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Zur Architektur des Welthandels

Franziska Müller Simone Claar Aram Ziai

/ 14 Minuten zu lesen

Angesichts der Krise des multilateralen Handelsregimes werden zusehend bi- und plurilaterale Abkommen verhandelt. Schwellenländer gewinnen als weltwirtschaftliche Akteure an Bedeutung. Dagegen nimmt der Druck auf ärmere Länder zu.

In der Architektur des Welthandels kam es in den vergangenen Dekaden zu größeren tektonischen Verschiebungen: Bezogen auf die Summe der importierten und exportierten Güterwerte hat China den USA den Rang als größte Handelsnation abgelaufen. Die einst als neues Fundament des Welthandels gefeierte Welthandelsorganisation (WTO) hat seit über einem Jahrzehnt keine politischen Resultate mehr vorweisen können. Einerseits ist von einer Krise des multilateralen Handelssystems die Rede, andererseits von einer immer intensiveren "tiefen Integration" zwischen Volkswirtschaften und einem vermehrten Auftreten neuer regionaler Freihandelsabkommen. Der vorliegende Artikel beleuchtet die Architektur des Welthandels und aktuelle Verschiebungen in gebotener Kürze. Dabei geht es auch um die Frage, welche politischen Implikationen diese Verschiebungen, vor allem die in diesem Kontext schon vor Jahren konstatierte "neue Macht des Südens", im Welthandel aufweisen.

Das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) prägte die Entwicklung multilateraler Handelspolitik lange Zeit maßgeblich. 1948 gegründet, verfolgten die GATT-Akteure eine zunächst klassische Liberalisierungsagenda, die auf der Idee der Nutzung komparativer Kostenvorteile basierte, das heißt entlang mehrerer Verhandlungsrunden eine Senkung von Einfuhrzöllen und Abschaffung von Importquoten anstrebte. Mit der Tokio-Runde und der Uruguay-Runde begann in den 1980er Jahren der Übergang zu einer neoliberalen Handelspolitik, in deren Mittelpunkt die Beseitigung nicht-tarifärer Handelshemmnisse und die weltweite Harmonisierung wirtschafts- und handelsrechtlicher Bestimmungen standen. Als solche wurden Aspekte wie geistige Eigentumsrechte, der grenzüberschreitende Handel mit Dienstleistungen sowie das öffentliche Beschaffungswesen identifiziert.

Mit dem Marrakesch Agreement wurde der vertragliche Rahmen für die am 1. Januar 1995 gegründete WTO geschaffen. Ziel der WTO ist der Freihandel. Grundlegendes Prinzip ist die Nicht-Diskriminierung, das "level playing field", das alle am Welthandel beteiligten Akteure gleich behandelt. Dies hat natürlich die Konsequenz, dass der Schutz global nicht wettbewerbsfähiger einheimischer Sektoren gegenüber der globalen Konkurrenz nicht gern gesehen beziehungsweise sogar verboten wird.

Der vertragliche Rahmen bestand aus einem umfassenden Mandat, das weit über die Inhalte des GATT hinausging und die WTO zur Hüterin weiterer Verträge erklärte: Die Trade-Related Investment Measures (TRIMS) befassen sich mit der Liberalisierung von Investitionsbedingungen, das heißt der Beseitigung aller protektionistischen Maßnahmen, mit denen Staaten eigenständige Bedingungen, etwa hinsichtlich der Niederlassung von Unternehmen, der Besteuerung, der Beschäftigung einheimischen Personals, des Technologietransfers oder der Verwendung lokaler Zwischenprodukte, stellen können. Das General Agreement on Trade in Services (GATS) regelt die Liberalisierung des Handels mit Dienstleistungen und strebt die wechselseitige Öffnung der unterschiedlichen Dienstleistungssektoren (wie etwa Telekommunikation, Wasserversorgung, Transportwesen, Gesundheitswesen) an. Die Harmonisierung geistiger Eigentumsrechte, das heißt die Schaffung weltweit gültiger und gleicher Standards für das Urheberrecht und die Einführung eines umfassenden Patentrechts, das auch Patente auf Pflanzenteile und genetisch veränderte Pflanzen- oder Tierzüchtungen einschließt, wird durch das Abkommen über Trade-Related Intellectual Property Rights (TRIPS) geregelt.

