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Regierungsbilanz: Politikwechsel und Krisenentscheidungen | Bundestagswahl 2013 | bpb.de

Bundestagswahl 2013 Editorial Regierungsbilanz: Politikwechsel und Krisenentscheidungen Angela Merkels Sieg in der Mitte Strategie zählt Wie Grüne und Piraten den Zeitgeist verloren Bundestagswahl im Netz Wahlbeteiligung und Nichtwähler "Koalitionspolitik" vor und nach der Bundestagswahl

Regierungsbilanz: Politikwechsel und Krisenentscheidungen

Karl-Rudolf Korte Niko Switek

/ 14 Minuten zu lesen

Die 17. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages ist durch bleibende Zäsuren gekennzeichnet: inhaltlich durch Euro-Krise, Aussetzung der Wehrpflicht und Energiewende; formal durch ein Politikmanagement, bei dem Risikoentscheidungen zum Regelfall werden und sich sowohl die Zeitdimensionen des Entscheidens als auch die Partizipationsstrukturen im parlamentarischen System dadurch grundlegend problematisieren. Im Folgenden werden die vier Jahre der christlich-liberalen Bundesregierung bilanziert und die Politikergebnisse anhand von Erkenntnissen der Regierungs- und Koalitionsforschung eingeordnet.

Regierungsbildung und Koalitionsvereinbarung

Im Wahlkampf 2009 machten CDU/CSU und FDP – wie zur vorhergehenden Wahl – ihre Präferenzen für eine Zusammenarbeit deutlich, allerdings gab es einen bedeutenden Unterschied: 2005 agierte man gemeinsam aus der Opposition gegen eine rot-grüne Bundesregierung, 2009 stellte die CDU die Bundeskanzlerin und ging als Regierungspartei in den Wahlkampf. Während die FDP als kleine Oppositionspartei Profilierung und Zuspitzung suchte, konnte sich die Union nur bis zu einem bestimmten Grad von den Beschlüssen der Großen Koalition distanzieren – gerade vor dem Hintergrund eines erfolgreich wahrgenommenen Managements der Finanzkrise.

Schwarz-Gelb kam 2009 auf eine deutliche Mehrheit, vor allem aufgrund des historisch guten Wahlergebnisses der FDP. Entsprechend selbstbewusst traten die Liberalen unter Führung von Guido Westerwelle in die Koalitionsverhandlungen ein. Ihre zentrale Forderung waren Steuersenkungen ("Mehr Netto vom Brutto") als Bestandteil einer großen Steuerreform. Bei der CDU war der Eifer nach dem pointierten Reformkurs des Leipziger Parteitags 2003, welcher für das schwache Ergebnis 2005 verantwortlich gemacht wurde, erlahmt. "Die aufgrund ihres Wahlergebnisses vor Kraft strotzende FDP setzte sich für eine spürbare Regierungszäsur ein, wohingegen in der Union der Wunsch nach Verlässlichkeit und Kontinuität dominiert." Gleichzeitig sah die CDU im Zuge der aufziehenden Euro-Krise alle Vorhaben unter Finanzierungsvorbehalt. Der Widerspruch zwischen umfassenden Steuersenkungen und einer Reduzierung der Staatsverschuldung blieb ungelöst. Der ausgehandelte Koalitionsvertrag enthielt somit zwei Stolpersteine: Erstens war das Schlüsselprojekt Steuerreform mehr Wunsch der FDP als der CDU und zugleich durch geänderte Rahmenbedingung unterminiert. Zweitens wurde die konkrete Ausgestaltung vieler Punkte in die Legislaturperiode vertagt; zu wichtigen Schlüsselentscheidungen finden sich nur "dilatorische Formelkompromisse". Erschwerend kam hinzu, dass sich die Machtbalance zwischen den Koalitionspartnern durch die Niederlagen der FDP bei den folgenden Landtagswahlen wieder zugunsten der Union korrigierte – was das Konfliktpotenzial weiter erhöhte. Die Ausgangsbedingungen für Regierungshandeln und Gesetzgebung stellten sich somit zunächst eher nachteilig dar.

