Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Paradoxie gesellschaftlicher Revolutionen. Wie Grüne und Piraten den Zeitgeist verloren | Bundestagswahl 2013 | bpb.de

Bundestagswahl 2013 Editorial Regierungsbilanz: Politikwechsel und Krisenentscheidungen Angela Merkels Sieg in der Mitte Strategie zählt Wie Grüne und Piraten den Zeitgeist verloren Bundestagswahl im Netz Wahlbeteiligung und Nichtwähler "Koalitionspolitik" vor und nach der Bundestagswahl

Paradoxie gesellschaftlicher Revolutionen. Wie Grüne und Piraten den Zeitgeist verloren

Saskia Richter

/ 15 Minuten zu lesen

Bündnis 90/Die Grünen und die Piratenpartei waren seit der Bundestagswahl 2009 im Höhenrausch: Die Grünen lagen nach dem Reaktorunglück von Fukushima und den Diskussionen um Stuttgart 21 in den Umfragen auf Bundesebene im April 2011 bei 27 Prozent, seit der Landtagswahl in Baden-Württemberg 2011 stellen sie mit Winfried Kretschmann den ersten grünen Ministerpräsidenten. Die Piraten fokussierten als Partei der digitalen Revolution das Thema Netzsicherheit im und Demokratie durch das Internet; sie zogen in 4 der 16 Landesparlamente ein. Der NSA-Skandal, der die Nachvollziehbarkeit digitaler Daten offenbarte, schien ihr Thema zu sein. Beide Parteien sind durch den jeweiligen Zeitgeist entstanden und in der 17. Legislaturperiode stark geworden: die Grünen aus der Umweltbewegung und außerparlamentarischen Opposition der 1970er Jahre, deren Wirkkraft heute durchschlägt; die Piraten thematisieren die Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Doch beide Parteien schnitten bei der Bundestagswahl 2013 bemerkenswert schlecht ab. Warum?

Noch vor wenigen Monaten schien es, als habe die Ökologie das Thema soziale Gerechtigkeit im politischen Diskurs abgelöst. Die Grünen waren übermächtig in einer von ihnen publizistisch und im öffentlichen Dienst strukturell dominierten Gesellschaft. Es schien, als könne von der politischen Farbe "grün" Handlungsempfehlungen für Energiewende, Ernährung und Economy abgeleitet werden. Ähnlich sah es bei den Piraten aus, sie waren wie die Grün-Alternativen zu ihren Gründungszeiten habituell ohne jeden Respekt vor dem politischen Establishment, versprachen mit einer neuen Politik ihre Anhänger zu mobilisieren und besetzten mit Internetsicherheit und -partizipation die Themen der Zeit, die die großen Parteien stiefmütterlich vernachlässigten. Das Wählerpotenzial war riesig, denn im Wahlkampf stellte sich eine trügerische Ununterscheidbarkeit zwischen Merkel-CDU und Sozialdemokratie ein.

Doch während Bündnis 90/Die Grünen vor 30 Jahren den Sprung über die Fünfprozenthürde in den Deutschen Bundestag schafften und seitdem – bis auf die Ausnahme nach der Wiedervereinigung – ununterbrochen Oppositions- oder Regierungspolitik betreiben, legten die Piraten 2013 zwar um 0,2 Prozentpunkte zu, doch das reichte nicht aus für den Einzug in den Bundestag. Mit 8,4 Prozent blieben Bündnis 90/Die Grünen bei der Bundestagswahl zwar hinter den eigenen Erwartungen zurück. Dennoch sind sie mittlerweile sogar ernstzunehmender Koalitionspartner für die Union. Die Piraten hingegen sind mit 2,2 Prozent wieder in die Riege der sonstigen Parteien abgestiegen. Der vorliegende Beitrag greift den Vergleich der Anti-Establishment-Parteien als Zeitgeistparteien auf, wobei der Zeitgeist besondere Eigenheiten und Merkmale eines Zeitalters umfasst und der Vergleich auch die Gegenüberstellung der jeweiligen Gründungsjahre mit einschließt.