Bei den ersten beiden WTO-Ministerkonferenzen in Singapur (1996) und Genf (1998) zeigte sich bereits das Konfliktpotenzial dieser universal gefassten Agenda. Die "Singapur Themen", das heißt die vier Themen öffentliches Beschaffungswesen, Zollabfertigung, Investitionsbedingungen sowie Wettbewerbsbedingungen, sollten auf Vorschlag der Europäischen Union Teil der gemeinsamen Verhandlungsagenda in der künftigen Verhandlungsrunde werden. Dies hätte bedeutet, dass auch Entwicklungsländer in diesen Bereichen Liberalisierungsverpflichtungen zu erfüllen hätten, was auf großen Protest stieß, der sich auch bei den nachfolgenden Ministerkonferenzen artikulierte. Parallel zur Gründungsphase der WTO formierten sich globalisierungskritische Bewegungen. Einerseits politisierten sie das im Rahmen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) verhandelte Modell eines multilateralen Abkommens über Investitionen und konnten es so verhindern. Andererseits kritisierten sie die neoliberale Handelsagenda der WTO scharf. Ein Kulminationspunkt war die Ministerkonferenz 1999 in Seattle. Der repressive Umgang mit den Protesten in Seattle verdeutlichte die ablehnende Haltung der Regierungen gegenüber alternativen Modellen für den globalen Handel.

Doha-Runde: Agenda und Krise

Die 2001 eröffnete Doha-Runde der WTO strebte eine umfassende Liberalisierungsstrategie an, die durch einige eher kosmetische Zugeständnisse für ärmere Länder verbrämt wurde, aber stark von der Agenda der EU und der USA geprägt war – und die bis 2005 abgeschlossen sein sollte. Sie umfasst ein breites Bündel handelspolitischer Maßnahmen.

Ziele der Doha-Runde

  • Wechselseitige Zollsenkung und Marktöffnung für Agrar- und Industrieprodukte

  • Abbau von Agrarsubventionen (einerseits Exportsubventionen, andererseits Direktzahlungen, die zu Überproduktion und Preisverfall führen)

  • Wechselseitige Marktöffnung für Dienstleistungen

  • Umsetzung des TRIPS-Abkommens in nationales Recht

Zentrale Konflikte

  • Konflikt zwischen EU und USA über Abschaffung von Agrarsubventionen

  • Konflikt um die "Singapur Themen"

  • Konflikte zwischen G20 und EU/USA über verbesserten Marktzugang für Produkte aus Schwellen- und Entwicklungsländern und über die Abschaffung von Agrar(export)subventionen

  • Schutz einheimischer Märkte und infant industries in Entwicklungsländern und least developed countries (LDCs)


Im Verlauf der Doha-Runde blieb insbesondere die Ministerkonferenz von Cancún 2003 aufgrund der sich immer markanter abzeichnenden handelspolitischen Fronten und der neuen Akteurskonstellation in Erinnerung. Schon in der Vorbereitung wurde erkennbar, dass Schwellenländer unter Führung von Brasilien, China und Indien eine stabile Koalition aufbauten, welche die Interessendivergenzen von USA und EU ausnutzte und sich als Fürsprecher für die Problemlagen von Entwicklungsländern mit (zunächst) großer Glaubwürdigkeit inszenierte. Die verhandlungstheoretische Strategie der WTO G20 lässt sich als issue-based beschreiben. Die Forderung der EU, über die "Singapur Themen" nun auch in den allgemeinen Verhandlungen zu sprechen, löste breiten Protest aus und führte letztendlich zum Abbruch der Verhandlungen. Auch die Ministerkonferenz in Hongkong 2005 ging weitgehend ergebnislos zu Ende. Hongkong wurde begleitet von zahlreichen Aktionen und Demonstrationen südkoreanischer Bauern sowie Protesten gegen Biopiraterie, sodass eine breite Aneignung des Verhandlungsortes durch kritische zivilgesellschaftliche Akteure stattfand. Nach Hongkong prägte Ernüchterung auf Seiten derer, die auf eine multilaterale Handelspolitik gehofft hatten, die politische Lage. Verschiedene Versuche – zuletzt im Juli 2008 –, die Verhandlungen wieder aufzunehmen oder im Rahmen der G8-Gipfel (beziehungsweise der um Schwellenländer erweiterten G-20) Differenzen vorab informell "am Kamin" zu klären, blieben erfolglos. Die Parole "no deal better than a bad deal" erwies sich in dieser Situation zumindest für die least developed countries (LDCs) als sinnvollere Option. Der Übergang zu bilateralen Handelsstrategien relativierte dies jedoch teilweise, da nicht-politisierte, durch hohe Divergenzen in der Verhandlungskapazität geprägte Politikarenen (wie etwa die Verhandlungen zu Economic Partnership Agreements (EPAs)) es für LDCs schwer machten, eigene Interessen erfolgreich zu artikulieren. Die WTO-Ministerkonferenzen in Genf 2009 und 2011 verliefen erfolglos.

