Migration wird in Kommunen
Aber auch Beratungsstellen und andere Unterstützungsorganisationen, die mit Menschen ohne Papiere arbeiten, haben lange Zeit die aufenthaltsrechtliche Situation ihrer Klientel verschwiegen, um sich nicht strafrechtlich angreifbar zu machen. Erst mit Änderung der Verwaltungsvorschriften im Jahr 2009 wurde klargestellt, dass Personen, die im Rahmen ihrer beruflichen oder ehrenamtlichen Aufgaben irregulären Migrantinnen und Migranten Hilfestellung bieten, den Tatbestand der Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt nicht erfüllen.
Eine breitere öffentliche Wahrnehmung der Situation von Menschen ohne Papiere wurde vor allem durch kirchliche und zivilgesellschaftliche Initiativen sowie Austausch- und Diskussionsprozesse auf kommunaler Ebene erreicht. Denn gerade "vor Ort" ist die Situation unmittelbar sicht- und erfahrbar. Menschen ohne Papiere stellen eine bedeutende Größe insbesondere in Großstädten dar;
Viele wohnen teilweise unter schwierigen Bedingungen, in überbelegten und veralteten Räumlichkeiten, und sehen sich Vermietern oftmals schutzlos ausgeliefert. Sie setzen sich bei einer möglichen Aufdeckung durch die Ordnungsbehörden der Gefahr einer Abschiebung oder Ausweisung aus und werden in mancher Hinsicht ihrer rechtsvermittelten Konfliktfähigkeit beraubt – was sie in der Folge besonders erpressbar machen kann, insbesondere auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt.
Zugang zu ärztlicher Versorgung erhalten die Betroffenen aufgrund fehlender gesetzlicher und zu teurer privater Krankenversicherungen über ein "Parallelsystem": In vielen Großstädten bieten NRO (wie die Malteser Migranten Medizin und die MediNetze) offene, anonyme und kostenlose Sprechstunden an und vermitteln an Fachärzte weiter. Schwangerschaft und Geburt, chronische und schwere Erkrankungen sowie Unfälle und schwere Verletzungen stellen die Menschen jedoch vor existenzielle Herausforderungen. Neben den finanziellen Kosten befürchten sie insbesondere, dass regelmäßige Arztbesuche oder auch Krankenhausaufenthalte zur Aufdeckung ihrer Irregularität und damit zur Abschiebung führen könnten.
Im Hinblick auf einen möglichen Schulbesuch hat es im Jahr 2011 eine wesentliche Veränderung gegeben. So sind Schulen nun nicht mehr dazu verpflichtet, der Ausländerbehörde zu melden, sollte ein irregulärer Aufenthalt eines Schulkindes bekannt werden. Bundesweit gibt es keine gesetzlich geregelte Schulpflicht für Kinder ohne gültige Aufenthaltspapiere, entprechend unterschiedlich sind (landes-)rechtliche Auslegung sowie kommunale Anmeldeverfahren für Schulbesuche. Datenabgleiche zwischen öffentlichen Stellen im Zuge von Anmeldeverfahren oder Schulausflüge, bei denen der vermeintlich sichere Raum der Schule verlassen wird, werden so zu einem unkalkulierbaren Risiko für die ganze Familie.
Anfang der 2000er Jahre lagen in München und Köln Stadtratsbeschlüsse zum Verfassen von Studien und zur Erarbeitung von Verbesserungsvorschlägen für die Lebensbedingungen illegalisierter Migranten vor. Sie stützten sich meist auf die Initiative von Arbeitsgruppen bestehend aus Vertretern freier Träger und der Kommune. Bedeutung erhielt das Thema irreguläre Migration durch die lokale Vernetzung und Unterstützung auf Seiten der NRO und freien Träger, die sich auch in den lokalen Medien widerspiegelte. In vielen Kommunen kam es durch solche Entwicklungen zu einem Perspektivwechsel, der kommunalpolitisch weniger die ordnungspolitische, sondern die soziale und humanitäre Dimension irregulärer Migration in den Vordergrund rückte. In anderen Städten haben freie Träger oder auch einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Erstellung solcher Studien selbstständig veranlasst. Ziel war es nicht nur, die Lebenssituation der Menschen in den einzelnen Städten zu dokumentieren, sondern auch Hilfebedarfe zu ermitteln und in Zusammenarbeit mit wichtigen Akteuren Lösungen vor allem im Gesundheits- und Bildungsbereich zu finden.