Der Zeitgeist als Rückenwind

Die Gesellschaft ist grün: Die CDU setzt die Energiewende um, Häuser werden um jeden Preis gedämmt, die Bahncard ist grün, Siemens baut "Green Cities", Discounter verkaufen Bio-Produkte, Bioläden verkaufen an Laufpublikum, Öko ist als Massenware Verkaufsschlager. Die Umwelt war das Überlebensthema, das die Grünen – damals als politische Avantgarde – auf der Welle der Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss 1983 in den Bundestag gespült hat. Seitdem prägen die Alternativen die etablierte Politik: Umweltminsterien wurden eingerichtet, Frauenquoten eingeführt. Neben Basisdemokratie, sozialer Gerechtigkeit, Friedenspolitik und Migrationspolitik hat die Energiepolitik die Grünen in der 17. Legislaturperiode stark gemacht, nach Fukushima in Baden-Württemberg stärker als die SPD. Die Gesellschaft ist grün wie nie zuvor. Grün ist Distinktionsmerkmal und Geschäftsmodell. Grün ist progressiv. Grün ist moralisch einwandfrei. Grün sei schlicht cool, schrieb Andrej S. Markovits als Ergebnis einer Zeitdiagnose über 30 Jahre Grüne im Bundestag. Die Ökopartei regiere das Land, obwohl sie nicht an der Macht sei, schrieben Matthias Geis und Bernd Ulrich im Juni 2011 in der "Zeit", das dominierende Lebensgefühl sei wie die Grünen – nachhaltig, hedonistisch, ohne Bevormundung und mittelschichtig. Diejenigen, die den Grünen kritisch gegenüberstanden, sahen in der Übermacht der Partei auch schon eine Ökodiktatur, die von den jeweiligen Regierungen im vorauseilenden Gehorsam umgesetzt wurde. Dazu brauchte es die Grünen gar nicht in der Regierung, womit das zentrale Problem der Partei benannt ist. Knapp 60.000 Mitglieder hatten die Grünen zu Beginn des Jahres 2013. Während die SPD Mitglieder verlor, wurden es bei den Grünen stetig mehr. Während die SPD ihren Status als Volkspartei – und es gibt immerhin knapp 500.000 Genossen – verteidigen muss, schienen die Grünen eine neue Volkspartei zu werden. Nach der Bundestagswahl 2013 wird deutlich: Der Abstand der Parteiorganisationen ist riesig.

Die Gesellschaft ist digital: E-Mail-Kommunikation, Speicherwolken, Online-Banking, Smartphones, Haushaltsführung. Die elektronische Wirtschaft beschleunigt, radikalisiert und dominiert den globalen Kapitalismus – Produktion, Finanztransaktionen, Handel. Zeitungen ringen online um ihre Geschäftsmodelle. Auch das Fernsehen verbindet sich mit dem Internet, wenn ein Politiker gleichzeitig in der Talkshow und auf Twitter argumentiert. Die digitale Revolution ist die zentrale Veränderung des 21. Jahrhunderts hin von der postmateriellen Gesellschaft zur Informationsgesellschaft. So haben sich die Piraten in Europa gegründet, zunächst in Schweden, im September 2006 in Deutschland. Freiheit ist den Piraten wichtig, digitale Bürgerrechte und eine Reform des Urheberrechts. Politisch mobilisierten die Piraten gegen Zugangssperren im Internet; politische Unzufriedenheit war ein wichtiges persönliches Motiv. Das als organisatorische Lösung für verkrustete Strukturen präsentierte Programm Liquid Democracy war immerhin so erfolgreich, dass auch die etablierten Parteien unter Druck gerieten, insbesondere als die Piraten 2011 in Berlin und 2012 in Nordrhein-Westfalen, dem Saarland und Schleswig-Holstein in die Landesparlamente einzogen. Die Piraten waren die Anti-Parteien-Partei der 17. Legislaturperiode; so hatten sich auch die Grünen zu Beginn der 1980er Jahren bezeichnet. Das Potenzial der Piraten lag 2012 zwischen 5 und 10 Prozent. Doch schon zu Beginn des Wahljahres zeichnete sich ab, dass es für den Bundestag nicht reichen würde. Unsouverän vorgetragene Programmatik, fehlendes Führungspersonal und Kompetenzrangeleien prägten das Bild der Piraten im Wahlkampf. In einer Zeit, in der es darauf ankam, Wähler zu mobilisieren, hatte es die Partei geschafft, sich selbst zu zerlegen.

