Bündnis 90/Die Grünen und die Piratenpartei waren seit der Bundestagswahl 2009 im Höhenrausch: Die Grünen lagen nach dem Reaktorunglück von Fukushima und den Diskussionen um Stuttgart 21 in den Umfragen auf Bundesebene im April 2011 bei 27 Prozent,
Noch vor wenigen Monaten schien es, als habe die Ökologie das Thema soziale Gerechtigkeit im politischen Diskurs abgelöst. Die Grünen waren übermächtig in einer von ihnen publizistisch und im öffentlichen Dienst strukturell dominierten Gesellschaft.
Doch während Bündnis 90/Die Grünen vor 30 Jahren den Sprung über die Fünfprozenthürde in den Deutschen Bundestag schafften und seitdem – bis auf die Ausnahme nach der Wiedervereinigung – ununterbrochen Oppositions- oder Regierungspolitik betreiben, legten die Piraten 2013 zwar um 0,2 Prozentpunkte zu, doch das reichte nicht aus für den Einzug in den Bundestag. Mit 8,4 Prozent blieben Bündnis 90/Die Grünen bei der Bundestagswahl zwar hinter den eigenen Erwartungen zurück. Dennoch sind sie mittlerweile sogar ernstzunehmender Koalitionspartner für die Union. Die Piraten hingegen sind mit 2,2 Prozent wieder in die Riege der sonstigen Parteien abgestiegen. Der vorliegende Beitrag greift den Vergleich der Anti-Establishment-Parteien als Zeitgeistparteien auf, wobei der Zeitgeist besondere Eigenheiten und Merkmale eines Zeitalters umfasst und der Vergleich auch die Gegenüberstellung der jeweiligen Gründungsjahre mit einschließt.
Der Zeitgeist als Rückenwind
Die Gesellschaft ist grün: Die CDU setzt die Energiewende um, Häuser werden um jeden Preis gedämmt, die Bahncard ist grün, Siemens baut "Green Cities", Discounter verkaufen Bio-Produkte, Bioläden verkaufen an Laufpublikum, Öko ist als Massenware Verkaufsschlager. Die Umwelt war das Überlebensthema, das die Grünen – damals als politische Avantgarde – auf der Welle der Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss 1983 in den Bundestag gespült hat. Seitdem prägen die Alternativen die etablierte Politik: Umweltminsterien wurden eingerichtet, Frauenquoten eingeführt. Neben Basisdemokratie, sozialer Gerechtigkeit, Friedenspolitik und Migrationspolitik hat die Energiepolitik die Grünen in der 17. Legislaturperiode stark gemacht, nach Fukushima in Baden-Württemberg stärker als die SPD. Die Gesellschaft ist grün wie nie zuvor. Grün ist Distinktionsmerkmal und Geschäftsmodell. Grün ist progressiv. Grün ist moralisch einwandfrei. Grün sei schlicht cool, schrieb Andrej S. Markovits als Ergebnis einer Zeitdiagnose über 30 Jahre Grüne im Bundestag.
Die Gesellschaft ist digital: E-Mail-Kommunikation, Speicherwolken, Online-Banking, Smartphones, Haushaltsführung. Die elektronische Wirtschaft beschleunigt, radikalisiert und dominiert den globalen Kapitalismus – Produktion, Finanztransaktionen, Handel.
Am Zeitgeist vorbei?
Die öffentliche Prägekraft der Grünen und das Umfragehoch der laufenden Legislaturperiode konnte nicht in politische Wahlergebnisse gegossen werden. Warum? Die Mitglieder der Grünen sind bei Akademikern und Angehörigen des Öffentlichen Dienstes überrepräsentiert.
