Deutschland ist zurzeit das wichtigste europäische Einwanderungsland. 74 Prozent der Zuwanderer kamen im Jahr 2012 aus dem EU-Ausland. Im Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung, die dominiert wird durch Berichte über südeuropäische Zuwanderer, waren Polen, Rumänen, Bulgaren und Ungarn die größten Zuwanderergruppen. Erst danach folgten Griechen, Italiener und Spanier.
Europa erlebt eine Re-Europäisierung der Migration, genauer gesagt eine EU-Europäisierung. Der freie europäische Migrationsraum – eine weltweit einmalige Erscheinung – entfaltet seine interne Dynamik, während die Einwanderung von außerhalb beschränkt bleibt. In allen europäischen Ländern hat das zunächst die Konsequenz, dass es bei den eigenen Staatsangehörigen einen Auswanderungsüberschuss gibt. Dies gilt auch für attraktive Einwanderungsländer wie die Schweiz und Luxemburg. In aktiven Einwanderungsländern wird dieser Auswanderungsüberschuss ausgeglichen durch verstärkte Einwanderung, vor allem aus ökonomisch schwächeren Ländern. Diese Länder stehen allerdings in der Gefahr, Bevölkerung zu verlieren und im Zusammenspiel mit dem europaweiten Geburtenrückgang in eine demografische Abwärtsspirale zu geraten. So trifft etwa in Lettland auf 28 Auswanderer nur ein Einwanderer (vgl. Tabelle 2 in der PDF-Version).
Migrationstrends und Arbeitsmarktdynamik seit 2004
Als die EU 2004 zehn neue Mitglieder aufnahm, ergab sich eine experimentelle Situation. Nur drei Länder – Schweden, Großbritannien und Irland – öffneten ihre Grenzen für Arbeitskräfte aus den neuen Mitgliedstaaten sofort. Wegen der geografischen Nähe zu Polen und dem Baltikum sowie dem hohen Pro-Kopf-Einkommen hätte man annehmen können, dass Schweden ein Hauptziel der anlaufenden Arbeitsmigration werden würde. Das Gegenteil war der Fall. Es kam zu einer starken Wanderungswelle nach Großbritannien und Irland – weit stärker, als es die britische Regierung vorausgesehen hatte. "1,5 Millionen sind seit Mai 2004 aus den neuen EU-Mitgliedsländern ins Vereinigte Königreich gekommen. (…) Sie sind jung und arbeiten für geringe Löhne im Niedriglohnbereich, auch wenn sie hoch qualifiziert sind."
Die Wanderungsbewegung nach Schweden blieb dagegen gering. Sie stieg von 1.134 Personen im Jahr 2003 auf 2.521 im Jahr 2004 und schließlich auf 7.540 im Jahr 2005 und sank dann bis 2011 auf 4.399 Personen ab, Rückwanderungen sind hierin noch nicht gegengerechnet.
2007 traten Rumänien und Bulgarien der EU bei und erneut entstand eine experimentelle Situation. Wieder öffnete Schweden seinen Arbeitsmarkt, außerdem auch Finnland, Norwegen, Dänemark, Italien, Portugal und Spanien.
Anders waren die Auswirkungen in Südeuropa. Über 900.000 Rumänen leben heute in Spanien, eine Million in Italien. In beiden Ländern sind Rumänen die größte Ausländergruppe. Männliche Einwanderer arbeiten in Spanien meist in der expandierenden Bauindustrie, Frauen vielfach in haushaltsnahen Bereichen. Noch stärker als in Großbritannien bildeten sich Beschäftigungsnischen, in denen immer mehr Migranten konzentriert waren und die Löhne tendenziell sanken. Stärker als in Großbritannien waren Migranten in Südeuropa in informellen Wirtschaftssektoren beschäftigt.