Am Zeitgeist vorbei?

Die öffentliche Prägekraft der Grünen und das Umfragehoch der laufenden Legislaturperiode konnte nicht in politische Wahlergebnisse gegossen werden. Warum? Die Mitglieder der Grünen sind bei Akademikern und Angehörigen des Öffentlichen Dienstes überrepräsentiert. Daraus ergeben sich ein großes Gestaltungspotenzial der Partei und eine verstärkte öffentliche Wahrnehmung. Doch bei den Älteren sind die Grünen deutlich unterrepräsentiert – und hier werden derzeit Wahlen entschieden. Auch bei der Bundestagswahl 2013 wählten die meisten Rentner die Union. Bei den Erstwählern konnten die Grünen zwar punkten (11 Prozent), doch die meisten entschieden sich dennoch für die Unionsparteien (31 Prozent). Unter den Wählern erhielten die Grünen schließlich Zuwanderung von der FDP und von den Linken; sie verloren jedoch einen Großteil ihrer Wähler an SPD (550.000), CDU/CSU (420.000) und sogar an die Alternative für Deutschland (AfD) und Nichtwähler.

Noch bis Sommer 2013 sprach Vieles für ein gutes Abschneiden der Grünen. Es sah so aus, als würden die Grünen in neue Wählerschichten vordringen. Dennoch konnten die Grünen bei der Bundestagswahl ihr politisches Potenzial nicht ausschöpfen, vor allem aus folgenden Gründen: 1) Trotz des gesellschaftlichen Rückenwindes wurden die Grünen nur von ihrer eigenen Stammwählerschaft gewählt, nur wenige Wähler kamen von Union, SPD und Linke hinzu. Aber immerhin: Stammwähler der Grünen umfassen 8 Prozent. 2) Mit den Themen Steuergerechtigkeit und Steuererhöhungen – so die Deutung nach der Wahl – konkurrierten die Grünen mit Sozialdemokraten und Linken, ohne diesen eine Kernkompetenz streitig machen zu können. Zudem "vergraulten" sie jene potenziellen Wähler, die zu den Besserverdienern gehören und höheren Belastungen nicht zustimmen wollten. 3) Das Kernthema der Grünen, die Energiewende, überließen Partei und Spitzenkandidaten der Union, der Kanzlerin und Umweltminister Peter Altmaier. Warum es der Ökopartei nicht gelang, mehr aus dem ureigenen Thema Atomausstieg zu machen, bleibt ein Rätsel. 4) Der Vorschlag der Fraktionsvorsitzenden Renate Künast, einen Veggie Day – in öffentlichen Kantinen einmal wöchentlich auf Fleisch zu verzichten – einzuführen, erinnerte an den Fünf-Mark-Beschluss für einen Liter Benzin aus dem Jahr 1998. Für Kritiker bestätigte der Vorschlag Vorurteile, die Grünen seien eine "Verbotspartei". Solche rigiden Ideen passen nicht zu einer Anhängerschaft, die moralisch zwar sehr genau weiß, wie ihr Leben aussehen soll, sich aber vom Staat keine Vorschriften machen lassen will. Ob sich ein gesellschaftlicher Trend später sowieso durchsetzt und gerade von dieser Gruppe als Trend vorangetrieben wird, steht auf einem anderen Blatt. 5) Die Debatte um pädophilenfreundliche Politik während der Gründungszeit verunsicherte potenzielle Wähler zusätzlich. Hier kam ein politischer Abgrund der Gründungszeit öffentlich zum Vorschein, der mit Jürgen Trittin die Führungsspitze der Partei auffallend unvorbereitet traf.