Gesetzgebungstätigkeit und Politikergebnisse

Zunächst wird ein deskriptiver Blick auf das Regierungshandeln anhand der Gesetzgebungstätigkeit geworfen. Die Zahl von 585 von der schwarz-gelben Bundesregierung oder unter Beteiligung der Regierungsfraktionen eingebrachten Gesetzesvorhaben liegt niedriger als in der Legislaturperiode zuvor (16. Wahlperiode: 650 Initiativen). Allerdings bedingte die von 2005 bis 2009 amtierende Große Koalition als Bündnis der beiden ressourcenstarken Großparteien eine höhere Gesetzgebungsaktivität als zuvor. Gleichzeitig war die FDP nach langen Jahren auf den Oppositionsbänken 2009 erstmals wieder in einer Bundesregierung vertreten.

Die Statistik verdeutlicht aus Parlamentarismus- und Regierungsforschung bekannte Zusammenhänge: So kommen Gesetzesentwürfe in der Mehrheit von der Regierung und nicht aus dem Parlament. Das entspricht dem für parlamentarische Regierungssysteme typischen Dualismus von Regierung und Opposition, indem sich nicht – wie in der klassischen Gewaltenteilungslehre – Exekutive und Parlament, sondern die Handlungseinheit aus Exekutive und Mehrheitsparteien der parlamentarischen Minderheit gegenüberstehen. Bei der Erstellung von Gesetzentwürfen nutzen die Regierungsparteien die Kompetenz der Ministerialbürokratie, und die Akteure aus Exekutive und Parlament stimmen sich schon in der Entwurfsphase ab. Der Gegenüberstellung von Regierungsmehrheit und Opposition entsprechend hatten in der 17. Wahlperiode die Initiativen der Oppositionsfraktionen ohne Beteiligung von CDU/CSU und FDP keinen Erfolg. Schließlich spiegelten sich in der Gesetzgebungstätigkeit die informellen Verfahrensregeln des Koalitionsvertrags wider: Es gab keine wechselnden Mehrheiten und auch die Vorgabe, alle Initiativen gemeinsam einzubringen, wurde befolgt.

Die Politikergebnisse der schwarz-gelben Bundesregierung lassen sich anhand von drei Punkten strukturieren: erstens die programmatische Verschiebung der CDU unter Bundeskanzlerin Angela Merkel im Parteiensystem (Policy-Kontinuität und Parteiendifferenz), zweitens die Bemühung der kleinen Koalitionsparteien FDP und CSU, sich im Bündnis zu profilieren (koalitionsinterne Faktoren), sowie drittens der externe Druck auf die Koalition, der sich durch das Handeln anderer Akteure im politischen System oder unvorhersehbare Ereignisse ergibt.

Programmatische Neuausrichtung der CDU unter Kanzlerin Merkel

Die Nähe von Union und FDP auf der sozioökonomischen Konfliktlinie im deutschen Parteiensystem wird oft als bürgerliches Lager übersetzt – und als Automatismus für schwarz-gelbe Koalitionen bei passenden Mehrheitsverhältnissen verstanden. Es bestehen stabile programmatische Schnittmengen, wie die Stabilisierung oder Senkung von Staats-, Steuer- und Sozialleistungsquoten, die Liberalisierung von Güter- und Arbeitsmärkten oder die Förderung der privaten Absicherung von Lebensrisiken. Aufgrund der globalen Finanz- und der aufziehenden Euro-Krise überlagerten 2009 Fragen der Haushaltskonsolidierung diese Ziele. Wegen der hohen Verschuldung der öffentlichen Haushalte und der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse sowie den unklaren Kosten der Euro-Rettung positionierte sich die CDU skeptisch gegenüber den von der FDP angestrebten Steuererleichterungen. Entsprechend mager fällt die Bilanz in der Steuerpolitik aus: Mit einigen kleineren Veränderungen im Rahmen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes im Januar 2010 (unter anderem Erhöhung der Kinderfreibeträge) und dem Steuervereinfachungsgesetz 2011 blieb die Entlastung weit hinter den im Koalitionsvertrag vereinbarten 24 Milliarden Euro zurück; eine umfassende Reform (unter anderem Stufentarif, Erhöhung des Grundfreibetrags) wurde von den Koalitionären mehrmals verschoben und modifiziert sowie schließlich in Form des Gesetzes zum Abbau der kalten Progression im Vermittlungsverfahren 2012 auf eine homöopathische Dosis abgeschwächt. Das gereichte der Union aber nicht zum Nachteil, da diese die Fortschritte auf dem Weg zu einem ausgeglichenen Haushalt für sich verbuchen konnte.

