In der Architektur des Welthandels kam es in den vergangenen Dekaden zu größeren tektonischen Verschiebungen: Bezogen auf die Summe der importierten und exportierten Güterwerte hat China den USA den Rang als größte Handelsnation abgelaufen.
Das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) prägte die Entwicklung multilateraler Handelspolitik lange Zeit maßgeblich. 1948 gegründet, verfolgten die GATT-Akteure eine zunächst klassische Liberalisierungsagenda, die auf der Idee der Nutzung komparativer Kostenvorteile basierte, das heißt entlang mehrerer Verhandlungsrunden eine Senkung von Einfuhrzöllen und Abschaffung von Importquoten anstrebte. Mit der Tokio-Runde und der Uruguay-Runde begann in den 1980er Jahren der Übergang zu einer neoliberalen Handelspolitik, in deren Mittelpunkt die Beseitigung nicht-tarifärer Handelshemmnisse und die weltweite Harmonisierung wirtschafts- und handelsrechtlicher Bestimmungen standen. Als solche wurden Aspekte wie geistige Eigentumsrechte, der grenzüberschreitende Handel mit Dienstleistungen sowie das öffentliche Beschaffungswesen identifiziert.
Mit dem Marrakesch Agreement wurde der vertragliche Rahmen für die am 1. Januar 1995 gegründete WTO geschaffen. Ziel der WTO ist der Freihandel. Grundlegendes Prinzip ist die Nicht-Diskriminierung, das "level playing field", das alle am Welthandel beteiligten Akteure gleich behandelt. Dies hat natürlich die Konsequenz, dass der Schutz global nicht wettbewerbsfähiger einheimischer Sektoren gegenüber der globalen Konkurrenz nicht gern gesehen beziehungsweise sogar verboten wird.
Der vertragliche Rahmen bestand aus einem umfassenden Mandat, das weit über die Inhalte des GATT hinausging und die WTO zur Hüterin weiterer Verträge erklärte: Die Trade-Related Investment Measures (TRIMS) befassen sich mit der Liberalisierung von Investitionsbedingungen, das heißt der Beseitigung aller protektionistischen Maßnahmen, mit denen Staaten eigenständige Bedingungen, etwa hinsichtlich der Niederlassung von Unternehmen, der Besteuerung, der Beschäftigung einheimischen Personals, des Technologietransfers oder der Verwendung lokaler Zwischenprodukte, stellen können. Das General Agreement on Trade in Services (GATS) regelt die Liberalisierung des Handels mit Dienstleistungen und strebt die wechselseitige Öffnung der unterschiedlichen Dienstleistungssektoren (wie etwa Telekommunikation, Wasserversorgung, Transportwesen, Gesundheitswesen) an. Die Harmonisierung geistiger Eigentumsrechte, das heißt die Schaffung weltweit gültiger und gleicher Standards für das Urheberrecht und die Einführung eines umfassenden Patentrechts, das auch Patente auf Pflanzenteile und genetisch veränderte Pflanzen- oder Tierzüchtungen einschließt, wird durch das Abkommen über Trade-Related Intellectual Property Rights (TRIPS) geregelt.
Bei den ersten beiden WTO-Ministerkonferenzen in Singapur (1996) und Genf (1998) zeigte sich bereits das Konfliktpotenzial dieser universal gefassten Agenda. Die "Singapur Themen", das heißt die vier Themen öffentliches Beschaffungswesen, Zollabfertigung, Investitionsbedingungen sowie Wettbewerbsbedingungen, sollten auf Vorschlag der Europäischen Union Teil der gemeinsamen Verhandlungsagenda in der künftigen Verhandlungsrunde werden. Dies hätte bedeutet, dass auch Entwicklungsländer in diesen Bereichen Liberalisierungsverpflichtungen zu erfüllen hätten, was auf großen Protest stieß, der sich auch bei den nachfolgenden Ministerkonferenzen artikulierte. Parallel zur Gründungsphase der WTO formierten sich globalisierungskritische Bewegungen. Einerseits politisierten sie das im Rahmen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) verhandelte Modell eines multilateralen Abkommens über Investitionen und konnten es so verhindern. Andererseits kritisierten sie die neoliberale Handelsagenda der WTO scharf. Ein Kulminationspunkt war die Ministerkonferenz 1999 in Seattle. Der repressive Umgang mit den Protesten in Seattle verdeutlichte die ablehnende Haltung der Regierungen gegenüber alternativen Modellen für den globalen Handel.
