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Deutschland, Europa und der Aufstieg der neuen Gestaltungsmächte | BRICS | bpb.de

BRICS Editorial Realität oder Rhetorik? Hoffnung auf eine gerechte Weltordnung Deutschland, Europa und die neuen Gestaltungsmächte Brasilien: Sozialer Fortschritt, demokratische Unruhe und internationaler Gestaltungsanspruch Russland und seine Rolle in den BRICS Indien: Unentschlossen im Club China: Aus den BRICS herausgewachsen? Außenpolitik und gesellschaftliche Entwicklung in Südafrika und Brasilien

Deutschland, Europa und der Aufstieg der neuen Gestaltungsmächte

Heinrich Kreft

/ 14 Minuten zu lesen

Wir leben in einer Zeit des beschleunigten Wandels. Die Globalisierung und der damit einhergehende Aufstieg neuer Mächte bei gleichzeitigem relativem Abstieg der USA, Europas und Japans ist der Megatrend unserer Zeit. Der Sieg des Westens über die Sowjetunion im Kalten Krieg hat zusammen mit technologischen Entwicklungen zu einer enormen Beschleunigung der Globalisierung und damit des Wandels geführt. Doch der "unipolar moment" der einzig verbliebenen Supermacht USA hat nicht lange gedauert – nur rund zwanzig Jahre nach dem Ende der alten Nachkriegsordnung zeichnen sich unübersehbar Konturen einer neuen, multizentrischen Welt ab. Der rasante ökonomische und politische Aufstieg Chinas lässt einige bereits von einer neuen Bipolarität ("G2") reden, während andere ein "asiatisches Jahrhundert" heraufziehen sehen mit China und Indien ("ChinIndia") im Mittelpunkt. Das Gravitationszentrum von Weltwirtschaft und Weltpolitik verschiebt sich ohne Zweifel vom nordatlantischen Raum nach Asien – vom Westen und Norden nach Osten und Süden. Neben den beiden bevölkerungsreichsten Ländern der Welt – China und Indien – gehören mit Südkorea, Indonesien, den Philippinen, Pakistan, Bangladesch und Vietnam auch mehr als die Hälfte der Aufsteigerländer der zweiten Reihe (die sogenannten next eleven ) zu Asien.

Doch mit Südafrika, Ägypten und Nigeria steigen auch die bevölkerungsreichsten Länder Afrikas zu Gestaltungsmächten auf, genauso wie in Lateinamerika Brasilien und Mexiko und im Nahen Osten Saudi-Arabien sowie in Zentralasien Kasachstan. Sie alle haben sich bereits zu Regionalmächten entwickelt und sind damit Teil des neuen Multizentrismus. Die Globalisierung hat aber auch zum Aufstieg nichtstaatlicher Akteure geführt. Diese – vor allem multinationale Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen – üben immer mehr Einfluss auf die internationale Agenda aus und engen somit den Handlungsspielraum der Nationalstaaten und internationaler Organisationen ein.

Allein in der als BRICS bezeichneten Gruppe der großen Aufsteigerländer (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) leben etwa 43 Prozent der Weltbevölkerung. Ihr Anteil an der globalen Produktion hat inzwischen 20 Prozent erreicht – mit steigender Tendenz. Die seit Jahren hohe gesamtwirtschaftliche Dynamik dieser Staatengruppe hat inzwischen auch die Länder der zweiten Reihe erfasst, die so ebenfalls zu neuen Zentren der Weltwirtschaft geworden sind. Mit dem Zuwachs wirtschaftlicher Macht geht zumeist auch ein politischer Aufstieg einher.

