Als der Begriff "BRICs" im Jahr 2001 vom Goldmann-Sachs-Analysten Jim O’Neill erfunden wurde, um vier lukrative Investmentziele leicht erinnerbar zusammenzufassen, war er wohl nicht dazu gedacht, diese Länder – Brasilien, Russland, Indien und China – auch politisch zusammenzubringen oder gar als Grundlage einer eigenen Institution zu dienen. Heutzutage wird der Begriff (ergänzt um ein großes S für Südafrika) in den westlichen Medien aber oft politisch verstanden, als Sinnbild für den Beginn einer "post-amerikanischen Welt", als Organisation, die dem "Rest" der Welt eine Stimme gibt und als klare Konkurrenz zum Westen verstanden wird. Schaut man aber genauer hin, ist klar zu erkennen, dass es sich bei den BRICS keinesfalls um ein deutlich identifizierbares Gegenbild zum Westen handelt. So sind drei der Mitgliedsländer, Südafrika, Indien und Brasilien, demokratisch, Russland eine Autokratie mit demokratischem Anstrich und China eine leninistische Diktatur, wenn auch weitgehend entideologisiert und marktkonform.
Gerade China wird hierbei immer wieder entweder als treibende Kraft hinter dieser Herausforderung des Westens gesehen oder aber als Außenseiter, der eigentlich für sich alleine stehen sollte. So argumentierte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Graham Allison im März 2013 in einem Artikel im Magazin "The Atlantic", dass China eigentlich gar nicht in die BRICS gehöre, sondern "eine Klasse für sich" sei.
Nicht vergleichbar
Der auffälligste Unterschied zwischen China und den anderen BRICS-Staaten ist die wirtschaftliche Entwicklung: China ist zwischen 2008 und 2013 doppelt so schnell gewachsen wie die anderen. Da dieser Abstand schon seit Jahren zunimmt, schlägt Allison vor, China außen vor zu lassen und stattdessen die anderen vier Staaten unter der Abkürzung RIBS zusammenzufassen.
Neben den wirtschaftlichen gibt es auch gewaltige Unterschiede hinsichtlich des politischen Gewichts: So ist China als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat vertreten, was es neben Russland zu einer der traditionellen fünf Großmächte macht. 2010 begannen die USA allerdings aufgrund der enormen globalen Bedeutung Chinas, von einem "G2" zu reden und China damit von den anderen drei Sicherheitsratsmitgliedern abzuheben. Gemeint war damit, dass nur China und die USA die Fähigkeiten hätten, globale Probleme zu lösen und ohne sie beide nichts möglich wäre.
In Anbetracht dessen ist zu fragen, ob die BRICS nicht viel zu unwichtig sind für diese "nächste Supermacht". So wurde schon oft angemerkt, dass den BRICS eine wirkliche globale Vision fehle und die Kooperation innerhalb des Verbunds aus mehreren Gründen stark eingeschränkt sei. Neben den starken wirtschaftlichen und politischen Unterschieden sei die starke koloniale Tradition bei drei der fünf Mitgliedstaaten ein weiterer Hemmschuh, darüber hinaus seien allen Ländern die Beziehungen zu den USA viel zu wichtig, als dass eine wirklich bedeutsame politische Kooperation zwischen den BRICS und gegen den Willen der USA möglich wäre.
Obwohl sich die chinesisch-indischen Beziehungen in den vergangenen Jahren gewaltig verbessert haben, sind die Streitfragen, die 1962 zum Krieg führten, weiterhin virulent. Noch im Frühjahr 2013 warf Indien China eine angebliche Grenzverletzung im Himalaja vor. Außerdem unterstützt China Indiens "Erzfeind" Pakistan, Indien dagegen, aus Sicht Pekings, die "Separatisten" in Tibet. Indien sieht den Aufstieg Chinas mit großem Misstrauen und fühlt sich von dessen Aufrüstung ebenso bedroht wie von dessen guten Beziehungen zu Myanmar, Pakistan, Bangladesch und Sri Lanka, die als Einkreisung wahrgenommen werden. China hingegen sieht Indiens "Ostpolitik" als Bedrohung seiner Interessen, besonders durch die Beziehungen zu Japan und Vietnam.
"Friedlicher Aufstieg"
Seit dem Ende der Mao-Ära 1976 legitimiert die Kommunistische Partei Chinas ihre Herrschaft nicht mehr direkt ideologisch, sondern indem sie sich als Hüterin des wirtschaftlichen Aufschwungs und der nationalen Wiedergeburt verkauft. Um beides zu ermöglichen, gab ihre Führung schon in den 1980er Jahren den Widerstand gegen das US-dominierte internationale System auf. Da Chinas Wirtschaft durch den Export angekurbelt werden sollte, war es nötig, diese als Teil des US-geführten globalen Wirtschafts- und Sicherheitssystems zu entwickeln. Inzwischen kann China als einer der größten Profiteure dieses Systems angesehen werden und ist daher zwar an einer Reform, nicht aber an seiner Zerstörung interessiert. Die chinesische Führung scheint generell akzeptiert zu haben, dass die Vormachtstellung der USA ebenso fortexistieren wird wie die Einbindung aller Staaten in ein liberales System internationaler Regeln. So profitiert China zum einen auch vom Schutz der US-Navy für seine Handelsschiffe und zum anderen von den Erleichterungen des Handels durch seine Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation (WTO). Chinas Außenpolitik ist daher dadurch gekennzeichnet, dass sie einerseits amerikanischen Unilateralismus einhegen will ohne aber andererseits die USA dabei herauszufordern. Die chinesische Führung geht daher davon aus, dass es in Zukunft ein System der "einen Supermacht und mehreren Großmächten" geben wird.