Den Piraten spielte die NSA-Affäre in die Hände. In dem Skandal um umfangreiche Abhöraktivitäten des amerikanischen Geheimdienstes geht es scheinbar um das Kernthema der Piraten: Datenschutz und Bürgerrechte im Zeitalter des Internets. Doch die Partei, die als "Internetpartei" wahrgenommen wird, konzentriert sich vor allem auf Organisationsprinzipien der Internetkultur, die auf die Politik übertragen werden sollen. Die Veränderung des politischen Systems selbst sei die digitale Revolution, nicht die digitale Revolution, die Alltagsgestaltung und -kommunikation, Wirtschaft und Finanzwelt verändert hat. So forderte die Partei zwar eine Reform der Geheimdienste und einen besseren Schutz der digitalen Infrastrukturen, letztlich konnte es ihr jedoch nicht gelingen, das Thema des NSA-Skandals in politisches Kapital umzuwandeln. Denn die Piraten sind nicht dafür angetreten, bürgerliche Freiheitsrechte im digitalen Zeitalter zu verteidigen, sondern dafür, die Gesellschaft weiter zu digitalisieren – und dies schien, nachdem die Unsicherheit jeglicher digitaler Daten bekannt geworden war, nicht das gewesen zu sein, was sich die Bürger gewünscht haben.

Anders als die Grünen sind die Piraten mit dem Ergebnis von 2,2 Prozent jedoch nicht auf ein bereits vorher stabiles Niveau zurück geworfen worden. Im Vergleich zu 2009 haben sie 0,2 Prozentpunkte hinzugewonnen und immerhin 10 Prozent der Erstwähler haben sich für die Piraten entschieden. Die Piraten sind bei der Bundestagswahl 2013 politisch gescheitert, sie können sich nun auf ihre Arbeit in vier Landtagsfraktionen fokussieren. Zumindest für die nächsten vier Jahre. Es gab zahlreiche Gründe, die für das schlechte Abschneiden maßgeblich waren: 1) Bei den Piraten dominierten Protest und Kritik an den etablierten Parteien. Ihnen fehlten die politische Grundhaltung und das politische Thema, die ihre Politik in eine gesellschaftliche Richtung wiesen. 2) Ihre Vorstellungen neuer Transparenz setzten sich im laufenden Politikbetrieb nicht durch; die Art und Weise des politischen Vorgehens dominierte zu lange inhaltliche Positionen. 3) Die Organisation der Piratenpartei war zerfasert, die politische Führung auch im Bundestagswahlkampf zerstritten. Auch wenn Parteiorganisationen sich durch ihre Mitglieder und gesellschaftlichen Unterstützer stärken, so benötigen sie doch Führungspersonal im Wahlkampf, auf das politische Verantwortung projiziert werden kann.