Beginn einer neuen Ordnung

Die globale Machtverschiebung ist gleichwohl kein Tsunami, sondern ein Prozess, der noch viele Jahre andauern, aber zugleich unaufhaltsam sein dürfte. Trotz relativem Machtverlust werden die USA noch längere Zeit Primus inter Pares bleiben. Doch ist keineswegs sicher, dass Amerika seine derzeitige Position in den kommenden zwei Jahrzehnten behaupten kann. Der amerikanische Einfluss in der Welt nimmt schon seit einigen Jahren kontinuierlich ab, für alle sichtbar im aktuellen Rückzug aus Afghanistan und zuvor aus dem Irak. Damit geht auch das "amerikanische Zeitalter" und mit ihm die alte Ordnung ihrem Ende entgegen, die geprägt war durch die beiden Weltkriege, die Weltwirtschaftskrise und den Kalten Krieg. Der Aufstieg Chinas und anderer neuer Gestaltungsmächte symbolisiert den Beginn einer neuen Ordnung, deren genaue Umrisse aber erst allmählich erkennbar werden. China dürfte bis zum Ende dieses Jahrzehnts zur größten Volkswirtschaft aufsteigen und könnte auch bei den Verteidigungsausgaben bis 2025 mit den USA gleichziehen.

Die Aufsteigerländer unterscheiden sich nicht nur erheblich hinsichtlich ihrer Bevölkerung und Ressourcenausstattung, sondern auch beim Pro-Kopf-Einkommen, in ihrer Marktmacht und Wirtschaftsdynamik sowie hinsichtlich ihrer inneren Verfasstheit. Mit China steigt ein nicht-demokratischer, nicht-liberaler Staat in der weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Hierarchie auf, der sich in Konkurrenz zum Westen zu einem ordnungspolitischen Modell für andere Staaten entwickeln könnte. China hat in den vergangenen 35 Jahren ein sehr erfolgreiches Entwicklungs- und Modernisierungsmodell geschaffen, das autoritäre politische Führung mit staatlich beaufsichtigtem Kapitalismus kombiniert. Mit Brasilien, Indien, Indonesien und der Türkei gehören aber auch vier demokratisch verfasste Staaten zu den Aufsteigern. Westlicher Pluralismus und Marktkapitalismus werden aber selbst in diesen Ländern ebenso mit einer Grundskepsis betrachtet wie westliche Normen und Werte sowie die bestehende liberale Weltordnung.

Statt auf Marktwirtschaft setzen viele der Aufsteigerländer auf einen staatlich gelenkten Kapitalismus. Ihre Industriepolitik zeichnet sich durch die Dominanz von Staatsunternehmen und nationaler Champions aus. "Sovereign Wealth Funds", Subventionen und Kapitalverkehrskontrollen sowie Wechselkursmanipulationen sind die wichtigsten Mittel einer solchen Strategie. Eine solche Wirtschaftspolitik zeigt nicht nur in China, sondern auch in einigen anderen autoritär regierten Ländern positive Ergebnisse, sodass sich hier nur wenig Druck in Richtung Demokratisierung und gesellschaftspolitischer Teilhabe entwickelt. Von diesen Ländern dürften auch keine Impulse zur Erneuerung der bisherigen liberalen Weltordnung ausgehen – im Gegenteil.

Anzeichen dafür gibt es immer mehr. So wurde Anfang 2011 der arabische Aufbruch, der zum Sturz Zine el-Abidine Ben Alis in Tunesien und Husni Mubaraks in Ägypten führte, in vielen Aufsteigerländern nur sehr zurückhaltend kommentiert, während er im Westen begrüßt und nach Kräften unterstützt wurde. Ebenfalls 2011 unternahmen Brasilien und die Türkei – sehr zum Missfallen der USA und Europas – gemeinsam den Versuch, die westliche Iranpolitik zu unterlaufen, scheiterten jedoch. Wiederholt haben Russland und China dank ihrer Vetomacht im UN-Sicherheitsrat die internationale Politik gegenüber Syrien maßgeblich beeinflusst und eine zumindest mögliche humanitäre Intervention gegen das Assad-Regime von vornherein verhindert.

