Die 17. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages ist durch bleibende Zäsuren gekennzeichnet: inhaltlich durch Euro-Krise, Aussetzung der Wehrpflicht und Energiewende; formal durch ein Politikmanagement, bei dem Risikoentscheidungen zum Regelfall werden und sich sowohl die Zeitdimensionen des Entscheidens als auch die Partizipationsstrukturen im parlamentarischen System dadurch grundlegend problematisieren. Im Folgenden werden die vier Jahre der christlich-liberalen Bundesregierung bilanziert und die Politikergebnisse anhand von Erkenntnissen der Regierungs- und Koalitionsforschung eingeordnet.
Regierungsbildung und Koalitionsvereinbarung
Im Wahlkampf 2009 machten CDU/CSU und FDP – wie zur vorhergehenden Wahl – ihre Präferenzen für eine Zusammenarbeit deutlich, allerdings gab es einen bedeutenden Unterschied:
Schwarz-Gelb kam 2009 auf eine deutliche Mehrheit, vor allem aufgrund des historisch guten Wahlergebnisses der FDP. Entsprechend selbstbewusst traten die Liberalen unter Führung von Guido Westerwelle in die Koalitionsverhandlungen ein. Ihre zentrale Forderung waren Steuersenkungen ("Mehr Netto vom Brutto") als Bestandteil einer großen Steuerreform. Bei der CDU war der Eifer nach dem pointierten Reformkurs des Leipziger Parteitags 2003, welcher für das schwache Ergebnis 2005 verantwortlich gemacht wurde, erlahmt. "Die aufgrund ihres Wahlergebnisses vor Kraft strotzende FDP setzte sich für eine spürbare Regierungszäsur ein, wohingegen in der Union der Wunsch nach Verlässlichkeit und Kontinuität dominiert."
Gesetzgebungstätigkeit und Politikergebnisse
Zunächst wird ein deskriptiver Blick auf das Regierungshandeln anhand der Gesetzgebungstätigkeit geworfen. Die Zahl von 585 von der schwarz-gelben Bundesregierung oder unter Beteiligung der Regierungsfraktionen eingebrachten Gesetzesvorhaben liegt niedriger als in der Legislaturperiode zuvor (16. Wahlperiode: 650 Initiativen). Allerdings bedingte die von 2005 bis 2009 amtierende Große Koalition als Bündnis der beiden ressourcenstarken Großparteien eine höhere Gesetzgebungsaktivität als zuvor. Gleichzeitig war die FDP nach langen Jahren auf den Oppositionsbänken 2009 erstmals wieder in einer Bundesregierung vertreten.
Die Statistik verdeutlicht aus Parlamentarismus- und Regierungsforschung bekannte Zusammenhänge: So kommen Gesetzesentwürfe in der Mehrheit von der Regierung und nicht aus dem Parlament.
Die Politikergebnisse der schwarz-gelben Bundesregierung lassen sich anhand von drei Punkten strukturieren:
Programmatische Neuausrichtung der CDU unter Kanzlerin Merkel
Die Nähe von Union und FDP auf der sozioökonomischen Konfliktlinie im deutschen Parteiensystem wird oft als bürgerliches Lager übersetzt – und als Automatismus für schwarz-gelbe Koalitionen bei passenden Mehrheitsverhältnissen verstanden. Es bestehen stabile programmatische Schnittmengen, wie die Stabilisierung oder Senkung von Staats-, Steuer- und Sozialleistungsquoten, die Liberalisierung von Güter- und Arbeitsmärkten oder die Förderung der privaten Absicherung von Lebensrisiken.
Die Zusammenarbeit von Union und SPD in der Großen Koalition brachte eine "Ansteckung von Links" mit sich.
Zudem orientierte sich das Handeln der unionsgeführten Bundesregierung auf der gesellschaftspolitischen Konfliktlinie verstärkt an progressiv-libertären Positionen: In Diskrepanz zu einem konservativen Familienbild stellte sich diese hinter den Ausbau des Angebots an Kindertagesstätten, erleichterte die Aufteilung der elterlichen Sorge bei unverheirateten Paaren und setzte die (vom Bundesverfassungsgericht angeordnete) steuerliche Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften um.
Profilierungsbestrebungen von FDP und CSU
Generell suchen kleine Parteien als Juniorpartner in einer Koalition Aufmerksamkeit, um nicht gegenüber dem großen Partner unterzugehen und Erfolge für sich verbuchen zu können. Dabei wird häufig übersehen, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung mit FDP und CSU gleich zwei kleine Parteien umfasst. Gerade in der vergangenen Legislaturperiode war das von Bedeutung, da Reibereien zwischen diesen beiden Partnern Ausgangspunkt mehrerer Konflikte waren.