Doha-Runde: Agenda und Krise
Die 2001 eröffnete Doha-Runde der WTO strebte eine umfassende Liberalisierungsstrategie an, die durch einige eher kosmetische Zugeständnisse für ärmere Länder verbrämt wurde, aber stark von der Agenda der EU und der USA geprägt war
Ziele der Doha-Runde
Wechselseitige Zollsenkung und Marktöffnung für Agrar- und Industrieprodukte
Abbau von Agrarsubventionen (einerseits Exportsubventionen, andererseits Direktzahlungen, die zu Überproduktion und Preisverfall führen)
Wechselseitige Marktöffnung für Dienstleistungen
Umsetzung des TRIPS-Abkommens in nationales Recht
Zentrale Konflikte
Konflikt zwischen EU und USA über Abschaffung von Agrarsubventionen
Konflikt um die "Singapur Themen"
Konflikte zwischen G20 und EU/USA über verbesserten Marktzugang für Produkte aus Schwellen- und Entwicklungsländern und über die Abschaffung von Agrar(export)subventionen
Schutz einheimischer Märkte und infant industries in Entwicklungsländern und least developed countries (LDCs)
Im Verlauf der Doha-Runde blieb insbesondere die Ministerkonferenz von Cancún 2003 aufgrund der sich immer markanter abzeichnenden handelspolitischen Fronten und der neuen Akteurskonstellation in Erinnerung. Schon in der Vorbereitung wurde erkennbar, dass Schwellenländer unter Führung von Brasilien, China und Indien eine stabile Koalition aufbauten, welche die Interessendivergenzen von USA und EU ausnutzte und sich als Fürsprecher für die Problemlagen von Entwicklungsländern mit (zunächst) großer Glaubwürdigkeit inszenierte. Die verhandlungstheoretische Strategie der WTO G20 lässt sich als issue-based
Insgesamt ist das Scheitern der Doha-Runde zu einem gewichtigen Teil auf die anhaltende Kritik von Nichtregierungsorganisationen aus dem globalen Norden und dem globalen Süden über die bisherige, ungleich stärker an den Interessen der dominanten Akteure (vor allem der USA und EU) orientierte Architektur der WTO-Abkommen zurückzuführen. Viele Länder des Südens waren nicht mehr bereit, der Agenda des Nordens ohne Zugeständnisse zuzustimmen, während Letzterer auf der Durchsetzung ebendieser Agenda beharrte. Im Mai 2013 wurde nun ein neuer WTO-Generaldirektor gewählt. Mit der Person Roberto Azevêdos setzte sich ein Kandidat durch, der nicht von EU und USA, sondern von Schwellenländern favorisiert worden war.