Insgesamt ist das Scheitern der Doha-Runde zu einem gewichtigen Teil auf die anhaltende Kritik von Nichtregierungsorganisationen aus dem globalen Norden und dem globalen Süden über die bisherige, ungleich stärker an den Interessen der dominanten Akteure (vor allem der USA und EU) orientierte Architektur der WTO-Abkommen zurückzuführen. Viele Länder des Südens waren nicht mehr bereit, der Agenda des Nordens ohne Zugeständnisse zuzustimmen, während Letzterer auf der Durchsetzung ebendieser Agenda beharrte. Im Mai 2013 wurde nun ein neuer WTO-Generaldirektor gewählt. Mit der Person Roberto Azevêdos setzte sich ein Kandidat durch, der nicht von EU und USA, sondern von Schwellenländern favorisiert worden war.

Aktuelle Trends

In den vergangenen Jahren schien es, dass die multilaterale Handelsarchitektur unter dem Dach der WTO immer mehr an Bedeutung verliert, da kaum noch Erfolge aus den skizzierten Entwicklungsrunden für alle Beteiligten sichtbar wurden. Der nun verstärkte Fokus auf bilaterale beziehungsweise plurilaterale/regionale Freihandels- und Investitionsabkommen verstärkt das Aufbrechen des historisch gewachsenen globalen Handelsregimes. Im Regelwerk der WTO sind die neuen bi- und plurilateralen Abkommen nur eingeschränkt zulässig, denn es gilt das Meistbegünstigungsprinzip (MFN) (GATT §1), gemäß dem die innerhalb eines Präferenzabkommens gewährten Vergünstigungen auch allen anderen Staaten gewährt werden müssen. Allerdings gibt es die "Enabling Clause", welche die MFN-Klausel insofern einschränken kann, als Handelsabkommen zwischen unterschiedlichen Kategorien von Handelspartnern (etwa zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern) abweichende Bedingungen setzen dürfen. Allerdings wird in den neueren Freihandelsabkommen versucht, derartige Handelspräferenzen abzubauen (was ein zentraler Konfliktpunkt beispielsweise in den EPA-Verhandlungen mit Südafrika ist). Dies kreiert Eigendynamiken mit einer tendenziellen Verschärfung und Vertiefung der Liberalisierungsagenda; gleichzeitig erhöht sich die Zahl der handelsrechtlichen Kontroversen zwischen den verschiedenen handelspolitischen Regelwerken. In dieser Strategie der Nordakteure und aufstrebenden Schwellenländer vereinen sich Pragmatismus und Kalkül. Denn in bilateralen Abkommen ist die Gestaltungsmöglichkeit der Vertragspartner deutlich höher, und strittige Themen können durch Machtasymmetrien zwischen ihnen leichter durchgesetzt werden. Während es in der multilateralen Handelsarchitektur Raum für Bündnisse mit mehreren Staaten aus dem globalen Süden zur Umsetzung ihrer Interessen gibt, schwindet dieser in bilateralen Handelsabkommen.

Die Krise multilateraler Handelspolitik verdeutlichte insbesondere für die Befürworter des neoliberalen Kurses die Schwierigkeit, zu globalen Vereinbarungen zu kommen. Ein Bündel paralleler beziehungsweise alternativer Strategien zum Multilateralismus bildet sich seither aus.