Grüne und Piraten kämpfen zudem mit dem Führungsgeschick von Angela Merkel. Sie versteht es gut, Positionen anderer Parteien in ihr Programm zu integrieren. Darunter Energiewende und Mietpreisbremse – zentrale Themen von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD. Der Union gelang es zudem, die Grünen als kleinbürgerliche Spießer zu markieren. Schwierige Angelegenheiten, wie die NSA-Affäre, umschifft Merkel, indem sie sie offensiv ignorieren lässt – bis sie in diesem Fall selbst von den Abhöraktivitäten getroffen wurde. Noch im April 2012 bezeichnete Merkel die Piraten als interessante Erscheinung. Sie und andere Parteispitzen erkannten die neue Partei an und reagierten in ihren eigenen Wahlprogrammen der Parteien auf die inhaltliche Positionierung zum Thema Netzpolitik (Ausbau Breitband-Zugänge, öffentliches WLAN, Förderung Medienkompetenz, Anonymität im Netz, Netzneutralität, Datenschutz und Einiges mehr). Allein dies ist als Erfolg für die Piratenpartei zu deuten, die dennoch an ihrer eigenen Organisation scheiterte.

Struktureller Vergleich und Unterschiede

Basisdemokratie:

Basisdemokratie, direkte Partizipation und Transparenz waren zur Gründungszeit der Grünen ebenso zentral wie für die Gründer der Piraten. Auch die Grünen öffneten seinerzeit ihre Fraktion dem Fernsehen und den Rotationsregelungen – um sie später wieder zu schließen. Die Piraten hätten von den Versuchen der Grünen lernen können. Die Einordnung in Hierarchien war auch für die Alternativen notwendig. Mit dem Internet konnten die Piraten 30 Jahre später allerdings wieder völlig neue Ansätze der Delegation entwickeln. Diese Innovation muss ihnen zugeschrieben werden. Und von den Neuerungen kann das gesamte Parteiensystem profitieren.

Anti-Parteien-Partei:

Die massive Kritik an Abstimmungs- und Organisationsprozessen in den sogenannten etablierten Parteien übten zu Beginn der 1980er Jahre die Grünen ebenso wie die Piraten in den vergangenen Jahren. Bereits mit ihrem Habitus grenzten sich Grüne und Piraten von den Berufspolitikern ab. Ein vorher prekär beschäftigter Akademiker mit Bart und Wollpulli wirkte auf die Berufspolitiker im Bonner Parlament der frühen 1980er Jahre ebenso unseriös wie ein Parteivertreter, der in einer Fernsehsendung in Berlin ein Honorar in der Höhe seiner monatlichen Sozialleistungen bekam. Doch gerade die Diskrepanz der sozialen Darstellung zeigte damals wie heute den Abstand zwischen manchen Bürgern und einem Großteil der Regierenden auf.

Single-issue:

Die Grünen waren eine Protestpartei, die mit der Umwelt ein gesellschaftliches Thema hatte, das die Partei nicht nur zum Sammelbecken einer gesellschaftlichen Anti-Haltung machte, sondern gleichzeitig in eine Richtung wies. Getragen wurde dieses Thema von der "Stillen Revolution", dem postmateriellen Wandel von einer Produktionsgesellschaft hin zu der Auseinandersetzung um Lebensqualität, Gesundheit, Selbstverwirklichung. Der Wandel, der Anfang der 1970er Jahre begann, prägt die europäischen Gesellschaften bis heute. Die Themen der Piraten sind das Internet und die Internetkultur, doch hier treiben die Piraten mit ihrer Politik eher eine digitale Revolution voran – sie fordern eine Neubewertung politischer Rahmenbedingungen –, als dass sie ihre Politikfelder von der digitalen Revolution ableiten. Im Umgang mit dem die Partei prägenden Thema unterscheiden sich die Grünen von den Piraten.

Nicht rechts, nicht links, sondern vorn:

Eine Verortung als Avantgarde beanspruchten die Grünen für sich in ihrer Gründungszeit ebenso wie die Piraten. Während die Piraten ideologiefrei sein wollen und politische Lösungen aus dem innerparteilichen Diskurs ableiten, setzen die Grünen noch heute auf die Dominanz des Umweltthemas. Von hier aus werden die Positionen der Partei erarbeitet. Vorstöße, die zu starken Regulierungen führen, wie zum Beispiel das Dosenpfand, werden mit diesem Grundverständnis gerechtfertigt. Die Piraten hatten das Grundverständnis, alles gemeinsam entscheiden zu wollen. Doch mit dem Verweis auf die fehlende Beschlusslage der Parteibasis erschienen viele Spitzenpolitiker der Piraten inhaltlich wenig belastbar. Ein politischer Diskurs war nicht möglich.