Wenn den meisten neuen Gestaltungsmächten auch ein antiimperialistischer und antikolonialer Reflex gegenüber dem Westen gemein ist, beäugen viele sich auch gegenseitig. Das Interesse, sich dauerhaft an einen machtvollen Partner zu binden – zum Beispiel an die USA oder China –, ist in diesen Ländern wenig ausgeprägt. So wäre es ein Fehler, die BRICS – trotz ihrer Gipfel und jüngst beschlossenen Gründung einer Entwicklungsbank – als einen neuen kohärenten Machtblock zu betrachten. Zu groß sind die internen Interessenunterschiede, die zwischen Russland und China sowie zwischen China und Indien in der Vergangenheit schon zu bewaffneten Konflikten geführt haben. Dass dieses Konfliktpotenzial fortbesteht, hat zuletzt ein Zwischenfall an der chinesisch-indischen Grenze im April 2013 gezeigt. Nahezu alle neuen Gestaltungsmächte haben im Zuge ihres wirtschaftlichen Aufstiegs ihre Verteidigungsausgaben erhöht und das Militär modernisiert. Vor allem in Asien dürften die wachsenden Militärausgaben einerseits wachsenden regionalen Rivalitäten geschuldet sein, andererseits eine Reaktion auf den Einflussverlust der USA darstellen, womit sich Zweifel an der amerikanischen Fähigkeit verbinden, für den Schutz seiner Bündnispartner zu sorgen.

Viele der neuen Gestaltungsmächte orientieren sich an engen nationalen und allenfalls noch regionalen Interessen. So hat sich Brasilien in globalen Handelsfragen auch nicht durch seine strategische Partnerschaft mit China und die gemeinsame Partnerschaft in der BRICS-Gruppe davon abhalten lassen, die Volksrepublik mit dem Vorwurf des dumpings an den Pranger der Welthandelsorganisation (WTO) zu stellen. Trotz wachsender globaler Interdependenz findet Institutionenbildung und politische Integration nur auf der regionalen Ebene statt. In Südamerika treibt Brasilien mit der Südamerikanischen Union ein neues Integrationsprojekt voran, während die ASEAN-Staaten (Verband Südostasiatischer Nationen) ihre zunehmende wirtschaftliche Abhängigkeit von China durch eine stärkere Kooperation untereinander und mit den USA, Japan und Indien auszubalancieren suchen.

Trotz ihres Aufstiegs weisen viele der neuen Gestaltungsmächte nach wie vor typische Merkmale von Entwicklungsländern auf. Einige sind einseitig auf die Rohstoffproduktion und ihre Verarbeitung ausgerichtet (etwa Brasilien und Südafrika), andere haben bisher nur einige global wettbewerbsfähige Industriekerne entwickelt (zum Beispiel Indien). Die Aufsteigerländer tragen somit zwar gemeinsam zum Niedergang der westlich dominierten Nachkriegsordnung bei, sind aber – aufgrund widerstreitender Interessen – nicht in der Lage und willens, konstruktiv am Aufbau einer neuen Ordnung mitzuwirken. Gemeinsam dürften sie aber ein Interesse daran haben und stark genug sein, eine neue hierarchische Ordnung zu verhindern. Daher dürfte die Zukunft durch eine multizentrische Welt gekennzeichnet sein, die zu stabilisieren auch Ziel deutscher und europäischer Außenpolitik sein muss.

Europas Platz

Zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts steht die Bundesrepublik Deutschland und mit ihr die Bundeskanzlerin im Zenit ihres internationalen Ansehens. Von keinem anderen Land wünschten sich in einer weltweiten BBC-Umfrage mehr Befragte eine größere internationale Rolle. Deutschland hat ein Maß an Wohlstand, Sicherheit und Freiheit erreicht, wie nie zuvor in seiner Geschichte. Wie kaum ein anderes Land hat Deutschland von der Globalisierung, der liberalen internationalen Weltordnung und der europäischen Integration profitiert. Das heißt aber im Umkehrschluss, dass kaum ein anderes Land so vom Fortbestand der auf Kooperation angelegten freien Weltordnung (offene Märkte und Handelswege sowie freier Zugang zu Rohstoffen) und von einer intakten Europäischen Union abhängig ist. Von daher ist eine Überwindung der Krise in den südlichen EU-Mitgliedstaaten von vitalem deutschem Interesse. Deutschland unterhält mit all seinen Nachbarn enge und vertrauensvolle Beziehungen, womit auch die "deutsche Frage" entschärft ist, die Europa im vergangenen Jahrhundert in zwei Weltkriege verstrickt hat.