Die Zusammenarbeit von Union und SPD in der Großen Koalition brachte eine "Ansteckung von Links" mit sich. Was nach einer ungewollten Krankheit klingt, entspringt durchaus strategischem Kalkül, um die christlich-konservative Partei stärker in der Mitte zu positionieren – die Folge war eine erkennbare Linksverschiebung in Fragen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Dazu zählen beispielsweise die innerparteiliche Diskussion über feste Quoten für Unternehmungsführungen (auch wenn sich letztlich die weniger restriktive Flexi-Quote durchsetzte) sowie die Annäherung an einen Mindestlohn über die Lohnuntergrenze. Zwar sorgte schon diese Verschiebung für Irritationen in Parteikreisen, doch war es der flexible und hochgradig pragmatische Umgang mit inhaltlichen Positionen, der zu heftigem Unmut bei der Anhängerschaft führte. Die CDU wirkte in ihrer Regierungstätigkeit "normativ entkernt". Ein Beispiel ist die im Kontext der Bundeswehrreform vorgenommene Aussetzung der Wehrpflicht, deren Erhalt noch im Wahlprogramm wie im Koalitionsvertrag gefordert wurde. Der Fall verweist zugleich auf die auf dem Ressortprinzip fußenden Möglichkeiten politischer Führung einzelner Minister, vorausgesetzt sie erhalten Rückendeckung durch die Regierungschefin. Ein ähnlicher, hier aber geradezu handstreichartiger Kurswechsel, war die Rücknahme der zunächst verlängerten Laufzeiten für Atomkraftwerke.

Zudem orientierte sich das Handeln der unionsgeführten Bundesregierung auf der gesellschaftspolitischen Konfliktlinie verstärkt an progressiv-libertären Positionen: In Diskrepanz zu einem konservativen Familienbild stellte sich diese hinter den Ausbau des Angebots an Kindertagesstätten, erleichterte die Aufteilung der elterlichen Sorge bei unverheirateten Paaren und setzte die (vom Bundesverfassungsgericht angeordnete) steuerliche Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften um.

Profilierungsbestrebungen von FDP und CSU

Generell suchen kleine Parteien als Juniorpartner in einer Koalition Aufmerksamkeit, um nicht gegenüber dem großen Partner unterzugehen und Erfolge für sich verbuchen zu können. Dabei wird häufig übersehen, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung mit FDP und CSU gleich zwei kleine Parteien umfasst. Gerade in der vergangenen Legislaturperiode war das von Bedeutung, da Reibereien zwischen diesen beiden Partnern Ausgangspunkt mehrerer Konflikte waren. Das gründete unter anderem auf einer verschobenen Machtbalance: Hatte man vorher auf Augenhöhe agiert, verfügten die Liberalen nach der Wahl 2009 über doppelt so viele Mandate wie die CSU.

Die Niederlage der FDP 2013 hing stark an der versprochenen, aber nicht umgesetzten Steuerreform, ähnlich dürftig ist die Bilanz in der Gesundheitspolitik: Trotz der Besetzung des Gesundheitsministeriums und Reformplänen begnügte sich die FDP mit der Beibehaltung des Gesundheitsfonds (als großkoalitionärer Kompromiss). Dagegen war es der Partei in anderen Bereichen gelungen, den Politikergebnissen ihren Stempel aufzudrücken: Die trotz heftigen Gegenwindes verweigerten Staatshilfen für Opel und Schlecker entsprachen auf ganzer Linie marktliberaler Programmatik. Und bei der überraschenden Neuwahl des Bundespräsidenten 2012 setzte sich die FDP mit ihrer Präferenz für den bei der letzten Wahl als Kandidat von SPD und Grünen unterlegenen, in der Bevölkerung aber populären Joachim Gauck gegen die Union durch. In der Außenpolitik war der Einfluss des Ministers Guido Westerwelle erkennbar, der sich vor allem in der Zurückhaltung bei militärischen Interventionen niederschlug. Lag man im Falle des unübersichtlichen Bürgerkriegs in Syrien auf einer Linie mit einer Mehrheit der Staatengemeinschaft, führten die Absage an ein Eingreifen in Libyen und die Enthaltung im UN-Sicherheitsrat zu einer seltenen (und von Beobachtern als kritisch für Ansehen und Einfluss eingeschätzten) Koalition aus Deutschland, China und Russland gegenüber den Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wollte die FDP zunächst noch abgeschafft sehen, als Minister setzte Dirk Niebel 2010 eine umfassende und als nötig erachtete Strukturreform durch, unter anderem mit der Vereinigung der drei großen Entwicklungshilfeorganisationen (Deutscher Entwicklungsdienst, Gesellschaft für technische Entwicklung, Internationale Weiterbildung und Entwicklung) zur Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ. Dass es der FDP nicht gelang, Erfolge für sich zu verbuchen, lag unter anderem an innerparteilichem Streit. In der Legislaturperiode gab es mehrere Führungswechsel und Stellenrochaden, was die Partei schwächte und professionelle Kommunikation erschwerte.