Noch bis Sommer 2013 sprach Vieles für ein gutes Abschneiden der Grünen. Es sah so aus, als würden die Grünen in neue Wählerschichten vordringen. Dennoch konnten die Grünen bei der Bundestagswahl ihr politisches Potenzial nicht ausschöpfen, vor allem aus folgenden Gründen: 1) Trotz des gesellschaftlichen Rückenwindes wurden die Grünen nur von ihrer eigenen Stammwählerschaft gewählt, nur wenige Wähler kamen von Union, SPD und Linke hinzu. Aber immerhin: Stammwähler der Grünen umfassen 8 Prozent. 2) Mit den Themen Steuergerechtigkeit und Steuererhöhungen – so die Deutung nach der Wahl – konkurrierten die Grünen mit Sozialdemokraten und Linken, ohne diesen eine Kernkompetenz streitig machen zu können. Zudem "vergraulten" sie jene potenziellen Wähler, die zu den Besserverdienern gehören und höheren Belastungen nicht zustimmen wollten. 3) Das Kernthema der Grünen, die Energiewende, überließen Partei und Spitzenkandidaten der Union, der Kanzlerin und Umweltminister Peter Altmaier. Warum es der Ökopartei nicht gelang, mehr aus dem ureigenen Thema Atomausstieg zu machen, bleibt ein Rätsel. 4) Der Vorschlag der Fraktionsvorsitzenden Renate Künast, einen Veggie Day – in öffentlichen Kantinen einmal wöchentlich auf Fleisch zu verzichten – einzuführen, erinnerte an den Fünf-Mark-Beschluss für einen Liter Benzin aus dem Jahr 1998. Für Kritiker bestätigte der Vorschlag Vorurteile, die Grünen seien eine "Verbotspartei". Solche rigiden Ideen passen nicht zu einer Anhängerschaft, die moralisch zwar sehr genau weiß, wie ihr Leben aussehen soll, sich aber vom Staat keine Vorschriften machen lassen will. Ob sich ein gesellschaftlicher Trend später sowieso durchsetzt und gerade von dieser Gruppe als Trend vorangetrieben wird, steht auf einem anderen Blatt. 5) Die Debatte um pädophilenfreundliche Politik während der Gründungszeit verunsicherte potenzielle Wähler zusätzlich. Hier kam ein politischer Abgrund der Gründungszeit öffentlich zum Vorschein, der mit Jürgen Trittin die Führungsspitze der Partei auffallend unvorbereitet traf.
Den Piraten spielte die NSA-Affäre in die Hände. In dem Skandal um umfangreiche Abhöraktivitäten des amerikanischen Geheimdienstes geht es scheinbar um das Kernthema der Piraten: Datenschutz und Bürgerrechte im Zeitalter des Internets. Doch die Partei, die als "Internetpartei" wahrgenommen wird, konzentriert sich vor allem auf Organisationsprinzipien der Internetkultur, die auf die Politik übertragen werden sollen.
Anders als die Grünen sind die Piraten mit dem Ergebnis von 2,2 Prozent jedoch nicht auf ein bereits vorher stabiles Niveau zurück geworfen worden. Im Vergleich zu 2009 haben sie 0,2 Prozentpunkte hinzugewonnen und immerhin 10 Prozent der Erstwähler haben sich für die Piraten entschieden.
Grüne und Piraten kämpfen zudem mit dem Führungsgeschick von Angela Merkel. Sie versteht es gut, Positionen anderer Parteien in ihr Programm zu integrieren. Darunter Energiewende und Mietpreisbremse – zentrale Themen von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD. Der Union gelang es zudem, die Grünen als kleinbürgerliche Spießer zu markieren. Schwierige Angelegenheiten, wie die NSA-Affäre, umschifft Merkel, indem sie sie offensiv ignorieren lässt
Struktureller Vergleich und Unterschiede
Basisdemokratie:
Basisdemokratie, direkte Partizipation und Transparenz waren zur Gründungszeit der Grünen ebenso zentral wie für die Gründer der Piraten. Auch die Grünen öffneten seinerzeit ihre Fraktion dem Fernsehen und den Rotationsregelungen – um sie später wieder zu schließen. Die Piraten hätten von den Versuchen der Grünen lernen können. Die Einordnung in Hierarchien war auch für die Alternativen notwendig. Mit dem Internet konnten die Piraten 30 Jahre später allerdings wieder völlig neue Ansätze der Delegation entwickeln. Diese Innovation muss ihnen zugeschrieben werden. Und von den Neuerungen kann das gesamte Parteiensystem profitieren.
Anti-Parteien-Partei:
Die massive Kritik an Abstimmungs- und Organisationsprozessen in den sogenannten etablierten Parteien übten zu Beginn der 1980er Jahre die Grünen ebenso wie die Piraten in den vergangenen Jahren. Bereits mit ihrem Habitus grenzten sich Grüne und Piraten von den Berufspolitikern ab. Ein vorher prekär beschäftigter Akademiker mit Bart und Wollpulli wirkte auf die Berufspolitiker im Bonner Parlament der frühen 1980er Jahre ebenso unseriös wie ein Parteivertreter, der in einer Fernsehsendung in Berlin ein Honorar in der Höhe seiner monatlichen Sozialleistungen bekam. Doch gerade die Diskrepanz der sozialen Darstellung zeigte damals wie heute den Abstand zwischen manchen Bürgern und einem Großteil der Regierenden auf.
Single-issue:
Die Grünen waren eine Protestpartei, die mit der Umwelt ein gesellschaftliches Thema hatte, das die Partei nicht nur zum Sammelbecken einer gesellschaftlichen Anti-Haltung machte, sondern gleichzeitig in eine Richtung wies. Getragen wurde dieses Thema von der "Stillen Revolution", dem postmateriellen Wandel von einer Produktionsgesellschaft hin zu der Auseinandersetzung um Lebensqualität, Gesundheit, Selbstverwirklichung.