Langfristig dürfte aber selbst Deutschland keine Chance haben, seine weltwirtschaftliche Position ohne ein wettbewerbsfähiges Europa zu erhalten. Auch im günstigsten Fall einer raschen Überwindung der Krise im Euroraum werden Deutschland und Europa zukünftig an wirtschaftlicher und in der Folge an politischer Relevanz verlieren. Der europäische Anteil an der globalen wirtschaftlichen Wertschöpfung dürfte sich von 26 Prozent im Jahr 2010 bis 2030 auf 17 bis 18 Prozent reduzieren, da insbesondere die großen Schwellenländer, aber auch die USA deutlich schneller wachsen werden als Europa. Zwischen 2002 und 2007 lag der Anteil der Schwellenländer am globalen Wirtschaftswachstum erstmals über dem der OECD-Staaten. Für den Zeitraum von 2012 bis 2017 werden die Aufsteigerländer 75 Prozent des globalen Wirtschaftswachstums erzeugen. Der Anteil Europas wird in diesen Jahren – beschleunigt durch die Krise in der Eurozone – auf 5,7 Prozent zurückfallen und kein einziges europäisches Land, auch nicht Deutschland, wird zu den Top Ten der Wachstumslokomotiven gehören.

Dennoch ist Europa derzeit nach wie vor der größte Wirtschaftsraum der Welt, und der relative Niedergang bedeutet nicht zwangsläufig, dass der absolute Wohlstand in Europa sinken muss. Beim Pro-Kopf-Einkommen und der Produktivität liegt Europa noch weit vor China, der Leistungsstärksten unter den neuen Gestaltungsmächten. Die europäische Achillesferse ist die geringe Wirtschaftsdynamik. Der EU ist es nicht gelungen, bis 2010 zum "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt" zu werden, wie es im Jahr 2000 in der Lissabon-Strategie als Ziel formuliert wurde. Sie steckt heute in der tiefsten Krise ihrer Geschichte, geprägt durch demografischen Niedergang (gerade auch in Deutschland), hohe Staatsverschuldung, schwaches und uneinheitliches Wachstum, sinkende Produktivität, strukturelle Arbeitslosigkeit (insbesondere hohe Jugendarbeitslosigkeit) und politische Krisen in wichtigen Mitgliedsländern.

Während es der EU immer an hard power fehlte, hat sie aufgrund der Krise auch an soft power eingebüßt. Sie wird in den aufsteigenden Mächten weniger denn je als Modell oder starker Partner wahrgenommen, sondern als ein alternder, absteigender Kontinent, der mit sich selbst beschäftigt ist. Das hat auch Auswirkungen auf traditionelle Partner in Afrika, Lateinamerika oder Zentralasien, die sich zunehmend an China und anderen Aufsteigern orientieren. Die liberale internationale Nachkriegsordnung, der Deutschland seinen Aufstieg zu Wohlstand in Freiheit zu verdanken hat, steht unter erheblichem Druck. Zumindest der Übergang zu einer neuen Ordnung ist mit großen Unwägbarkeiten und der Gefahr von Instabilität verbunden. Wann und ob überhaupt eine neue stabile Ordnung entsteht, und wie diese dann aussehen wird, ist völlig offen. Fest steht, dass sich die für Deutschland und Europa wichtigen Bausteine globaler Ordnung – die Vereinten Nationen, die NATO und die EU – im Umbruch befinden und auch der Garant der alten Ordnung, die USA, immer mehr an Einfluss verliert.

Europäische Handlungsfähigkeit sichern

Angesichts des Aufstiegs neuer Mächte muss Europas Handlungsfähigkeit zügig wieder hergestellt werden. Dazu gilt es, die Eurokrise zügig zu überwinden und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen zu sichern. Ansonsten steht Europa vor der Gefahr, den Anschluss zu verpassen und an den Rand der globalen Wirtschaftsordnung und als Konsequenz auch der internationalen Politik gedrängt zu werden. Nur durch die Stärkung ihres ökonomischen Fundaments und die Fortsetzung der politischen Integration einschließlich des Abbaus ihres Demokratiedefizits kann die EU das Gewicht auf die Waage bringen, um auch eine zukünftige neue Ordnung mitzuprägen und in ihr eine wesentliche Rolle zu spielen.