Studien und Untersuchungen zeichneten konkrete Bilder alltäglicher Problemlagen, über die in vielen kommunalen Behörden schon längst "hinter vorgehaltener Hand" diskutiert wurde: wenn in Beratungsstellen Familien vorstellig werden, deren Kinder nicht zur Schule gehen, wenn in Krankenhäusern Notfälle oder schwangere Frauen eingeliefert werden, deren Behandlung nicht finanziell abgesichert ist, wenn in den anonymen und kostenlosen Sprechstunden lokaler Initiativen zur ärztlichen Versorgung die Anzahl der Patientinnen und Patienten die Kapazitätsgrenzen des dort tätigen ehrenamtlichen Personals übersteigt oder wenn irreguläre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich Übergriffen oder sozialer Erpressung durch Arbeitgeber ausgesetzt sehen. Mit der Wahrnehmung solcher Phänomene hat die Lebenssituation irregulärer Migrantinnen und Migranten an Bedeutung und Relevanz für die Stadtpolitik zugenommen. In den politischen Verwaltungen gründeten sich in einigen Kommunen Arbeitsgremien unter Mitwirkung unterschiedlicher lokaler Akteure, die sich die Erarbeitung kommunaler Handlungsstrategien vor dem Hintergrund der individuellen lokalen Strukturen zum Ziel gesetzt haben.
Kommunale Handlungsmöglichkeiten
In der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung wie in der medialen Öffentlichkeit werden Integrationsprozesse zumeist ausschließlich für Menschen mit Migrationshintergrund, verschiedenen Aufenthaltstiteln und ethnischen Zugehörigkeiten diskutiert. Außerhalb dieser traditionell verankerten "Status- und Ethnizitätsfixiertheit" kann Integration aber auch für Menschen ohne Papiere als ein Prozess beschrieben werden, der aufzeigt, "in welchem Ausmaß es ihnen gelingt, an den für die Lebensführung bedeutsamen gesellschaftlichen Bereichen teilzunehmen, also Zugang zu Arbeit, Erziehung und Ausbildung, Wohnung, Gesundheit, Recht, Politik, Massenmedien und Religion zu finden".
Die Möglichkeiten einer kommunalen Politik, die darauf abzielt, die Lebens- und Arbeitsbedingungen ihrer Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund zu gestalten, dürfen dabei jedoch weder über- noch unterschätzt werden. Vielfach sind die Bedingungen durch nationale und globale Entwicklungen geprägt, die sich der Reichweite lokaler Politik entziehen. Die Aufhebung von Übermittlungspflichten oder die Gestaltung von Arbeitsbedingungen informaler Arbeitsverhältnisse sind politische und rechtliche Entwicklungen, die ausschließlich auf nationalstaatlicher oder europäischer Ebene verortet sind. Gleichzeitig kann jedoch auch auf bundespolitischer Ebene ein gewisses Widerstreben konstatiert werden, wichtige humanitäre und menschenrechtliche Problemlagen gesetzlich zu regeln: Die bundesweite Schulpflicht von Kindern ohne Papiere oder eine gesicherte medizinische Versorgung sind beispielsweise Bereiche, in denen Rechtslagen ungeklärt sind und dadurch soziale Problemlagen entstehen, die "vor Ort" enormen Handlungsdruck erzeugen.