Nicht rechts, nicht links, sondern vorn:
Eine Verortung als Avantgarde beanspruchten die Grünen für sich in ihrer Gründungszeit ebenso wie die Piraten.
Protestparteien:
Beide Parteien waren zu ihrer Zeit Protestparteien, die aus der Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien gewählt wurden. In den 1980er Jahren konnten die Grünen Wähler der SPD, Nichtwähler und konservative Wähler mobilisieren. Es schien so, als könnten die Piraten einen ähnlichen Weg gehen. Doch zu dieser Zeit konnte der rasante Aufstieg der AfD die als Protestpartei bei der Bundestagswahl 2013 4,7 Prozent erreichte, noch nicht vorhergesagt werden. Die AfD mobilisierte zusätzliches Potenzial der etablierten Parteien. Der Platz für Protestparteien im Parteiensystem ist jedoch begrenzt.
Europäische Bewegung:
Grüne und Piratenparteien sind im Rahmen einer europäischen Bewegung entstanden. Die erste grüne Partei in Europa gründete sich in England, die erste Piratenpartei in Schweden. Während die Grünen auf eine stabile Vorfeldorganisation in den transnationalen sozialen Bewegungen zurückgreifen konnten, blieben die Piraten auf wenige Themen konzentriert. Urheberrecht im Internet und Netzsperren waren zentrale Themen, die zur breiten Mobilisierung bei der Bundestagswahl nicht ausreichten.
Eine Paradoxie und was bleibt
Nach der Bundestagswahl 2013 stehen Bündnis 90/Die Grünen und die Piraten vor völlig unterschiedlichen Perspektiven. Die Grünen sind eine etablierte Partei im politischen Betrieb mit starkem gesellschaftlich-kulturellem Einfluss. Erstmals stehen die Grünen auf Bundesebene vor drei Koalitionsoptionen: Neben Rot-Grün, sollte es zu einer Mehrheit irgendwann wieder reichen, ist Rot-Rot-Grün eine Option – und rechnerisch möglich. Sondierungsgespräche mit der Union fanden bereits statt. Die reale Machtoption ist für die Umweltpartei die Chance, politischen Einfluss zu nehmen. Zudem haben die Spitzenpolitiker der Grünen nach der Wahl treffend formuliert, dass mit dem Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag das Thema Bürgerrechte von den Grünen besetzt werden könnte.
So haben die Grünen zwar ihr zweistelliges Wahlziel nicht erreicht, doch die machtpolitischen Aussichten und Möglichkeiten sind nach der Bundestagswahl 2013 gar nicht so schlecht. Nach wie vor sind sie die Partei eines alternativen Lebensgefühls, das eine Abwechslung zu den alten Volksparteien bietet. Und während der schwarz-gelben Koalition, die von Beobachtern und sogar vom eigenen Lager bemerkenswert schlecht beurteilt wurde, war es einfach, die Grünen gut zu finden. Nur wählen wollte man sie in schwierigen Zeiten dann doch nicht. Die Kanzlerin hatte die Krise einfach zu gut gemanaget.
Die Grünen blicken auf eine 30-jährige Parlamentsgeschichte auf Bundesebene und eine 40-jährige Parteigeschichte zurück, wenn man ihre Vorläufer mitberücksichtigt. Die gesellschaftliche Verankerung der Grünen ist ungleich stärker als die Verwurzelung der Piraten im digitalen Milieu und unter den Protestwählern. Der Mensch ist von der digitalen Revolution zwar ebenso betroffen wie von der postmateriellen Revolution, zu der er sich freiwillig bekannte. Doch sind die propagierten Grenzen des Wachstums auf gesellschaftliche Resonanz gestoßen, die in den Neuen Sozialen Bewegungen mündeten. Die digitale Revolution erreicht jeden Einzelnen schnell und langsam zugleich im Alltag; sie breitet sich gleichzeitig so schleichend aus, dass nur Einzelne auf die Vorteile der Digitalisierung verzichten möchten. Doch trotz und mit dem Internet, Bürger und "Digitale Citoyens"
Doch die Piraten verschwinden nicht einfach von der politischen Bühne. Sie haben als außerparlamentarische Opposition Politik betrieben und verändert.
Der Politikwissenschaftler Christoph Bieber geht sogar davon aus, dass die Piraten bei sinkenden Mitgliedschaften in den Alt-Parteien Vorreiter eines neuen Typus von Netzwerkparteien seien können – mit flachem Organisationsaufbau und themengebundenen Arbeitseinheiten.