Aktuelle Trends
In den vergangenen Jahren schien es, dass die multilaterale Handelsarchitektur unter dem Dach der WTO immer mehr an Bedeutung verliert, da kaum noch Erfolge aus den skizzierten Entwicklungsrunden für alle Beteiligten sichtbar wurden. Der nun verstärkte Fokus auf bilaterale beziehungsweise plurilaterale/regionale Freihandels- und Investitionsabkommen verstärkt das Aufbrechen des historisch gewachsenen globalen Handelsregimes. Im Regelwerk der WTO sind die neuen bi- und plurilateralen Abkommen nur eingeschränkt zulässig, denn es gilt das Meistbegünstigungsprinzip (MFN) (GATT §1), gemäß dem die innerhalb eines Präferenzabkommens gewährten Vergünstigungen auch allen anderen Staaten gewährt werden müssen. Allerdings gibt es die "Enabling Clause", welche die MFN-Klausel insofern einschränken kann, als Handelsabkommen zwischen unterschiedlichen Kategorien von Handelspartnern (etwa zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern) abweichende Bedingungen setzen dürfen. Allerdings wird in den neueren Freihandelsabkommen versucht, derartige Handelspräferenzen abzubauen (was ein zentraler Konfliktpunkt beispielsweise in den EPA-Verhandlungen mit Südafrika ist). Dies kreiert Eigendynamiken mit einer tendenziellen Verschärfung und Vertiefung der Liberalisierungsagenda; gleichzeitig erhöht sich die Zahl der handelsrechtlichen Kontroversen zwischen den verschiedenen handelspolitischen Regelwerken. In dieser Strategie der Nordakteure und aufstrebenden Schwellenländer vereinen sich Pragmatismus und Kalkül. Denn in bilateralen Abkommen ist die Gestaltungsmöglichkeit der Vertragspartner deutlich höher, und strittige Themen können durch Machtasymmetrien zwischen ihnen leichter durchgesetzt werden. Während es in der multilateralen Handelsarchitektur Raum für Bündnisse mit mehreren Staaten aus dem globalen Süden zur Umsetzung ihrer Interessen gibt, schwindet dieser in bilateralen Handelsabkommen.
Die Krise multilateraler Handelspolitik verdeutlichte insbesondere für die Befürworter des neoliberalen Kurses die Schwierigkeit, zu globalen Vereinbarungen zu kommen. Ein Bündel paralleler beziehungsweise alternativer Strategien zum Multilateralismus bildet sich seither aus.
Bilaterale Abkommen
stellen eine solche Strategie dar: Als Freihandelsabkommen zwischen der EU und Schwellenländern bieten sie eine willkommene Möglichkeit, "maßgeschneiderte" Regeln für die Handelsbeziehungen zu verankern; bekanntes Beispiel sind die seit mehreren Jahren andauernden Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien.
Eine etwas anders ausgerichtete Strategie besteht in der Verknüpfung handels- und entwicklungspolitischer Ziele. Als Projekt einer erhöhten Politikkohärenz erscheint dies zwar zunächst erstrebenswert; das Beispiel der seit 2001 laufenden Verhandlungen zu EPAs zwischen der EU und den AKP-Staaten (den 78 ehemaligen in Afrika, der Karibik und im Pazifik gelegenen Kolonien) illustriert jedoch die mannigfaltigen Schwierigkeiten. Hauptziel der EPAs ist eine "smooth and gradual integration into the world market economy". Diese Formel proklamiert, dass die Integration auch der ärmsten Staaten in den Weltmarkt geeignet sei, Armutsbekämpfung zu ermöglichen. Hierbei wird aber einseitig der Weltmarktintegration der Vorzug gegeben, wohingegen regionale Integration geradezu verhindert wird, zumal die Abkommen teils mit einzelnen Staaten, teils mit erratisch entstandenen Verhandlungsregionen, die keinen historisch gewachsenen Strukturen entsprechen, abzuschließen wären.
Inhaltlich gehen die EPAs weit über WTO-Standards hinaus und schließen auch Themen der Tiefen Integration ein. Dies wäre ein Novum, da mit Entwicklungsländern Derartiges bisher niemals vereinbart worden ist. Die Möglichkeiten der AKP-Staaten, eigene Industrien aufzubauen und vor Konkurrenz zu schützen, würden eingeschränkt. Die Abkommen würden zudem das Projekt einer Liberalisierung permanent festschreiben und eine graduelle Öffnung immer weiterer Wirtschaftsbereiche und Dienstleistungssektoren anstreben, sodass eine andauernde Liberalisierungsdynamik geschaffen wäre. Dies greift tief in die wirtschafts- und handelspolitische Souveränität der betroffenen Staaten ein.
