), der Mercado Común del Sur (MERCOSUR, 1991) oder das North American Free Trade Agreement (NAFTA, 1994) – vereinbart und alte Arrangements wie die Europäische Gemeinschaft (EG) oder die Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) transformiert wurden.
Die letztgenannten Übereinkommen verweisen darauf, dass es in der internationalen Handelspolitik nicht mehr nur um Liberalisierungsfragen, sondern auch um Fragen des Eigentumsschutzes geht. Ungeachtet des Scheiterns des Multilateral Agreement on Investment (MAI), über das innerhalb der OECD verhandelt worden war,
Der neu-konstitutionalistische Dreiklang aus Marktförderung, Eigentumssicherung und Entdemokratisierung realisierte sich allerdings keineswegs gleichförmig, sondern war vielfach gebrochen und umkämpft. Angesichts des unterschiedlichen Entwicklungsstands der involvierten Ökonomien und der betroffenen Wirtschaftszweige mussten immer wieder oftmals komplizierte Kompromisse ausgehandelt werden; und nicht selten haben die TNKs über inzwischen zahlreiche Foren und Netzwerke der wirtschaftlichen Kooperation – von der OECD über die G7/8 und G20 bis hin zum Weltwirtschaftsforum oder European Services Forum (ESF) – die Kompromissstruktur in ihrem Sinne zu beeinflussen versucht.
Liberalisierungskonflikte in der WTO
Die Schwierigkeiten, die Liberalisierung über den Warenhandel hinaus zu erweitern, waren bereits in der Uruguay-Runde erkennbar. Im Laufe mühsamer Verhandlungen gelang es den USA damals erst allmählich, tragfähige Allianzen und Kompromisse zu schmieden.
Ungeachtet des qualitativen Sprungs hin zur WTO traten die Konflikte und Grenzen der handelspolitischen Liberalisierungsagenda dann aber verstärkt in den Vordergrund. Offenkundig wird internationale Handelspolitik nicht allein durch das WTO-Sekretariat und die Präferenzen der TNKs und anderer liberalisierungsfreundlicher Kräfte bestimmt, sondern auch durch die konfligierenden Interessen und Leitvorstellungen der Mitgliedstaaten. Hier zeigte sich, dass es den USA und der EU als einer Art liberalem Führungstandem schwer fiel, im Inneren protektionistische Verteilungskoalitionen aufzubrechen und den Liberalisierungsinteressen der Entwicklungsländer hinreichend entgegenzukommen.
Nach dem spektakulären Scheitern der "Millennium-Runde" erfolgte nur eine kurze Phase der Reflexion, bevor im Jahr 2001 mit der Doha-Entwicklungsrunde schon bald ein neuer Anlauf unternommen wurde, die Liberalisierung im multilateralen Kontext weiterzutreiben. Was die Verhandlungsagenda betrifft, so unterschied sich die Doha-Runde von der "Millennium-Runde" kaum. Eigentlich wurde nur das Spektrum der verhandelbaren Gegenstände verschlankt. So spielten Elemente einer sozial- und umweltpolitischen Flankierung keine Rolle mehr, indessen die USA und die EU nach dem Scheitern der Ministerkonferenz in Cancún 2003, wenn auch nur widerwillig und partiell, auf die Themen Investitionen, Wettbewerb und öffentliches Beschaffungswesen verzichteten. Diese Verschlankung reduzierte zwar die Zahl potenzieller Konfliktfälle, war letztlich aber unzureichend, um die Verhandlungen ergebnisorientiert voranzubringen. Trotz gewisser Annäherungen in Sondierungsgesprächen gelang kein Durchbruch. Die Doha-Runde wurde zwischenzeitlich sogar suspendiert und der Zweijahresrhythmus der Ministerkonferenzen ausgesetzt.