Bilaterale Abkommen

stellen eine solche Strategie dar: Als Freihandelsabkommen zwischen der EU und Schwellenländern bieten sie eine willkommene Möglichkeit, "maßgeschneiderte" Regeln für die Handelsbeziehungen zu verankern; bekanntes Beispiel sind die seit mehreren Jahren andauernden Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien. Diese Tendenz zum Bilateralismus ist jedoch nicht nur auf die Probleme innerhalb der WTO zurückzuführen, sondern auch der Tatsache geschuldet, dass dadurch auch vermehrt Einfluss auf das institutionelle Gefüge der jeweiligen Verhandlungsstaaten genommen werden kann und durch die Aufnahme weiterer Themen auf die Verhandlungsagenda Abhängigkeiten erzwungen werden können. Der Trend zum Bilateralismus generiert auch einen Wettbewerb zwischen den USA und der EU, wer erfolgreicher Abkommen abschließt. Dennoch sind beide Akteure nicht immer erfolgreich: Die USA scheiterten an einem Abkommen mit der South African Custom Union (SACU) aufgrund von Themen der tiefen Integration wie Investitionen oder geistige Eigentumsrechte, wobei die USA die Schuld auf die geringe Harmonisierung von Handel und Investitionen in der Zollunion schoben. Die EU scheiterte mit dem regionalen Anden-Abkommen mit Peru, Kolumbien, Ecuador und Bolivien. Gründe hierfür waren, dass Bolivien und Ecuador ihre in der Verfassung verankerten sozialen Errungenschaften wie den allgemeinen Zugang zu Bildung und Gesundheit gefährdet sahen. Die EU verhandelte daraufhin nur mit Peru und Kolumbien; das Freihandelsabkommen zwischen EU und Kolumbien trat im Sommer 2013 in Kraft.

Eine etwas anders ausgerichtete Strategie besteht in der Verknüpfung handels- und entwicklungspolitischer Ziele. Als Projekt einer erhöhten Politikkohärenz erscheint dies zwar zunächst erstrebenswert; das Beispiel der seit 2001 laufenden Verhandlungen zu EPAs zwischen der EU und den AKP-Staaten (den 78 ehemaligen in Afrika, der Karibik und im Pazifik gelegenen Kolonien) illustriert jedoch die mannigfaltigen Schwierigkeiten. Hauptziel der EPAs ist eine "smooth and gradual integration into the world market economy". Diese Formel proklamiert, dass die Integration auch der ärmsten Staaten in den Weltmarkt geeignet sei, Armutsbekämpfung zu ermöglichen. Hierbei wird aber einseitig der Weltmarktintegration der Vorzug gegeben, wohingegen regionale Integration geradezu verhindert wird, zumal die Abkommen teils mit einzelnen Staaten, teils mit erratisch entstandenen Verhandlungsregionen, die keinen historisch gewachsenen Strukturen entsprechen, abzuschließen wären.

Inhaltlich gehen die EPAs weit über WTO-Standards hinaus und schließen auch Themen der Tiefen Integration ein. Dies wäre ein Novum, da mit Entwicklungsländern Derartiges bisher niemals vereinbart worden ist. Die Möglichkeiten der AKP-Staaten, eigene Industrien aufzubauen und vor Konkurrenz zu schützen, würden eingeschränkt. Die Abkommen würden zudem das Projekt einer Liberalisierung permanent festschreiben und eine graduelle Öffnung immer weiterer Wirtschaftsbereiche und Dienstleistungssektoren anstreben, sodass eine andauernde Liberalisierungsdynamik geschaffen wäre. Dies greift tief in die wirtschafts- und handelspolitische Souveränität der betroffenen Staaten ein.

Plurilaterale Abkommen

stellen hingegen einen Versuch dar, kleinere "Koalitionen der Willigen" aufzubauen, die zu bestimmten Aspekten der WTO-Agenda übereinstimmende Positionen vertreten. Eine solche Koalition kann sich, beginnend mit einer "kritischen Masse" einiger Staaten, vergrößern und – so zumindest die Theorie – einen spill over effect erzielen, das heißt neue handelspolitische Normen auf breiter Basis verankern und in konkretere Politiken umsetzen. Eine Rückkehr zum Multilateralismus – allerdings unter geänderten Vorzeichen – ist prinzipiell möglich. Ein Beispiel für ein plurilaterales Vorhaben ist das Trade in Services Agreement (TISA). Auf Initiative der USA und der EU wird seit 2012 mit rund 50 Staaten verhandelt, die zusammen 70 Prozent des weltweiten Handels mit Dienstleistungen abdecken. Inhaltlich basiert es auf den Regeln des GATS, allerdings sind weiterreichende Regulationen enthalten, die erhebliche Probleme bergen. Ein weiteres Beispiel ist die Trans-Pacific Partnership (TPP), bei der ein Freihandelsabkommen zwischen Brunei, Chile, Neuseeland und Singapur auf weitere Pazifikanrainerstaaten erweitert wurde. Es geht insbesondere bei geistigen Eigentumsrechten weit über WTO-Standards hinaus und schließt ebenfalls investor to state disputes ein.