Wie die Liberalen pochte auch die CSU regelmäßig auf ihre Unabhängigkeit: Der bayerische Ministerpräsident und Parteivorsitzende Horst Seehofer formulierte eigenständige Positionen zur Gesundheitsreform, zur Steuerreform und zur Rente mit 67. Ein Beispiel für die Profilierung innerhalb der Koalition ist das (aufgrund Kosten und Sinnhaftigkeit) in der Öffentlichkeit skeptisch beäugte, von der FDP abgelehnte und selbst in Teilen der CDU umstrittene Betreuungsgeld, welches Eltern, die keine frühkindliche Betreuung in Anspruch nehmen, zusteht. Die CSU setzte die Maßnahme mit Verweis auf den Koalitionsvertrag gegen alle Widerstände durch. Ein ähnliches Konfliktmuster für die kommende Legislaturperiode zeichnete sich im Wahlkampf bei der Frage nach einer Pkw-Maut ab.

Problemdruck und externe Anstöße

Überschattet wurde die Regierungszeit von der Euro-Krise, die als kontinuierlicher Problemdruck auf der Koalition lastete. Kanzlerin Merkel schwankte bei den Rettungsmaßnahmen für südeuropäische Länder und verfolgte eine "inkrementelle politische Entscheidungsstrategie". Grundlage des Regierungshandelns bildete eine Dualität aus einem Pochen auf deutsche Interessen sowie dem Zusammenhalt der Euro-Zone. Trotz der Kritik an Ad-hoc-Entscheidungen großer Tragweite und fehlendem europäischen Kompass gewann die Regierung für die Schlüsselentscheidungen der Euro-Rettung breite parlamentarische Mehrheiten (die eigene Kanzlermehrheit wurde aufgrund von Abweichlern in den eigenen Reihen dabei mehrmals verfehlt). Das überdeckte Kontroversen in Fragen der europäischen Integration und ergab mit der Überhöhung als "alternativlos" (in Kombination mit der Vernachlässigung des konservativen Klientels) den Nährboden für den Erfolg der Alternative für Deutschland (AfD) als euroskeptische und rechtspopulistische Bewegung. Nichtsdestotrotz verbuchten die Wähler die stabile Stellung Deutschlands in der Krise (beispielsweise niedrige Arbeitslosenzahlen, solides Wirtschaftswachstum) als Erfolg der Kanzlerin – ein entscheidender Faktor für Merkels Popularität.

Weniger positiv wird der Umgang mit der Reaktorkatastrophe in Fukushima 2011 bewertet. Wie im Koalitionsvertrag angekündigt, hatte Schwarz-Gelb zunächst die Restlaufzeiten der deutschen Atomkraftwerke verlängert. Nach der Nuklearkatastrophe folgte die radikale Kehrtwende – die Reaktoren gehen jetzt noch früher vom Netz als von Rot-Grün geplant. Das Hin und Her rief Unverständnis hervor, auch weil eine überzeugende Begründung fehlte. Das Regierungshandeln schien stimmungsgetrieben und unberechenbar. In der Folge mühte sich die Union mit der Gestaltung der Energiewende. Dennoch gilt, dass der mit der Atomenergie verbundene gesellschaftliche Konflikt befriedet ist und zukünftig keine besondere Rolle mehr im Parteienwettbewerb spielen wird.