Dies mag diejenigen Beobachter überraschen, die China schon als "nächste Supermacht" sehen. In China selbst sieht man die eigenen Kapazitäten aber wesentlich skeptischer. Nach eineinhalb Jahrhunderten schmerzhaften Lernens vom Ausland und dreieinhalb Jahrzehnten mühsamer Reformbemühungen ist China ein vorsichtiger außenpolitischer Akteur geworden. Eine der Lehren der pragmatischen Außenpolitik der 1970er und 1980er Jahre ist, dass China zu einer eigenständigen Weltpolitik nicht die Ressourcen hat und daher nur durch Balanceakte die eigenen Interessen durchsetzen kann. Das Ende des Kalten Krieges bedeutete daher für China eine strategische Katastrophe, war doch die Möglichkeit des Balancierens gegenüber den USA nun begrenzt. Mit Rücksicht auf seine Einbindung in das von den USA geführte internationale System verweigerte sich China gleichzeitig allen Allianzangeboten, insbesondere denen von "Paria-Staaten" wie Iran.
Nutzen der BRICS
Seit 2009 nimmt China an den Gipfeln der Staats- und Regierungschefs der BRICS-Staaten teil. Als Grund hierfür lassen sich insgesamt fünf für China wichtige Themenkomplexe herausarbeiten:
1. Stabilisierung des internationalen Umfelds und Verhinderung einer Einkreisung:
China steht vor dem Dilemma, dass es selbst immer stärker in die Weltwirtschaft integriert ist, aber gleichzeitig keine globale sicherheitspolitische Rolle spielen will. Daher bieten die BRICS eine Möglichkeit, ein Forum zur Problemlösung mit wichtigen Absatzmärkten zu schaffen. Diese sollen stärker an China gebunden werden, zum Beispiel durch die Gründung eines BRICS Business Council,
2. Gemeinsame Verhandlungspositionen gegenüber dem Westen finden und internationalen Druck abwenden:
China hat gelernt, dass es nur gemeinsam mit anderen stark genug ist, internationale Entscheidungen nicht nur zu blockieren, sondern auch selbst zu gestalten. Daher ist für China eine bessere Abstimmung und Kompromissaushandlung mit den anderen aufstrebenden Staaten vonnöten. Dies ist natürlich im BRICS-Verbund leichter. Daneben hat das Engagement im BRICS-Rahmen für China aber auch den Vorteil, internationalen Druck auf viele Schultern zu verteilen. Bei den Klimaverhandlungen 2009 wurde China im Westen allein für deren Scheitern verantwortlich gemacht, obwohl es eigentlich eine Allianz von mehreren großen Entwicklungsländern angeführt hatte. Auch wurde sein selbstbewusstes Auftreten nach der Finanzkrise 2008 und den Olympischen Spielen in Peking von den meisten anderen Akteuren als aggressiv wahrgenommen. So hat sich inzwischen ein Riegel von Allianzen rund um China etabliert, der von den wieder stärker nach Asien orientierten USA gestützt wird.
3. Interessenvertretung der Entwicklungsländer und Erfahrungsaustausch:
Während die Entwicklungsländer jahrzehntelang von den Industrieländern zu lernen versucht haben, sind viele ihrer Vertreter inzwischen davon überzeugt, mehr von den Erfolgen und Fehlern der anderen Entwicklungsländer lernen zu können. So wurde unter anderem im südafrikanischen Durban ein gemeinsamer Think-Tank gegründet. Sein Zweck ist es, Wissenschaftlern, politischen Entscheidungsträgern und Nichtregierungsorganisationen ein Forum für die Diskussion über die BRICS zu bieten.
4. Die Hegemonie der USA begrenzen:
Wie erwähnt, ist China darum bemüht, ein unilaterales Vorgehen der USA zu verhindern, ohne sie gleichzeitig herauszufordern. Allen BRICS-Staaten, außer Russland, ist gemein, sich nicht offen mit den USA anlegen zu wollen. So zitierte bereits 2010 der Politikwissenschaftler Michael A. Glosny den chinesischen Diplomaten Wu Hailong mit den Worten: "Die Kooperation der vier Länder (damals noch ohne Südafrika, Anm. D.K.) ist transparent und richtet sich nicht gegen dritte Parteien."
5. Die internationale Ordnung reformieren:
Um seine eigene weitere Integration in die internationale Ordnung zu vereinfachen, ist China daran gelegen, diese möglichst den eigenen Interessen und Fähigkeiten anzupassen.
Wird Chinas Rolle akzeptiert?