Andererseits können über kommunale Arbeitsgruppen und lokale Initiativen Zeichen gesetzt und Lösungen erarbeitet werden, die tiefer in kommunalen politischen Strukturen verankert sind. Damit übernehmen Kommunen hinsichtlich der Ermöglichung von Teilnahmechancen für Menschen ohne Papiere eine wichtige Moderations- und Koordinationsfunktion der landes- und bundespolitisch initiierten Integrationspolitiken. Sie können zwar nicht über die rechtlichen Rahmenbedingungen der Vergabe von Aufenthaltstiteln entscheiden oder allgemeine Rechte bezüglich des Schulbesuchs oder des Arbeitsmarktzugangs einführen. Aber sie haben die Möglichkeit, die so gesetzte Integrationspolitik mit den ihnen zur Verfügung stehenden Maßnahmen auszugestalten. Dafür sind unter anderem konzeptionelle Fähigkeiten im Umgang mit sehr unterschiedlichen Zielgruppen, wie Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Verwaltungsstrukturen, Kooperationspartnerinnen und -partnern aus heterogenen Praxisfeldern sowie den Medien, erforderlich. Verschiedene Akteure müssen für unterschiedliche Kooperationsnetzwerke gewonnen und in ihrer Arbeit unterstützt werden.
Kommunale Handlungspraxis
Die Moderatorenrolle wird von den Städten und lokalen Verwaltungen sehr unterschiedlich interpretiert, lokalspezifische Ermessensspielräume werden unterschiedlich ausgenutzt. Inwieweit irreguläre Migrantinnen und Migranten in kommunalen Programmen mitgedacht werden, hängt von historischen, strukturellen und administrativen Rahmenbedingungen der städtischen Migrationspolitik ab.
Die Stadt München ging als erste Kommune den Weg über eine Studie zur Lebenssituation von Menschen ohne Papiere.
Eine Vorreiterrolle nahm die Stadt auch im Bildungsbereich ein, als sie die Schulleitungen über die Schulpflicht von Kindern ohne Aufenthaltsstatus informierte und darauf hinwies, dass keine Verpflichtung bestehe, Nachweise der Aufenthaltsberechtigung zu verlangen.
Auch in Köln waren schon vor der Erarbeitung konkreter Handlungsmöglichkeiten
Aufgrund der chronisch klammen Kassen der Stadt Köln scheint es nicht überraschend, dass der finanzielle Beitrag der Stadt geringer ausfällt als in München. Sie gab nur punktuell und zeitlich befristet eine Summe von rund 40.000 Euro in den Jahren 2011 bis 2013 zur Unterstützung des Beratungsnetzwerks und zwei weitere Male 20.000 Euro für den Fonds zur Unterstützung medizinischer Leistungen aus. Angesichts der historisch gewachsenen und verhältnismäßig gut aufgestellten medizinischen und sozial beratenden Anlaufstellen in Köln lag aus Sicht der Kommune der Handlungsbedarf bei der institutionellen Anerkennung der Arbeit des "Runden Tisches" sowie der lokalen Beratungsstellen.
Im Bereich der Bildung gab es zunächst keinen weiteren Handlungsbedarf, nachdem das Schulministerium Nordrhein-Westfalens durch einen Erlass 2008 darauf hinwies, dass es nicht notwendig sei, bei der Aufnahme von Schülern Meldebescheinigungen zu verlangen; auch besäßen Schulleiter bei Kenntnisnahme eines illegalen Aufenthalts keine Meldepflicht. Es wurde veranlasst, dass ein städtisches Schulregister, das zur Sicherstellung der Schulpflicht angelegt wurde, nicht mit dem Melderegister abgeglichen wird.
Das Diakonische Werk Hamburg gab in Kooperation mit der Nordelbischen Kirche sowie der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di 2008 in Hamburg die aktuellste größere Städtestudie zur Lebenssituation von Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere in Auftrag.
Im Unterschied zu München ist dieses Modell restriktiver, da der medizinischen Leistung nicht nur eine Koordinationsschleife vorgeschaltet ist, sondern der Notfallfonds auch nicht grundsätzlich für alle "scheinbar" nicht-versicherten Migrantinnen und Migranten eintritt. Aufenthaltsrechtliche Beratung, beispielsweise im Sinne einer Abklärung möglicher Legalisierungswege, im Rahmen des Clearinggesprächs ist im Unterschied zu Köln und München nicht vorgesehen.