Aufgrund des eigenen Machtverlusts wird Deutschland in Zukunft noch mehr von einer starken EU abhängen, um seine eigenen Vorstellungen für die neue globale Ordnung durchzusetzen. Es liegt daher im Interesse deutscher Europapolitik, die Gemeinschaft zu stärken und so die Handlungsfähigkeit der Union auch unter den geschilderten schwierigen Bedingungen zu sichern. Die Stabilisierung und Weiterentwicklung des Euroraums und der EU insgesamt bleibt eine Priorität deutscher Europapolitik. Die Währungsunion sollte um eine Wirtschafts- und Fiskalunion ergänzt werden. Große Investitionen sind nicht nur in der physischen Infrastruktur, sondern auch in Bildung und Forschung notwendig.

Die Welt des 21. Jahrhunderts ist geprägt von bevölkerungsreichen und zugleich dynamischen Staaten wie die USA, China, Indien und Brasilien. Um im Wettbewerb mit diesen als Markt attraktiv zu bleiben, ist die Vollendung des europäischen Binnenmarktes unerlässlich. Unter anderem durch einen einheitlicheren europäischen Arbeitsmarkt könnte Europa seine Attraktivität für qualifizierte Zuwanderer erhöhen und somit den drohenden demografischen Niedergang aufhalten. Nur ein koordinierter Ansatz kann die Antwort Europas und Deutschlands sein, um die Herausforderungen des globalen Wandels zu meistern. "Wir stellen in Europa noch sieben Prozent der Weltbevölkerung. Wenn wir nicht zusammenhalten, wird man unsere Stimme und Überzeugungen kaum wahrnehmen", mahnte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel schon 2012.

Um auch in Zukunft eine gestaltende Rolle in der Welt spielen zu können, braucht Europa eine starke Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie eine Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Dazu gehört auch eine Stärkung des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) sowie der Position der Hohen Vertreterin, derzeit Catherine Ashton. Im Vordergrund sollte dabei die Nachbarschaftspolitik stehen. Für ihre östliche und südliche Nachbarschaft muss die EU ihre Rolle als regionale Ordnungsmacht annehmen. Deutschland und Europa haben ein fundamentales Eigeninteresse an einer nachhaltigen Stabilisierung und Demokratisierung Osteuropas und der Maghreb- und Maschrek-Staaten sowie an einer dauerhaften europäischen Verankerung der Türkei. Die Förderung von Demokratie, Pluralismus, guter Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit sowie die Achtung der Menschenrechte insbesondere in der eigenen Nachbarschaft hat dabei auf der Agenda der EU ganz oben zu stehen. Ein stärkeres einheitliches Auftreten ihrer Mitgliedstaaten ist auch in den internationalen Institutionen – Vereinte Nationen, Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbankgruppe – erforderlich, um so den auch dort drohenden Machtverlust aufgrund wachsender Vertretungsansprüche der neuen Gestaltungsmächte in Grenzen zu halten.

Deutschland als europäische Gestaltungsmacht

Die globale Machtverschiebung hin zu den neuen Gestaltungsmächten kann zwar nicht verhindert werden, gleichwohl besteht aber für Deutschland und Europa die Möglichkeit, die dadurch entstehende, durch Multizentralität gekennzeichnete neue Ordnung mit zu gestalten. Es ist das strategische Ziel deutscher und europäischer Außenpolitik, dass dieser Übergang friedlich verläuft, die neue Ordnung möglichst liberal und regelbasiert gestaltet wird und auf Kooperation zielt. Es muss daher das Ziel deutscher und europäischer Außenpolitik sein, Partner zu gewinnen, mit deren Hilfe das normative Geflecht, das in den vergangenen Jahrzehnten im Westen entwickelt worden ist, zu sichern und möglichst weiter auszubauen. Für Deutschland und die EU gilt es, die Beziehungen zu den like-minded – den Gleichgesinnten – zu stärken. Dazu gehören die traditionellen Partner in Europa einschließlich der Türkei sowie die nichteuropäischen NATO-Partner USA und Kanada, aber auch Japan und Südkorea, Australien und Neuseeland, Mexiko und Chile sowie Israel.