Die Gründe für die Stagnation und das mutmaßliche Scheitern der Doha-Runde sind recht gut identifizierbar. Sie bestehen nicht zuletzt darin, dass sich die internationalen Kräfteverhältnisse im Laufe der vergangenen Jahrzehnte spürbar verschoben haben. Dies gilt weniger für die dominante Rolle der TNKs, als vielmehr für die Interessenlagen und Orientierungen der beteiligten Regierungen. So definierten die OECD-Staaten noch immer maßgeblich die WTO-Verhandlungsagenda, waren letztlich aber kaum mehr in der Lage, diese Agenda durch tragfähige Kompromisse praktisch umzusetzen. Nicht nur erwiesen sich die Zugeständnisse der USA und der EU im Bereich der Agrarmarktliberalisierung als zu bescheiden; auch provozierten die selbst aufgestellten Liberalisierungsforderungen, die mit den bestehenden regulativen Standards und wirtschaftlichen Gestaltungskonzeptionen vieler Entwicklungs- und Schwellenländer oft unvereinbar sind, eine entsprechende Gegenwehr. Der Verlauf der Doha-Runde war demzufolge durch heterogene Interessenlagen gekennzeichnet,
Angesichts der veränderten Kräfteverhältnisse und heterogenen Interessenlagen war die Stagnation der multilateralen Freihandelsagenda wenig überraschend. Allerdings hatte das vorläufige Scheitern weder einen Rückfall zum Protektionismus zur Folge noch eine Abkehr der OECD-Staaten von ihren Liberalisierungs- und Investitionsschutzzielen. Die USA und die EU setzten vielmehr verstärkt darauf, diese Ziele einer WTO-plus-Agenda durch bilaterale und interregionale Handels- und Investitionsabkommen zu realisieren;
Stabilisierung des Welthandels im Kontext der Weltfinanzkrise
Mit Beginn der Weltfinanzkrise 2007 änderte sich dann allerdings die handelspolitische Agenda. Fortan ging es nicht mehr primär darum, den Liberalisierungsprozess zu forcieren, sondern protektionistische Alleingänge und einen Zusammenbruch der Weltwirtschaft abzuwehren. Nicht selten wurde an die Abwertungswettläufe und Handelsbarrieren erinnert, die im Anschluss an die Krise von 1929 einen sich wechselseitig aufschaukelnden Protektionismus herbeigeführt hatten. Tatsächlich gab es einige Indikatoren, die derartige Befürchtungen als nicht unbegründet erscheinen ließen. So brach der Welthandel im Jahr 2009 um 1,2 Prozent drastisch ein; ein Einbruch, der vor allem der nachfragebedingten Rezession in den OECD-Staaten und der (inter-)national beeinträchtigten Kreditvergabe geschuldet war.
Erstens
konzentrierte sich der wirtschaftliche Einbruch vornehmlich auf den transatlantischen Raum, indessen viele Schwellen- und Entwicklungsländer einigermaßen glimpflich durch die Krise kamen. Dies gilt insbesondere für China und Indien, die durch umfassende Konjunkturprogramme und Formen der Staatsintervention einen starken Einbruch der ökonomischen Wachstumsraten abwenden konnten. Dies dämpfte den globalen Abschwung, förderte darüber hinaus die Kooperation und, angesichts der geschwächten Nachfrage aus der OECD-Welt, ansatzweise auch die Handelsbeziehungen zwischen den Ländern des globalen Südens.
Zweitens
scheiterten zwar die Versuche, die Krise als politischen Hebel oder Katalysator der festgefahrenen Doha-Runde zu mobilisieren, ansonsten erwiesen sich die WTO und die durch sie gestützten internationalen Handelsregime jedoch als relativ robust. In gewisser Weise lässt sich ein Sperrklinkeneffekt der vormaligen Institutionalisierung einer liberalen Welthandelsordnung identifizieren. Deren politisches Management konnte sich nicht nur auf die Prinzipien und Verfahrensweisen der WTO, sondern auch auf deren Internalisierung seitens der beteiligten Mitgliedstaaten stützen.