Protestparteien:

Beide Parteien waren zu ihrer Zeit Protestparteien, die aus der Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien gewählt wurden. In den 1980er Jahren konnten die Grünen Wähler der SPD, Nichtwähler und konservative Wähler mobilisieren. Es schien so, als könnten die Piraten einen ähnlichen Weg gehen. Doch zu dieser Zeit konnte der rasante Aufstieg der AfD die als Protestpartei bei der Bundestagswahl 2013 4,7 Prozent erreichte, noch nicht vorhergesagt werden. Die AfD mobilisierte zusätzliches Potenzial der etablierten Parteien. Der Platz für Protestparteien im Parteiensystem ist jedoch begrenzt.

Europäische Bewegung:

Grüne und Piratenparteien sind im Rahmen einer europäischen Bewegung entstanden. Die erste grüne Partei in Europa gründete sich in England, die erste Piratenpartei in Schweden. Während die Grünen auf eine stabile Vorfeldorganisation in den transnationalen sozialen Bewegungen zurückgreifen konnten, blieben die Piraten auf wenige Themen konzentriert. Urheberrecht im Internet und Netzsperren waren zentrale Themen, die zur breiten Mobilisierung bei der Bundestagswahl nicht ausreichten.

Eine Paradoxie und was bleibt

Nach der Bundestagswahl 2013 stehen Bündnis 90/Die Grünen und die Piraten vor völlig unterschiedlichen Perspektiven. Die Grünen sind eine etablierte Partei im politischen Betrieb mit starkem gesellschaftlich-kulturellem Einfluss. Erstmals stehen die Grünen auf Bundesebene vor drei Koalitionsoptionen: Neben Rot-Grün, sollte es zu einer Mehrheit irgendwann wieder reichen, ist Rot-Rot-Grün eine Option – und rechnerisch möglich. Sondierungsgespräche mit der Union fanden bereits statt. Die reale Machtoption ist für die Umweltpartei die Chance, politischen Einfluss zu nehmen. Zudem haben die Spitzenpolitiker der Grünen nach der Wahl treffend formuliert, dass mit dem Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag das Thema Bürgerrechte von den Grünen besetzt werden könnte.

So haben die Grünen zwar ihr zweistelliges Wahlziel nicht erreicht, doch die machtpolitischen Aussichten und Möglichkeiten sind nach der Bundestagswahl 2013 gar nicht so schlecht. Nach wie vor sind sie die Partei eines alternativen Lebensgefühls, das eine Abwechslung zu den alten Volksparteien bietet. Und während der schwarz-gelben Koalition, die von Beobachtern und sogar vom eigenen Lager bemerkenswert schlecht beurteilt wurde, war es einfach, die Grünen gut zu finden. Nur wählen wollte man sie in schwierigen Zeiten dann doch nicht. Die Kanzlerin hatte die Krise einfach zu gut gemanaget.