Die Niederlage der FDP 2013 hing stark an der versprochenen, aber nicht umgesetzten Steuerreform, ähnlich dürftig ist die Bilanz in der Gesundheitspolitik: Trotz der Besetzung des Gesundheitsministeriums und Reformplänen begnügte sich die FDP mit der Beibehaltung des Gesundheitsfonds (als großkoalitionärer Kompromiss). Dagegen war es der Partei in anderen Bereichen gelungen, den Politikergebnissen ihren Stempel aufzudrücken: Die trotz heftigen Gegenwindes verweigerten Staatshilfen für Opel und Schlecker entsprachen auf ganzer Linie marktliberaler Programmatik. Und bei der überraschenden Neuwahl des Bundespräsidenten 2012 setzte sich die FDP mit ihrer Präferenz für den bei der letzten Wahl als Kandidat von SPD und Grünen unterlegenen, in der Bevölkerung aber populären Joachim Gauck gegen die Union durch. In der Außenpolitik war der Einfluss des Ministers Guido Westerwelle erkennbar, der sich vor allem in der Zurückhaltung bei militärischen Interventionen niederschlug. Lag man im Falle des unübersichtlichen Bürgerkriegs in Syrien auf einer Linie mit einer Mehrheit der Staatengemeinschaft, führten die Absage an ein Eingreifen in Libyen und die Enthaltung im UN-Sicherheitsrat zu einer seltenen (und von Beobachtern als kritisch für Ansehen und Einfluss eingeschätzten) Koalition aus Deutschland, China und Russland gegenüber den Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien.
Wie die Liberalen pochte auch die CSU regelmäßig auf ihre Unabhängigkeit: Der bayerische Ministerpräsident und Parteivorsitzende Horst Seehofer formulierte eigenständige Positionen zur Gesundheitsreform, zur Steuerreform und zur Rente mit 67.
Problemdruck und externe Anstöße
Überschattet wurde die Regierungszeit von der Euro-Krise, die als kontinuierlicher Problemdruck auf der Koalition lastete. Kanzlerin Merkel schwankte bei den Rettungsmaßnahmen für südeuropäische Länder und verfolgte eine "inkrementelle politische Entscheidungsstrategie".
Weniger positiv wird der Umgang mit der Reaktorkatastrophe in Fukushima 2011 bewertet. Wie im Koalitionsvertrag angekündigt, hatte Schwarz-Gelb zunächst die Restlaufzeiten der deutschen Atomkraftwerke verlängert. Nach der Nuklearkatastrophe folgte die radikale Kehrtwende – die Reaktoren gehen jetzt noch früher vom Netz als von Rot-Grün geplant. Das Hin und Her rief Unverständnis hervor, auch weil eine überzeugende Begründung fehlte.
Wie schon zuvor gingen einige Vorhaben der Regierung aus CDU/CSU und FDP auf das Bundesverfassungsgericht zurück. Nicht nur die Opposition nutzt das Gericht als Instrument,
Regierungsstil der Kanzlerin
Das politische Entscheiden ist in der zurückliegenden Legislaturperiode in eine neue formative Phase getreten. Das hängt mit einer Modernisierung von Instrumenten, Techniken und Stilen des Entscheidens in digitalen Demokratien zusammen. Sichtbarster Ausdruck dieses Phänomens war nicht nur die schnelle Parlamentarisierung der Piratenpartei auf Länderebene. Auch die sogenannte Späh-Affäre, das systematische Ausspionieren privater Daten, gehört in diesen Bereich veränderter politischer Kommunikation als Hintergrund des Entscheidens. Online-Kontexte verschieben die Zeitdimensionen des Entscheidens. Tempo und Gleichzeitigkeiten dramatisieren sich wechselseitig.
Die Antwort der Kanzlerin auf dieses Bündel von Entscheidungen bestand in einer Einzelfall-Entscheidungspolitik, die mit einem erklärungsarmen Pragmatismus daherkommt. Angela Merkels Regierungsstil erscheint als Prototyp für das Regieren unter Bedingungen globalisierter Governance. Ruhige Stärke und forcierte Passivität charakterisieren die Rhythmen ihres Politikmanagements auch in der zurückliegenden Legislaturperiode. Markant setzte sie ihren präsidialen, überparteilich wirkenden Stil bei den notwendigen Mehrheitsfindungen infolge der Euro-Krise durch. Außer der Linken konnten All-Parteien-Koalitionen die milliardenschweren Bürgschaften politisch breit legitimiert absichern. Der Preis, den die CDU als Regierungspartei dafür zahlt, ist hoch. Denn der in der Bevölkerung goutierte Pragmatismus ist nicht nur leidenschaftslos, sondern normativ extrem wendig und steht politisch häufig in der Nähe von Meinungsumfragen.