Problematiken solcher plurilateralen Strategien bestehen vor allem auf demokratischer und verhandlungstheoretischer Ebene: Verhandlungen finden in besonders intransparenten und schwer zu politisierenden Räumen (etwa am Rande des World Economic Forum) statt. Insbesondere der Einfluss von Lobbygruppen wie dem European Services Forum ist schwer nachzuweisen. Die Strategie, über plurilaterale Verträge zurück zum Multilateralismus zu gelangen, bedeutet, die Interessen derer, die nicht an den Verträgen beteiligt sind, auszuschließen und Normen zu verankern, die niemals gemeinsam beschlossen worden sind.

Tiefe Integration

In den vergangenen zwei Dekaden stand nicht mehr der Abbau von Zöllen oder Quoten im Zentrum von Freihandelsabkommen. Vielmehr rückt nun die Harmonisierung von nationalen Regulierungen, die den Handel einschränken, an die Spitze der handelspolitischen Agenda. Da die "Singapur Themen" in der multilateralen Arena bisher chancenlos waren, ist es nicht verwunderlich, dass Themen der Tiefen Integration ihren Weg in die bilateralen Abkommen fanden, um diese weitergehende Agenda langfristig durchzusetzen.

Aber was ist Tiefe Integration überhaupt? Im Unterschied zur klassischen Handelsliberalisierung umfasst sie verschiedene technische und soziale Standards, Wettbewerbspolitik, intellektuelle Eigentumsrechte, Investitionsregeln, Handel mit Dienstleistungen und öffentliches Beschaffungswesen. Ziel ist es, diese Bereiche zu harmonisieren, um den Marktzugang zu erleichtern. Auch hier treffen unterschiedliche Standards aufeinander, denn die wirtschaftliche Integration des globalen Nordens ist deutlich weiter als die des globalen Südens. Trotz der Rede von einer Harmonisierung verstärkt Tiefe Integration die Nord-Süd-Ungleichheiten. Daher waren diese Themen auch ein Grund, warum zum Beispiel Südafrika das SADC (Southern African Development Community) Interim-EPA abgelehnt hat, während die Nachbarstaaten wie Botswana ein Interim-EPA mit der Klausel zur weiteren Verhandlung der Themen unterzeichnet, wenn auch nicht umgesetzt haben.

Allerdings ist Tiefe Integration nicht nur ein Phänomen, welches in den Nord-Süd-Handelsbeziehungen auftaucht, auch in den Nord-Nord-Beziehungen gab es unter anderem zwischen den USA und Kanada konkrete Pläne über die Harmonisierung von Sicherheits- und Gesundheitsbestimmungen.

Arbeitsstandards

Neben der Harmonisierung von verschiedenen Politikfeldern stehen aufgrund der Veränderungen der Produktions- und Wertschöpfungsketten auch immer mehr Sozial- und Arbeitsstandards im Zentrum von Handelsabkommen. Unterschätzt wird oft, dass Arbeitsstandards ein lang erkämpftes Gut der Arbeiterklasse und Gewerkschaften sind. Vor allem in Krisenzeiten wird versucht, Einschränkungen (wie etwa eine Lockerung des Kündigungsschutzes) durchzusetzen. Das Aushandeln zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern auf nationalstaatlicher Ebene ist hierbei zentral für die gegenseitige Anerkennung von Arbeitsstandards und Normen. Immer häufiger finden nun Arbeitsstandards als Verhandlungsthema Eingang in die Freihandelsabkommen.

Dabei sind die Inhalte und Dimensionen je nach Vertragspartnern unterschiedlich; auch die Positionierung pro/kontra solcher Einbettungen variiert. Im Gegensatz zu den USA wird in europäischen Abkommen mit dem Label "Sozialklausel" gearbeitet. Sowohl die USA als auch die EU verlangen in ihren Vertragswerken die Einhaltung von Kernkonventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Arbeitsstandards dürfen dabei aber keinen Grund für die Einschränkung des freien Handels darstellen. Allerdings sind die Auswirkungen auf die Vertragspartner, insbesondere bei Nord-Süd-Abkommen, nicht abzuschätzen. Sozialkapitel und Sozialklauseln gewährleisten häufig kein wirksames Monitoring und daran anknüpfend auch keine wirksamen und sozialverträglichen Sanktionsmöglichkeiten (das heißt Sanktionen, die nicht einer weiteren Prekarisierung etwa durch Arbeitsplatzverluste Vorschub leisten).