Es muss aber auch das Ziel Deutschlands und Europas sein, die Beziehungen zu den weltpolitischen Aufsteigern zu verbreitern und zu vertiefen, insbesondere zu denen, die unseren Werten und Normen am nächsten stehen. Dazu gehören ohne Zweifel die lateinamerikanischen Staaten (mit Brasilien an der Spitze) sowie Indien. Mit diesen sowie mit Russland und China ist die EU denn auch strategische Partnerschaften eingegangen, die es nun mit Substanz zu füllen gilt. Aber auch die Beziehungen zu den next eleven sollten weiter ausgebaut werden: unter anderem zu Ägypten, Südafrika und Nigeria, ebenso zu Indonesien und Vietnam sowie zu Pakistan, Saudi-Arabien und Kasachstan, die alle zu regionalen Akteuren aufgestiegen sind.

Zum Ausbau der Beziehungen zu diesen Staaten gehört auch die Unterstützung ihrer angemessenen Repräsentanz in internationalen Organisationen, um so deren Interesse an diesen Institutionen zu erhalten, beziehungsweise zu wecken. Ansonsten drohen diese Organisationen an Einfluss zugunsten regionaler Institutionen zu verlieren. Ziel deutscher und europäischen Außenpolitik sollte es sein, die neuen Gestaltungsmächte dafür zu gewinnen – gemäß ihres Machtzuwachses – mehr Verantwortung für die internationale Ordnung zu übernehmen. Dazu gehört auch, "Störenfriede" in die Schranken zu weisen und dazu beizutragen, den Zerfall von Staatlichkeit und die daraus erwachsenden Konsequenzen zu verhindern, wie etwa in Somalia, das zu einem Brutkasten und Rückzugsgebiet für Terroristen und Piraten geworden ist.

Seit der Wiedervereinigung und der zunehmenden Überwindung der Teilungsfolgen ist die Bundesrepublik Deutschland in Europa in eine politische Führungsrolle hineingewachsen. Während manche die deutsche Regierung anmahnen, diese Rolle beherzt anzunehmen – etwa der polnische Außenminister Radek Sikorski –, befürchten andere genau dies. Insbesondere im Süden der Eurozone wird Deutschlands wachsender Stärke angesichts der dortigen Staatsschuldenkrise mit Unbehagen begegnet. Deutschland hat diese Führungsrolle zu akzeptieren, sollte sie aber zugleich mit viel Umsicht, Geduld und Bereitschaft zum Interessenausgleich ausfüllen.

Aufgrund ihres relativen Machtverlustes und der Refokussierung der USA auf eigene Kerninteressen und prioritäre Regionen – zu denen Europa und seine Umgebung immer weniger gehören – müssen Deutschland und Europa sich auch stärker engagieren, um in ihrer Nachbarschaft, zum Beispiel in Nordafrika, kein Machtvakuum und damit Instabilität entstehen zu lassen. Nie war die Möglichkeit, aber auch die Dringlichkeit echter Partnerschaft innerhalb des "globalen Westens" so groß wie heute. Es geht um nichts Geringeres als darum, eine liberale internationale Ordnung zu bewahren beziehungsweise unter den sich ändernden weltpolitischen Rahmenbedingungen neu zu begründen, um Wohlstand, Sicherheit und Freiheit auch für die Zukunft zu sichern.

Dr. phil., geb. 1958; Botschafter und Beauftragter für Außenwissenschafts- und Bildungspolitik und den Dialog zwischen den Kulturen im Auswärtigen Amt, Werderscher Markt 1, 10117 Berlin. E-Mail Link: heinrichkreft@msn.com