Wie schon zuvor gingen einige Vorhaben der Regierung aus CDU/CSU und FDP auf das Bundesverfassungsgericht zurück. Nicht nur die Opposition nutzt das Gericht als Instrument, aufgrund der verfassungspolitischen Konsequenzen der verschiedenen Euro-Rettungsvorhaben lagen auch Eilanträge und Klagen anderer Akteure vor. Die Urteile stellten die Regierungspolitik allerdings nicht grundlegend infrage. Handlungsdruck erzeugten vielmehr Entscheidungen zur Revision der Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze sowie zur steuerlichen Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften. Entscheidender Akteur war das Bundesverfassungsgericht bei der Frage der Wahlrechtsreform: Antrieb zum Handeln ergab sich durch eine Fristsetzung, eine nach Ablauf der Frist im Alleingang von CDU/CSU und FDP vorgebrachte Reform kassierte das Gericht, sodass es schließlich noch zu einer konsensualen Lösung gemeinsam mit SPD und Grünen kam.

Regierungsstil der Kanzlerin

Das politische Entscheiden ist in der zurückliegenden Legislaturperiode in eine neue formative Phase getreten. Das hängt mit einer Modernisierung von Instrumenten, Techniken und Stilen des Entscheidens in digitalen Demokratien zusammen. Sichtbarster Ausdruck dieses Phänomens war nicht nur die schnelle Parlamentarisierung der Piratenpartei auf Länderebene. Auch die sogenannte Späh-Affäre, das systematische Ausspionieren privater Daten, gehört in diesen Bereich veränderter politischer Kommunikation als Hintergrund des Entscheidens. Online-Kontexte verschieben die Zeitdimensionen des Entscheidens. Tempo und Gleichzeitigkeiten dramatisieren sich wechselseitig. Wirkungsmächtig auf den Modus des Entscheidens waren auch die veränderten Zeitläufe, die eine enorme Ereignisdichte, wie nach Fukushima oder der Finanz- und Euro-Krise, mit sich brachten und das Risiko zum Regelfall der Politik machten. Für jede Bundesregierung kommen infolge dieser Veränderungen immer mehr Entscheidungen als purer Stresstest daher. Ohne Risikokompetenz droht den Akteuren das politische Aus. Das galt in der 17. Legislaturperiode umso mehr, als die von Merkel geführte Regierung sich intensiver als zuvor mit wachsender Komplexität, zunehmender Unsicherheit, potenziell steigendendem Nicht-Wissen, dynamischen Zeitbeschleunigungen und exponentiellen Risikoerwartungen konfrontiert sah.

Die Antwort der Kanzlerin auf dieses Bündel von Entscheidungen bestand in einer Einzelfall-Entscheidungspolitik, die mit einem erklärungsarmen Pragmatismus daherkommt. Angela Merkels Regierungsstil erscheint als Prototyp für das Regieren unter Bedingungen globalisierter Governance. Ruhige Stärke und forcierte Passivität charakterisieren die Rhythmen ihres Politikmanagements auch in der zurückliegenden Legislaturperiode. Markant setzte sie ihren präsidialen, überparteilich wirkenden Stil bei den notwendigen Mehrheitsfindungen infolge der Euro-Krise durch. Außer der Linken konnten All-Parteien-Koalitionen die milliardenschweren Bürgschaften politisch breit legitimiert absichern. Der Preis, den die CDU als Regierungspartei dafür zahlt, ist hoch. Denn der in der Bevölkerung goutierte Pragmatismus ist nicht nur leidenschaftslos, sondern normativ extrem wendig und steht politisch häufig in der Nähe von Meinungsumfragen.

Dieses Politikmanagement befriedigt in vielerlei Hinsicht den Eindruck, dass die Bürger beim problemlösenden Regieren direkt mitgenommen werden. Faktisch können so jedoch immer nur Wirklichkeiten durch die Kanzlerin beschrieben werden, nie Möglichkeiten und Gestaltungsziele. Deliberation und Dezision prägen in wechselseitiger Abhängigkeit unsere Demokratie. Ein Regierungsstil, der mit Geschwindigkeitsgrenzen bei den Entscheidungen kämpft und weitgehend auf argumentative Gestaltung verzichtet, verändert die Qualität der Demokratie.

Doch wie die Bundestagswahl 2013 zeigte, honorieren die meisten Wähler genau diesen Politikstil, der auf immerwährendes Kümmern setzt. Die Kanzlerin scheint mit ihrem Stil des Entscheidens eine adäquate Antwort auf die Herausforderungen der Risikokompetenz gefunden zu haben: Integrität, Glaubwürdigkeit, moralische Autorität für das politische Lotsen in Krisenzeiten. Politik erschien als Ort der Sensibilitätsschulung für das Eintreten unerwarteter Ereignisse.