Fazit

Der mit der anhaltenden Krise des multilateralen Handelssystems einhergehende Trend zu bi- und plurilateralen Abkommen ist mit großer Skepsis zu betrachten, weil er die Koalitionsbildung schwächerer Akteure gegenüber den großen Handelsmächten erschwert oder sogar ausschließt. Dies sollte jedoch nicht dazu verleiten, unkritisch eine Neuaufnahme der WTO-Verhandlungen anzumahnen, wie es bei manchen Global-Governance-Befürwortern üblich ist. Wie hochgradig vermachtet die WTO-Verhandlungen und wie ungleich die Einflussmöglichkeiten von Staaten auf die Ergebnisse dort waren, ist hinreichend dokumentiert. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass der Aufstieg Chinas und anderer großer Schwellenländer die Machtverhältnisse im Welthandel zu Ungunsten der USA und der EU verschiebt – und zwar in einem solchen Maße, dass der ehemalige Weltbankpräsident James Wolfensohn sich öffentlich um eine asiatische Vorherrschaft (und den Verlust der westlichen) Sorgen machte.

Inwiefern diese Verschiebung für den weniger privilegierten Teil der Weltbevölkerung zu Verbesserungen im Lebensstandard führt, steht auf einem anderen Blatt. Denn auch die Handelspolitik Chinas oder Brasiliens folgt kaum einer anderen Strategie als die der EU oder der USA: Aufbrechen anderer Märkte im Interesse wettbewerbsfähiger eigener Unternehmen, Schutz eigener Märkte im Interesse weniger wettbewerbsfähiger eigener Unternehmen. Die dabei implizite Annahme der Existenz homogener nationaler Interessen im kapitalistischen Weltsystem blendet innergesellschaftliche Konfliktkonstellationen konsequent aus – und somit auch die Frage, welche Klassen auf welche Weise von einer erfolgreichen Position in der Welthandelsarchitektur profitieren oder den Preis in Form von immer prekäreren und schlechter bezahlten Arbeitsverhältnissen zahlen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. The Economist Time vom 11.2.2013.

  2. Vgl. Ulrich Brand, Neue Macht der Peripherie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2004) 2, S. 146–149.

  3. Vgl. Aram Ziai, Globale Strukturpolitik? Die Nord-Süd-Politik der BRD und das Dispositiv der Entwicklung im Zeitalter von neoliberaler Globalisierung und neuer Weltordnung, Münster 2007, insb. Kapitel 8.

  4. Im Gegensatz zu einem bloc-based Vorgehen, das heißt Zusammenschlüssen in breiten Staatenblöcken wie der G77. Vgl. Amrita Narlikar, International Trade and Developing Countries: Coalitions in the GATT and WTO, London 2003.

  5. Im Unterschied zur WTO G20, in der seit Cancún 20 Schwellen- und Entwicklungsländer zusammengeschlossen sind, unfasst die G-20 die Staaten der G8, die EU und zwölf weitere Industrie und Schwellenländer.

  6. Vgl. Clara Brandi, WTO-Führungswechsel – Neue Dynamik für Herkules-Herausforderungen?, DIE-Kolumne vom 21.5.2013; Paige McClanahan, Roberto Azevêdo to be named new World Trade Organisation chief, in: The Guardian vom 8.5.2013.

  7. Vgl. für einen aktuellen Überblick über Freihandelsabkommen und -verhandlungen der EU: Externer Link: http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2012/november/tradoc_150129.doc.pdf (12.11.2013). Eine detaillierte und kritische Dokumentation bilateraler Verhandlungen weltweit liefert: Externer Link: http://www.bilaterals.org (12.11.2013).

  8. Vgl. Simone Claar/Andreas Nölke, Deep Integration in north-south relations: compatibility issues between the EU and South Africa, in: Review of African Political Economy, 40 (2013) 136, S. 274–289.