Im elementarpädagogischen Bildungsbereich geht Hamburg als erste Stadt neue Wege: Die Bürgerschaft beschloss im Januar 2013, Kindern ohne Aufenthaltsstatus den Zugang zu öffentlich geförderten Kindertageseinrichtungen zu ermöglichen und die Kosten für Kindergartenplätze zu übernehmen. Dem Flüchtlingszentrum stehen hierfür jährlich 200.000 Euro zur Verfügung. Kindern ohne Papiere ist damit der ungehinderte Kindergartenzugang unter regulären Voraussetzungen (wie Versicherungs- und Unfallschutz, Betreuungszeiten) möglich.
Einige Kommunen stärken mit ihren Ansätzen dezidiert die institutionelle Basis der im Bereich der irregulären Migration tätigen Akteure; andere gehen den Weg über eine zentrale Koordinationsstelle, in der die Abstimmung und Organisation aller von der Stadt finanzierten Unterstützungsleistungen zusammenlaufen. Je nach Ausgangslage und Verlauf der Zusammenarbeit zwischen Stadt, freien Trägern und NRO werden bestehende Strukturen gestärkt (München, Köln) oder neue geschaffen (Hamburg). Nicht von ungefähr sind es gerade die relativ reichen Städte Hamburg und München, die auch längerfristig Gelder in einem größeren Umfang zur Verfügung stellen, als dies eine finanziell derzeit stärker belastete Stadt wie Köln haushaltstechnisch verantworten möchte.
Fazit
Erst die Wahrnehmung statusloser Migrantinnen und Migranten durch zivilgesellschaftliche Akteure und vereinzelt auch kommunale Verwaltungseinheiten (wie Integrationsamt, Gesundheitsamt) und die Offenlegung ihrer Lebenssituation im Rahmen wissenschaftlicher Studien führten dazu, dass einige Kommunen irreguläre Migrantinnen und Migranten als Teil ihrer Stadtbevölkerung und relevante Zielgruppe kommunalpolitischen Engagements "entdeckten". Erfolgreich ist diese Politik dann, wenn auf bestehenden Strukturen aufgebaut und relevante kommunale Akteure in den Prozess eingebunden werden. Gelungen – im Sinne einer Verbesserung der Lebensbedingungen von statuslosen Migrantinnen und Migranten – ist diese Politik dann, wenn sie in den Kanon der allgemeinen Integrationspolitik aufgenommen und damit als Querschnittsaufgabe in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Arbeit verankert ist.
Die beispielhaft skizzierten kommunalen Handlungsverläufe verdeutlichen, dass die Städte konstant auf das zumeist finanziell wenig honorierte Engagement von lokal ansässigen NRO und Einzelpersonen setzen.
Des Weiteren können sie über Erlasse und Rundschreiben an Schulen Transparenz und Offenheit im Umgang mit Kindern ohne Papiere fördern und damit Ressourcen auf Seiten der Migrantinnen und Migranten wie auf Seiten der Organisationen – sei es in kommunaler oder freier Trägerschaft – in einzelnen gesellschaftlichen Integrationsbereichen mobilisieren.
Vielen zivilgesellschaftlichen Akteuren gehen die hier beispielhaft vorgestellten kommunalen Angebote nicht weit genug. Die Forderung nach Legalisierungsprozessen nach spanischem oder italienischem Vorbild, nach der Einführung eines anonymen Krankenscheins und freiem Bildungszugang zu Kindergärten und Schulen wird in Deutschland immer wieder in die Diskussion geworfen.
Die Herausforderungen, denen sich die Kommunen durch irreguläre Migration stellen müssen, werden wohl nicht weniger: Aktuelle Schätzungen deuten zwar an, dass die Zahlen in den vergangenen Jahren rückläufig sind. Doch solange die Europäische Union und auch Deutschland zu keinem Umdenken in der Flüchtlingspolitik bereit sind, wird weiterhin für viele Menschen der irreguläre Aufenthalt die einzige Möglichkeit sein, der Not ihrer Herkunftsländer zu entkommen.