Drittens
kam es in Ergänzung zu dieser Internalisierung zu historischen Lernprozessen. Viele Regierungen und Zentralbanken wurden nicht müde, die Erinnerung an die 1930er Jahre zu beschwören. Um protektionistische Wettläufe zu verhindern, entwickelten sie vielfältige Aktivitäten einer wirtschafts- und handelspolitischen Koordination. Von besonderer Bedeutung waren dabei die Abstimmungsprozesse im Rahmen der G20, die anfangs, also in den Jahren 2008 und 2009, auch dazu beitrugen, den Prozess der fiskalischen Expansion zu organisieren.
Viertens
beruhte der zumindest vorübergehende Erfolg der internationalen Koordination zugleich auf dem politischen Engagement vieler TNKs, das heißt der bereits erwähnten transnationalen Managerklasse.
Die relative Bedeutung, die den aufgeführten Faktoren bei der Abwehr protektionistischer Tendenzen zukommt, lässt sich exakt nur schwer beziffern. Wichtiger ist aber auch ihr spezifisches Zusammenspiel und Ineinandergreifen. Im Krisenverlauf haben sich die führenden Kräfte in unterschiedlichen Handlungsarenen – in den internationalen Organisationen, den Regierungen und den transnationalen Kooperationsforen und Öffentlichkeiten – bislang jedenfalls wechselseitig gestützt und als anti-protektionistisch präsentiert. Sie sind jedoch weder die alleinigen Akteure in der internationalen Handelspolitik, noch kann die von ihnen vertretene Perspektive angesichts der sich in vielen Gesellschaften mehrenden sozialen Spannungen als durchgängig hegemonial bezeichnet werden.
Perspektiven
Die hier nur angedeuteten politischen Strategien und Konflikte verdeutlichen, dass die akademischen Handelsparadigmen nur vermittelt über die Präferenzen, Überzeugungen und Problemwahrnehmungen wichtiger Akteure relevant werden. Die Perspektiven der handelspolitischen Akteure sind ihrerseits zugleich in historisch spezifische, mitunter sehr komplexe inter- und transnationale Entwicklungskonstellationen eingelassen. Neben internationalen Verträgen und Institutionen, den Mustern der wirtschaftlichen Verflechtung und den kapitalistischen Konkurrenzbeziehungen und Krisendynamiken prägen auch (trans-)nationale Diskurse den Fortgang der Handelsbeziehungen. Die internationale Handelspolitik ist in diesem Sinne umkämpft und Ausdruck der sich wandelnden nationalen und internationalen Machtverhältnisse. Ob und in welcher Form sich die internationalen Machtverhältnisse transformieren, ist in den politökonomischen Debatten in mancher Hinsicht offen. Aus den vorangegangenen Ausführungen lassen sich jedoch einige Schlussfolgerungen ableiten.
Erstens hat sich der institutionelle Rahmen der WTO bislang als relativ stabil erwiesen. Der partielle Abschied vom handelspolitischen Multilateralismus hat aufgrund der intensivierten Kooperation in der G20 selbst in der Weltfinanzkrise nicht zu einer Fragmentierung der Weltwirtschaft geführt; und auch die Hinwendung zu einem extensiven Bilateralismus und Interregionalismus – zuletzt durch die Initiative für eine Transatlantische Freihandelszone (TAFTA) – muss keineswegs automatisch in diese Richtung führen.
Zweitens ist allerdings offen, ob die verstärkte bilaterale, regionale und interregionale handelspolitische Kooperation, die in der Vergangenheit mit dem marktliberalen Multilateralismus harmonierte, durch die strategischen Prioritäten der TNKs und ihrer Verbände weiterhin gestützt wird. Dafür sprechen sicherlich die Prozesse einer operativen Globalisierung der meisten TNKs und auch die vielfältigen transnationalen Kooperationsforen. Zugleich kann der intensivierte Wettbewerbsdruck in Verbindung mit sozioökonomischen Krisenprozessen aber auch protektionistische Neigungen bestärken.
Drittens sind derartige Neigungen in die nationalen Entwicklungsmodelle vieler Schwellen- und Entwicklungsländer insofern eingeschrieben, als sich deren Ausbruch aus der Abhängigkeit maßgeblich auf staatskapitalistische Steuerungselemente, das heißt eine selektive handels- und industriepolitische Förderung oder eine "strategische Handelspolitik" stützt.