Von den anderen aufstrebenden Staaten wird Chinas Interessenpolitik über die BRICS nicht nur positiv gesehen. Einige wähnen in seiner Mitgliedschaft gar ein bloßes Mittel zum Ausbau der eigenen Vorherrschaft.
Am klarsten wird Chinas Dominanz aber bei den Investitionen. Hier ist es mit seinen Entwicklungsbanken besonders in den Entwicklungsländern seit Jahren führend. So sieht etwa der Journalist Zachary Keck die Schaffung einer BRICS-Bank weniger gefährlich für die Weltbank und den IWF, als es die China Development Bank und andere staatliche Kreditanstalten heute schon seien. Deren internationale Kredite hätten schon 2008 bis 2010 mehr als zehn Milliarden US-Dollar über denen der internationalen Finanzinstitutionen gelegen.
Aufgrund dieses Übergewichts versuchen die RIBS China in Schach zu halten. Zum einen versuchen sie China über den BRICS-Verbund stärker einzubinden. Um aber nicht unversehens mit den BRICS allein den Zielen Chinas zu dienen, fordert zum Beispiel der indische China-Experte Srikanth Kondapalli von den RIBS-Staaten, China zur Annahme normenbasierter Grundregeln zu zwingen. Prinzipielle Zielkonflikte zwischen den BRICS-Staaten bestehen beispielsweise bei der Reform des internationalen Systems. Zwar forderte schon 2012 die Abschlusserklärung des BRICS-Gipfels unter anderem eine verantwortungsvollere Wirtschafts- und Finanzpolitik des Westens, mehr Stimmrechte im IWF, eine Führung der Weltbank aus einem Entwicklungsland sowie die Schaffung eines Süd-Süd-Entwicklungsfonds. Das eigentliche Herzensanliegen von Südafrika, Brasilien und Indien, nämlich eine ständige Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat, wurde aber nicht erwähnt. In Indien wurde hierfür besonders China verantwortlich gemacht, das seine eigene herausgehobene Position als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat nicht mit den anderen Mitgliedstaaten teilen wolle.
Deshalb wird China von den anderen Mitgliedstaaten immer wieder verdächtigt, der größte Nutznießer der BRICS zu sein, dem es allein um die Durchsetzung seiner eigenen Interessen gehe. Beispielsweise sei China viel abhängiger von Exportmärkten und damit auch anfälliger für Protektionismus als die anderen. Dementsprechend habe China 250 Milliarden US-Dollar in Rohstoffe aus den anderen Mitgliedstaaten investiert, aber fast nichts zu ihrer Industrialisierung beigetragen.
Wird China in den BRICS bleiben?
Offensichtlich hat die Mitgliedschaft für China einige klare außenpolitische Vorteile, die zumindest mittelfristig dafür sorgen sollten, dass China auch weiterhin in den BRICS bleiben wird.
Erstens hilft die Mitgliedschaft China bei der Auseinandersetzung mit einem von den USA dominierten internationalen System, in dem sich China bemüht, die Weltordnung nach seinen Bedürfnissen zu formen, ohne von den USA als Herausforderer angesehen zu werden. China wird also auch weiterhin versuchen, die BRICS-Staaten von einem allzu konfrontativen Kurs gegenüber den USA abzuhalten und gleichzeitig in enger Abstimmung mit diesen an einer Reform der internationalen Institutionen zu arbeiten.
Zweitens hat China in den BRICS ein Forum, das als eine Lernplattform verstanden werden kann. Im Schutz der BRICS kann China, das bisher wohl kein Konzept dafür besitzt, wie eine "de-amerikanisierte" Weltordnung aussehen soll, an seinem eigenen Aufstieg weiterarbeiten. Die anderen BRICS-Staaten, die teilweise aufgrund ihrer demokratischen oder marktwirtschaftlichen Ordnungen mehr in das internationale System eingebunden sind, können China hierbei wichtige Impulse geben.
Drittens dienen die BRICS China aber auch als Schutzschild. So kann China sicherstellen, nicht wieder wie nach den Klimaverhandlungen 2009 vom Westen alleine an den internationalen Pranger gestellt zu werden. Daneben können sie China aber auch helfen, weiterhin als Anführer der Entwicklungsländer wahrgenommen zu werden.
Die vielleicht größte Herausforderung für China wird aber auch sein, die Animositäten seiner Partner innerhalb des Verbundes im Zaum zu halten. Besonders Indien und Russland können über die BRICS an China gebunden werden, aber auch mit Brasilien und Südafrika bietet sich hier eine Möglichkeit, gemeinsame Probleme zu diskutieren und zu lösen. Hierfür wird es aber nötig sein, dass China auf deren Forderungen sowohl beim Ruf nach Investitionen als auch nach einer stärkeren Beteiligung an der internationalen Macht stärker eingeht. Gleichzeitig sollte man Chinas Bindung an die BRICS nicht überschätzen. Sollte China eines Tages zu der Erkenntnis kommen, dass die Mitgliedschaft in den BRICS das Land mehr kostet, als es ihm Nutzen bringt, wird es den Verbund wohl sehr rasch wieder verlassen.