  9. Vgl. Maria Behrens/Holger Janusch, Der transnationale Wettbewerbsstaat, in: Journal für Entwicklungspolitik, 28 (2012) 2, S. 40–43.

  10. Vgl. Peter Draper/Nkululeko Khumalo, One size doesn’t fit all, Johannesburg 2007, S. 1f.

  11. Vgl. zu den Kampagnen gegen ein Assoziierungsabkommen der EU mit Zentralamerika: Externer Link: http://www.bilaterals.org/spip.php?rubrique150&lang=en (7.11.2013).

  12. Vgl. Franziska Müller, Gouvernementalität und Normative Macht in den EU-AKP-Beziehungen, Wiesbaden 2014 (i.V.).

  13. Neben der EU und den USA sind das unter anderem Australien, Kanada, Chile, Taiwan, Kolumbien, Costa Rica, Island, Israel, Japan, Korea, Mexiko, Neuseeland, Norwegen, Panama, Paraguay, Pakistan, Peru, Schweiz und die Türkei. China hat im Oktober 2013 den Beitritt zu den Verhandlungen beantragt.

  14. Über das GATS hinaus gehen Bestimmungen, die für bereits geöffnete Dienstleistungssektoren die Liberalisierung permanent festschreiben (standstill clause). Außerdem besteht Interesse, investor to state disputes einzuführen, bei denen Unternehmen Staaten etwa aufgrund angeblich diskriminierender Umwelt- oder Sozialstandards verklagen können.

  15. Derzeit sind an den Verhandlungen außerdem Australien, Kanada, Japan, Malaysia, Mexiko, Peru, die USA und Vietnam beteiligt.

  16. Vgl. Henrik Horn et al., Beyond the WTO?, Brüssel 2009, S. 430.

  17. Vgl. Robert Lawrence, Regionalisms, Multilateralism and Deeper Integration, Washington, DC 1996, S. 8; Simone Claar/Andreas Nölke, Tiefe Integration: Konzeptuelle Grundlagen, in: Journal für Entwicklungspolitik, 28 (2012) 2, S. 8–27.

  18. Vgl. Simone Claar, Handelsbeziehungen der EU mit Südafrika, in: FEI (Hrsg.), Die Außenbeziehungen der Europäischen Union, Marburg 2010, S. 98f.

  19. Vgl. Jeffrey M. Ayres, Political Economy, Civil Society, and the Deep Integration Debate in Canada, in: The American Review of Canadian Studies, 34 (2004) 4, S. 621–647.

  20. Vgl. hierzu den Beitrag von Klaus Dörre in dieser Ausgabe.

  21. Vgl. Christoph Scherrer/Andreas Hänlein, Sozialkapitel in Handelsabkommen, Baden-Baden 2012.

  22. Vgl. H. Horn et al. (Anm. 16), S. 26f., S. 57.

  23. Vgl. Pablo Lazo Grandi, Trade Agreements and their Relation to Labour Standard, International Centre for Trade and Sustainable Development Issue Paper 3/2009, S. 4–21.

  24. Vgl. Fatoumata Jawara/Eileen Kwa, Behind the Scenes at the WTO. The Real World of International Trade Negotiations, London 2003.

  25. Vgl. China Watch Canada vom 11.1.2010, Externer Link: http://chinawatchcanada.blogspot.de/2013/02/wolfensohn-presworld-bank-warns-globe.html (12.11.2013).

  26. Vgl. Matthias Ebenau/Stefan Schmalz, Auf dem Sprung – Brasilien, Indien und China, Berlin 2011.

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Dr. des., geb. 1978; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft, Exzellenzcluster "Die Herausbildung normativer Ordnungen", Technische Universität Darmstadt, Residenzschloss (Zimmer 256), 64283 Darmstadt. E-Mail Link: fmueller@pg.tu-darmstadt.de

Dipl.-Pol., geb. 1983; Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Arbeitsbereichs Internationale Beziehungen und Internationale Politische Ökonomie, Institut für Politikwissenschaft, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Campus Westend – PEG, Grüneburgplatz 1, 60323 Frankfurt/M. E-Mail Link: claar@soz.uni-frankfurt.de

PD Dr. phil., geb. 1972; Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Fachgruppe Politik, Universität Kassel, Nora-Platiel-Straße 1, 34127 Kassel. E-Mail Link: aram.z@gmx.net