Dieses Politikmanagement befriedigt in vielerlei Hinsicht den Eindruck, dass die Bürger beim problemlösenden Regieren direkt mitgenommen werden. Faktisch können so jedoch immer nur Wirklichkeiten durch die Kanzlerin beschrieben werden, nie Möglichkeiten und Gestaltungsziele. Deliberation und Dezision prägen in wechselseitiger Abhängigkeit unsere Demokratie. Ein Regierungsstil, der mit Geschwindigkeitsgrenzen bei den Entscheidungen kämpft und weitgehend auf argumentative Gestaltung verzichtet, verändert die Qualität der Demokratie.
Doch wie die Bundestagswahl 2013 zeigte, honorieren die meisten Wähler genau diesen Politikstil, der auf immerwährendes Kümmern setzt. Die Kanzlerin scheint mit ihrem Stil des Entscheidens eine adäquate Antwort auf die Herausforderungen der Risikokompetenz gefunden zu haben: Integrität, Glaubwürdigkeit, moralische Autorität für das politische Lotsen in Krisenzeiten. Politik erschien als Ort der Sensibilitätsschulung für das Eintreten unerwarteter Ereignisse.
Die Verschiebung der Rahmenbedingungen wirkte sich auch auf die Rolle des Parlaments im politischen Prozess aus, das zugleich von zwei Seiten Druck erfuhr: Zunächst schwächte erstens die zunehmend exekutive Entscheidungsmacht die Abgeordneten. Über die ohnehin dominante und taktgebende Rolle der Regierungschefin hinaus wurde bei der Bilanzierung der Politikergebnisse deutlich, dass Krisenentscheidungen häufig auf intergouvernementalem Vier-Augen-Politikmanagement im Umfeld von Gipfeldiplomatie basieren oder eine Exekution von Entscheidungen der Zentralbanken beziehungsweise des Verfassungsgerichts bilden. Das entwertet systematisch die klassischen majoritären Institutionen wie den Bundestag.
Gleichzeitig wurde zweitens aus Richtung der Bürger sehr grundsätzlich die Rolle von Delegation und Repräsentation zur Entscheidungsfindung infrage gestellt: Gefordert wurde ein Mehr an direkter Mitentscheidung, wie das Beispiel "Stuttgart 21" exemplarisch zeigt. Ein Eingehen auf diese Forderung ist alles andere als trivial, da eine neue Beteiligungsarchitektur neue institutionelle Partizipationsformate voraussetzt und zugleich Rücksicht auf die Balance der austarierten parlamentarisch-repräsentativen Demokratie nehmen muss.
Fazit
Alle von der Bundesregierung umgesetzten und als historisch zu bezeichnenden Einschnitte – Euro-Bürgschaften, Aussetzung der Wehrpflicht und Energiewende – fanden sich nicht in der Koalitionsvereinbarung. Wer unter dem Modus neuer Geschwindigkeitsgrenzen des Regierens agiert, benötigt mehr denn je Risikokompetenz, um auf politische Überraschungen angemessen zu reagieren. Klassische Instrumente des Regierens und des Koalitionsmanagements verlieren unter diesen Prämissen an Substanz. Doch wer sich für das Primat der Politik einsetzt, muss Zeitkorridore im Blick haben. Zeit ist eine Chiffre der Freiheit: Nur wer Zeit hat in der Politik, um zu entscheiden, verfügt über Optionen. Die 17. Legislaturperiode lässt die Abgeordneten atemlos zurück. Noch mehr Termine, komplexere Probleme und extrem verdichtete Kommunikation drängen geradezu nach einer Reform des Parlamentarismus, der das Primat der Politik sichert. Eine Entschleunigung sichert die Souveränität für Entscheidungen.
Unterhalb der großen Kehrtwenden deutet die Regierungsbilanz Verschiebungen im Parteiensystem an, vor allem bei der CDU. Zum Teil ergaben sich diese als geräuschlose Umsetzung von Bundesverfassungsgerichtsurteilen, zum Teil als strategisch-intentionale Neujustierung in bestimmten Politikfeldern. Das hat in jedem Fall Konsequenzen für den Parteienwettbewerb: Neue Koalitionsoptionen können sich ergeben, zugleich entsteht Raum für neue parteipolitische Akteure.
Die Tragfähigkeit der inhaltlichen Entscheidungen lässt sich letztlich nur längerfristig beantworten, aber die Bewertung durch den Wähler offenbart große Zufriedenheit mit dem Unions-Anteil am Regierungshandeln. Die stabile Situation Deutschlands in einem krisengeplagten Europa und die Zufriedenheit der Wähler mit der ökonomischen Lage (gemessen an Arbeitslosenzahlen, Wirtschaftswachstum und Haushaltslage) machten den durchwachsenen Start und die zahlreichen innerkoalitionären Konflikte vergessen. Negative Bewertungen landeten diesmal gebündelt bei den Liberalen, denen es nicht gelang, Erfolge der Koalition für sich zu verbuchen und die dadurch erstmals den Einzug in den Bundestag verpassten.