Die Verschiebung der Rahmenbedingungen wirkte sich auch auf die Rolle des Parlaments im politischen Prozess aus, das zugleich von zwei Seiten Druck erfuhr: Zunächst schwächte erstens die zunehmend exekutive Entscheidungsmacht die Abgeordneten. Über die ohnehin dominante und taktgebende Rolle der Regierungschefin hinaus wurde bei der Bilanzierung der Politikergebnisse deutlich, dass Krisenentscheidungen häufig auf intergouvernementalem Vier-Augen-Politikmanagement im Umfeld von Gipfeldiplomatie basieren oder eine Exekution von Entscheidungen der Zentralbanken beziehungsweise des Verfassungsgerichts bilden. Das entwertet systematisch die klassischen majoritären Institutionen wie den Bundestag.

Gleichzeitig wurde zweitens aus Richtung der Bürger sehr grundsätzlich die Rolle von Delegation und Repräsentation zur Entscheidungsfindung infrage gestellt: Gefordert wurde ein Mehr an direkter Mitentscheidung, wie das Beispiel "Stuttgart 21" exemplarisch zeigt. Ein Eingehen auf diese Forderung ist alles andere als trivial, da eine neue Beteiligungsarchitektur neue institutionelle Partizipationsformate voraussetzt und zugleich Rücksicht auf die Balance der austarierten parlamentarisch-repräsentativen Demokratie nehmen muss.

Fazit

Alle von der Bundesregierung umgesetzten und als historisch zu bezeichnenden Einschnitte – Euro-Bürgschaften, Aussetzung der Wehrpflicht und Energiewende – fanden sich nicht in der Koalitionsvereinbarung. Wer unter dem Modus neuer Geschwindigkeitsgrenzen des Regierens agiert, benötigt mehr denn je Risikokompetenz, um auf politische Überraschungen angemessen zu reagieren. Klassische Instrumente des Regierens und des Koalitionsmanagements verlieren unter diesen Prämissen an Substanz. Doch wer sich für das Primat der Politik einsetzt, muss Zeitkorridore im Blick haben. Zeit ist eine Chiffre der Freiheit: Nur wer Zeit hat in der Politik, um zu entscheiden, verfügt über Optionen. Die 17. Legislaturperiode lässt die Abgeordneten atemlos zurück. Noch mehr Termine, komplexere Probleme und extrem verdichtete Kommunikation drängen geradezu nach einer Reform des Parlamentarismus, der das Primat der Politik sichert. Eine Entschleunigung sichert die Souveränität für Entscheidungen.

Unterhalb der großen Kehrtwenden deutet die Regierungsbilanz Verschiebungen im Parteiensystem an, vor allem bei der CDU. Zum Teil ergaben sich diese als geräuschlose Umsetzung von Bundesverfassungsgerichtsurteilen, zum Teil als strategisch-intentionale Neujustierung in bestimmten Politikfeldern. Das hat in jedem Fall Konsequenzen für den Parteienwettbewerb: Neue Koalitionsoptionen können sich ergeben, zugleich entsteht Raum für neue parteipolitische Akteure.

Die Tragfähigkeit der inhaltlichen Entscheidungen lässt sich letztlich nur längerfristig beantworten, aber die Bewertung durch den Wähler offenbart große Zufriedenheit mit dem Unions-Anteil am Regierungshandeln. Die stabile Situation Deutschlands in einem krisengeplagten Europa und die Zufriedenheit der Wähler mit der ökonomischen Lage (gemessen an Arbeitslosenzahlen, Wirtschaftswachstum und Haushaltslage) machten den durchwachsenen Start und die zahlreichen innerkoalitionären Konflikte vergessen. Negative Bewertungen landeten diesmal gebündelt bei den Liberalen, denen es nicht gelang, Erfolge der Koalition für sich zu verbuchen und die dadurch erstmals den Einzug in den Bundestag verpassten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. grundsätzlich: Karl-Rudolf Korte (Hrsg.), Die Bundestagswahl 2009. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung, Wiesbaden 2010.

  2. Vgl. Manuel Becker, Koalitionen als politisches "Projekt"? Die rot-grüne und die schwarz-gelbe Bundesregierung, in: Frank Decker/Eckhard Jesse (Hrsg.), Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013, Baden-Baden 2013, S. 139–160.