Die Grünen blicken auf eine 30-jährige Parlamentsgeschichte auf Bundesebene und eine 40-jährige Parteigeschichte zurück, wenn man ihre Vorläufer mitberücksichtigt. Die gesellschaftliche Verankerung der Grünen ist ungleich stärker als die Verwurzelung der Piraten im digitalen Milieu und unter den Protestwählern. Der Mensch ist von der digitalen Revolution zwar ebenso betroffen wie von der postmateriellen Revolution, zu der er sich freiwillig bekannte. Doch sind die propagierten Grenzen des Wachstums auf gesellschaftliche Resonanz gestoßen, die in den Neuen Sozialen Bewegungen mündeten. Die digitale Revolution erreicht jeden Einzelnen schnell und langsam zugleich im Alltag; sie breitet sich gleichzeitig so schleichend aus, dass nur Einzelne auf die Vorteile der Digitalisierung verzichten möchten. Doch trotz und mit dem Internet, Bürger und "Digitale Citoyens" vernetzen sich zwar ad hoc um einzelne Ereignisse und Themen auch über Ländergrenzen hinweg. Doch sie vernetzen sich nicht solidarisch, so wie es für Parteien notwendig ist. Sie stellen derzeit keine politische Kraft dar. Dies ist die wesentliche Paradoxie, die sich aus dem Vergleich von Bündnis 90/Die Grünen und den Piraten ergibt.

Doch die Piraten verschwinden nicht einfach von der politischen Bühne. Sie haben als außerparlamentarische Opposition Politik betrieben und verändert. Entsprechend der Definition und der Messung des Erfolges im Parteiensystem waren auch die Piraten erfolgreich. Oskar Niedermayer unterscheidet zwischen Wahlteilnahme, Wettbewerbsbeeinflussung, parlamentarischer Repräsentation, koalitionsstrategischer Inklusion, Regierungsbeteiligung und Regierungsübernahme. Auch nach der Bundestagswahl 2013 haben die Piraten drei von diesen sechs Erfolgskriterien erfüllt, wenn man die Länder für die parlamentarische Repräsentation einbezieht. Die Piraten haben einmal mehr Flexibilität und Stabilität des deutschen Parteiensystems unter Beweis gestellt. In einer Zeit, in der sich viele Bürger frustriert von der parlamentarischen Politik abgewendet haben und als "Wutbürger" demonstrieren, haben die Piraten den etablierten Parteien Problemlösungsstrategien vorgetragen. Sie haben Politik auch für zahlreiche Nichtwähler wieder interessant gemacht. Mit ihrem technischen Know-how und ihrer Innovationsfreudigkeit haben die Piraten den Politikern und Parteien, die sich als politische Klasse und Elite im Berliner Politikbetrieb bewegen, aufgezeigt, wie beziehungsweise dass sie das Internet für eine bürgernahe Politik verwenden können.

Der Politikwissenschaftler Christoph Bieber geht sogar davon aus, dass die Piraten bei sinkenden Mitgliedschaften in den Alt-Parteien Vorreiter eines neuen Typus von Netzwerkparteien seien können – mit flachem Organisationsaufbau und themengebundenen Arbeitseinheiten. Diese neuen Möglichkeiten des Organisationsaufbaus mit dem Internet haben die Piraten breit thematisiert und gesellschaftstauglich gemacht. Nicht nur mit der Software Liquid Democracy haben sie gezeigt, dass traditionelle Parteiorganisationen und Entscheidungsprozesse neu gedacht und weiterentwickelt werden können – mit den Parteimitgliedern in einer lernenden Organisation. Dies ist ein Ansatz, den alle Parteien aufgreifen können, um die Verankerung von Politik zwischen Bürgern und Parteien und auch innerhalb der Parteien zu stärken und den politischen Diskurs bei aller Komplexität nahbar zu machen. Dies ist ein zentraler Wert, der von den Piraten bleibt. Die Grünen bleiben sowieso.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer. Politische Stimmung: Wahlabsicht Bundestagswahl, 15.4.2011, Externer Link: http://www.forschungsgruppe.de/Umfragen/Politbarometer/Langzeitentwicklung_-_Themen_im_Ueberblick/Politik_I/#PolStimm (30.9.2013).

  2. Vgl. Manfred Güllner, Die Grünen. Höhenflug oder Absturz?, Freiburg/Br. 2012, S. 167–173.

  3. Vgl. die Ausführungen zur Formulierung "Grün schlägt Rot": Andrej S. Markovits/Joseph Klaver, Dreißig Jahre im Bundestag. Der Einfluss der Grünen auf die politische Kultur und das öffentliche Leben der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2013, S. 71–78.