Plurilaterale Abkommen
stellen hingegen einen Versuch dar, kleinere "Koalitionen der Willigen" aufzubauen, die zu bestimmten Aspekten der WTO-Agenda übereinstimmende Positionen vertreten. Eine solche Koalition kann sich, beginnend mit einer "kritischen Masse" einiger Staaten, vergrößern und – so zumindest die Theorie – einen spill over effect erzielen, das heißt neue handelspolitische Normen auf breiter Basis verankern und in konkretere Politiken umsetzen. Eine Rückkehr zum Multilateralismus – allerdings unter geänderten Vorzeichen – ist prinzipiell möglich. Ein Beispiel für ein plurilaterales Vorhaben ist das Trade in Services Agreement (TISA). Auf Initiative der USA und der EU wird seit 2012 mit rund 50 Staaten
Problematiken solcher plurilateralen Strategien bestehen vor allem auf demokratischer und verhandlungstheoretischer Ebene: Verhandlungen finden in besonders intransparenten und schwer zu politisierenden Räumen (etwa am Rande des World Economic Forum) statt. Insbesondere der Einfluss von Lobbygruppen wie dem European Services Forum ist schwer nachzuweisen. Die Strategie, über plurilaterale Verträge zurück zum Multilateralismus zu gelangen, bedeutet, die Interessen derer, die nicht an den Verträgen beteiligt sind, auszuschließen und Normen zu verankern, die niemals gemeinsam beschlossen worden sind.
Tiefe Integration
In den vergangenen zwei Dekaden stand nicht mehr der Abbau von Zöllen oder Quoten im Zentrum von Freihandelsabkommen. Vielmehr rückt nun die Harmonisierung von nationalen Regulierungen, die den Handel einschränken, an die Spitze der handelspolitischen Agenda. Da die "Singapur Themen" in der multilateralen Arena bisher chancenlos waren, ist es nicht verwunderlich, dass Themen der Tiefen Integration ihren Weg in die bilateralen Abkommen fanden, um diese weitergehende Agenda langfristig durchzusetzen.
Aber was ist Tiefe Integration überhaupt? Im Unterschied zur klassischen Handelsliberalisierung umfasst sie verschiedene technische und soziale Standards, Wettbewerbspolitik, intellektuelle Eigentumsrechte, Investitionsregeln, Handel mit Dienstleistungen und öffentliches Beschaffungswesen.
Allerdings ist Tiefe Integration nicht nur ein Phänomen, welches in den Nord-Süd-Handelsbeziehungen auftaucht, auch in den Nord-Nord-Beziehungen gab es unter anderem zwischen den USA und Kanada konkrete Pläne über die Harmonisierung von Sicherheits- und Gesundheitsbestimmungen.
Arbeitsstandards
Neben der Harmonisierung von verschiedenen Politikfeldern stehen aufgrund der Veränderungen der Produktions- und Wertschöpfungsketten
Dabei sind die Inhalte und Dimensionen je nach Vertragspartnern unterschiedlich; auch die Positionierung pro/kontra solcher Einbettungen variiert.
Fazit
Der mit der anhaltenden Krise des multilateralen Handelssystems einhergehende Trend zu bi- und plurilateralen Abkommen ist mit großer Skepsis zu betrachten, weil er die Koalitionsbildung schwächerer Akteure gegenüber den großen Handelsmächten erschwert oder sogar ausschließt. Dies sollte jedoch nicht dazu verleiten, unkritisch eine Neuaufnahme der WTO-Verhandlungen anzumahnen, wie es bei manchen Global-Governance-Befürwortern üblich ist. Wie hochgradig vermachtet die WTO-Verhandlungen und wie ungleich die Einflussmöglichkeiten von Staaten auf die Ergebnisse dort waren, ist hinreichend dokumentiert.
Inwiefern diese Verschiebung für den weniger privilegierten Teil der Weltbevölkerung zu Verbesserungen im Lebensstandard führt, steht auf einem anderen Blatt.