  3. Ebd., S. 152.

  4. Vgl. Timo Grunden, Ein schwarz-gelbes Projekt? Programm und Handlungsspielräume der christlich-liberalen Koalition, in: K.-R. Korte (Anm. 1), S. 351f.

  5. Vgl. Thomas Saalfeld, Regierungsbildung 2009: Merkel II und ein höchst unvollständiger Koalitionsvertrag, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 41 (2010) 1, S. 181–206.

  6. Vgl. Karl-Rudolf Korte/Manuel Fröhlich, Politik und Regieren in Deutschland, Paderborn u.a. 20093, S. 41ff.

  7. Vgl. Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 20118, S. 197ff.

  8. Vgl. Reimut Zohlnhöfer/Christoph Egle, Zwischen Reform und Blockade – die Bilanz der Großen Koalition 2005–2009, in: dies. (Hrsg.), Die zweite große Koalition. Eine Bilanz der Regierung Merkel 2005–2009, Wiesbaden 2010, S. 578–596.

  9. Vgl. T. Grunden (Anm. 4), S. 349.

  10. Vgl. ebd.

  11. Vgl. M. Becker (Anm. 2), S. 150.

  12. Vgl. Karl-Rudolf Korte, Die Bundestagswahl 2013 als historischer Einschnitt im deutschen Parteienwettbewerb, 23.9.2013, S. 4, Externer Link: http://www.regierungsforschung.de/dx/public/article.html?id=244 (25.9.2013).

  13. Vgl. Roland Sturm, Eine Renaissance der Kanzlerdemokratie? Die Zwischenbilanz der Politik der christlich-liberalen Koalition, in: Eckhard Jesse/ders., "Superwahljahr" 2011 und die Folgen, Baden-Baden 2012, S. 277.

  14. Vgl. R. Zohlnhöfer/C. Egle (Anm. 8), S. 594.

  15. Vgl. Karl-Rudolf Korte, Politik im vereinten Deutschland 1998–2010, Erfurt 2010, S. 79.

  16. Vgl. Lothar Rühl, Deutschland und der Libyenkrieg, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 4 (2011) 4, S. 561–571.

  17. Vgl. Melanie Amman, Nur noch kurz die Welt retten, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 25.3.2012, S. 36.

  18. Vgl. Jan Treibel, Regierungspartei ohne Kurs und Führung, in: Die Politische Meinung, 57 (2012) 515, S. 14–18.

  19. Vgl. R. Sturm (Anm. 13), S. 263.

  20. Ebd., S. 278.

  21. Vgl. Christian Woltering, Atomausstieg: Das gespaltene Verhältnis der Union zur Kernenergie, in: Daniela Kallinich/Frauke Schulz (Hrsg.), Halbzeitbilanz. Parteien, Politik und Zeitgeist in der schwarz-gelben Koalition 2009–2011, Stuttgart 2011, S. 229–259.

  22. Vgl. R. Zohlnhöfer/C. Egle (Anm. 8), S. 588ff.

  23. Vgl. Gerd Strohmeier, Kein perfektes Wahlsystem, aber ein guter Kompromiss – unter schwierigen Rahmenbedingungen, in: Zeitschrift für Politik, 60 (2013) 3, S. 144–161.

  24. Vgl. Henning Laux/Hartmut Rosa, Zeithorizonte des Regierens, in: Karl-Rudolf Korte/Timo Grunden (Hrsg.), Handbuch Regierungsforschung, Wiesbaden 2013, S. 83–92.

  25. Vgl. Manuela Glaab/Karl-Rudolf Korte, Angewandte Politikforschung – Konzeption und Forschungstradition, in: dies. (Hrsg.), Angewandte Politikforschung, Wiesbaden 2012, S. 11–43.

  26. Vgl. Karl-Rudolf Korte, Risiko als Regelfall. Über Entscheidungszumutungen in der Politik, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 58 (2011) 3, S. 465–477.

  27. Vgl. Michael Zürn, Perspektiven des demokratischen Regierens, in: Politische Vierteljahresschrift, 52 (2011) 4, S. 603–635.

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Dr. rer. pol. habil., Dr. phil., geb. 1958; Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance, Lotharstraße 53, 47057 Duisburg. E-Mail Link: krkorte@uni-duisburg-essen.de

M.A., geb. 1978; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft und der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen (s.o.). E-Mail Link: niko.switek@uni-due.de