  4. Vgl. Alexander Hensel/Stephan Klecha/Franz Walter, Meuterei auf der Deutschland. Ziele und Chancen der Piratenpartei, Berlin 2012, S. 7–11.

  5. Vgl. A. Markovits/J. Klaver (Anm. 3), S. 78.

  6. Vgl. Matthias Geis/Bernd Ulrich, Wer hat Angst vorm grünen Mann?, in: Die Zeit, Nr. 25 vom 16.6.2011.

  7. Vgl. Martin Warnke, Theorien des Internet. Zur Einführung, Hamburg 2011, S. 119–141.

  8. Vgl. A. Hensel et al. (Anm. 4), S. 19ff.

  9. Vgl. ebd.

  10. Vgl. Forschungsgruppe Wahlen (Anm. 1).

  11. Vgl. Oskar Niedermayer, Soziale Zusammensetzung der Mitgliedschaft von Bündnis 90/Die Grünen, 28.8.2013, Soziale Zusammensetzung der Mitgliedschaft der GRÜNEN (30.9.2013); M. Güllner (Anm. 2), S. 122–133.

  12. Vgl. M. Güllner (Anm. 2), S. 105–133.

  13. Vgl. Wählerwanderung. Wer Union wählte, 22.9.2013, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/politik/waehlerwanderung-und-statistiken-woher-die-union-millionen-waehler-bekam-1.1777776 (30.9.2013).

  14. Vgl. Wählerwanderung bei den Grünen bei der Bundestagswahl nach Bundeswahlleiter/Infratest dimap, Externer Link: http://de.statista.com/statistik/daten/studie/37835/umfrage/waehlerwanderung-bei-den-gruenen-bei-der-bundestagswahl/ (30.9.2013).

  15. Vgl. A. Hensel et al. (Anm. 4), S. 43f.

  16. Vgl. ebd., S. 44.

  17. Vgl. Wählerwanderung (Anm. 13).

  18. Vgl. Alex Rühle, Kleines Fenster zur großen Welt, in: Süddeutsche Zeitung vom 28./29.9.2013.

  19. Vgl. Oskar Niedermayer, Die netzpolitischen Reaktionen der anderen Parteien auf das Erscheinen der Piratenpartei, in: ders. (Hrsg.), Die Piratenpartei, Wiesbaden 2013 (elektronische Version).

  20. Vgl. Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles Among Western Publics, Princeton 1977.

  21. Vgl. Silke Mende, "Nicht rechts, nicht links, sondern vorn". Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011; Stefanie Haas/Richard Hilmer, Backbord oder Steuerbord: Wo stehen die Piraten politisch?, in: O. Niedermayer (Anm. 19).

  22. Vgl. Felix Neumann, Plattformneutralität. Zur Programmatik der Piratenpartei, in: O. Niedermayer (Anm. 19).

  23. Vgl. Caja Thimm, Digitale Citoyens. Politische Partizipation in Zeiten von Social Media, Bonn 2012.

  24. Vgl. Lenz Jacobsen, Was von den Piraten bleibt, 24.9.2013, Externer Link: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2013-09/Piraten-Abschied-Thesen/komplettansicht (3.10.2013).

  25. Vgl. Oskar Niedermayer, Erfolgsbedingungen neuer Parteien im Parteiensystem, in: ders. (Anm. 19).

  26. Vgl. Christoph Bieber, Politik digital. Online zum Wähler, Salzhemmendorf 2012 (elektronische Version).

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Saskia Richter für bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

Dr. disc. pol., geb. 1978; Politikwissenschaftlerin; Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Sozialwissenschaften, Stiftung Universität Hildesheim, Marienburger Platz 22, 31141 Hildesheim. E-Mail Link: saskia.richter@uni-hildesheim.de