Die Migrationen folgten den unterschiedlichen Logiken der bestehenden Sozialsysteme und verstärkten die jeweiligen Merkmale und Dynamiken. Im regulierten schwedischen System konnten die Gewerkschaften nicht nur rechtlich, sondern auch faktisch durchsetzen, dass Migranten zu den gleichen Bedingungen beschäftigt wurden wie einheimische Arbeitskräfte. 90 Prozent der Beschäftigten arbeiten in Schweden im Rahmen eines Tarifvertrags, in der schwedischen Gesellschaft gibt es einen starken egalitären Konsens. Damit blieb das Arbeits- und Sozialsystem stabil, und es gab für die Unternehmen keine Anreize, qualifizierte Arbeitskräfte auf niedrigeren Qualifikationsstufen einzusetzen. Schweden verzichtete damit allerdings auf sogenannte Billigarbeit, die in vielen anderen Ländern Unternehmen und Konsumenten Extravorteile verschafft, etwa über ungesicherte Arbeitsverhältnisse im Servicesektor bis hin zu günstigen Restaurants. Schweden gilt als gut funktionierendes Beispiel für die Effektivität von Binnenkontrollen
Seit der Wirtschaftskrise
Nach dem Einsetzen der Wirtschaftskrise 2008 in Südeuropa und auf den Britischen Inseln lag die Vermutung nahe, dass es zu großen Auswanderungswellen kommen würde. Das ist nicht der Fall. In Großbritannien und Italien gibt es nach wie vor mehr Zu- als Abwanderung. Die Netto-Einwanderung nach Großbritannien sank von 242.000 Personen im Jahr 2011 auf 153.000 im Jahr 2012. In Spanien ist die Abwanderung per saldo relativ gering, vor allem im Vergleich mit der starken Zuwanderung in den Jahren vorher. Man kann eher von Stagnation sprechen. Die diskrepanten Entwicklungen setzten sich also auch in der Wirtschaftskrise seit 2008 fort, obwohl die skandinavischen Länder kaum von der Krise betroffen waren, die südeuropäischen Länder dagegen in eine tiefe Krise stürzten. In Spanien sind inzwischen 23 Prozent der Einheimischen und 34 Prozent der Ausländer arbeitslos. Offensichtlich ist aber die Spaltung des Arbeitsmarktes so weit fortgeschritten, dass einerseits Einheimische viele Arbeitsplätze nicht mehr annehmen und andererseits Migranten in großem Ausmaß zu niedrigen Löhnen und unbefriedigenden Arbeitsbedingungen beschäftigt werden.
Die weitere Einwanderung in die Niedriglohnsektoren hat zunächst ökonomische Gründe. Die Wirtschaftskrise zwingt Unternehmen in den Aufnahmeländern zu Kostenreduzierungen und legt es damit nahe, Menschen zu beschäftigen, die niedrige Löhne in Kauf nehmen. Das sind vielfach Migranten.
Die beschriebene Konstellation ist reizvoll für Arbeitgeber und Familien mit Service- oder Betreuungsbedarf. Es entsteht dann ein Billiglohnsektor, in dem bei offenen Grenzen mehr und mehr Migranten aus ärmeren Ländern Beschäftigung finden. Je stärker diese Effekte sind, desto mehr versuchen Einheimische und länger ansässige Migranten in andere Bereiche zu wechseln. Dadurch entstehen aber Diskrepanzen auf dem Arbeitsmarkt, vor allem in wirtschaftlichen Krisenzeiten, wenn Arbeitslosigkeit zunimmt. Spanien hat deswegen ein Rückkehrförderungsprogramm aufgelegt, mit dem Arbeitskräfte mit finanziellen Anreizen zur Rückkehr in ihr Heimatland motiviert werden sollen. Die britische Regierung bemüht sich fieberhaft, die Einwanderung einzudämmen.
Wenn Einwanderer zu Niedriglöhnen arbeiten und Einheimische arbeitslos sind, entstehen Spannungen. Zudem leidet die Wettbewerbsfähigkeit, wenn Einwanderer nicht ihren Qualifikationen entsprechend eingesetzt, sondern in breitem Maße dequalifiziert werden. Für das Ziel der EU, der "wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensgestützte Wirtschaftsraum der Welt" zu werden – so die "Lissabon-Strategie"
Einwanderung und soziale Sicherungssysteme
Italien gibt auch in der Krise eine jährliche Einwanderungsquote für Nicht-EU-Ausländer frei, mit der hauptsächlich haushaltsbezogene Arbeitskräfte ins Land kommen können. Zwischen 2011 und 2012 verzeichnete die italienische Statistik einen Zuwachs von 81.000 ausländischen Arbeitskräften (das sind 3,5 Prozent). Zwischen 2008 und 2012 gab es einen Zuwachs von 480.000 ausländischen Arbeitskräften. Gleichzeitig fiel die Zahl der Beschäftigten insgesamt um 1,04 Millionen. Im sozial- und personenbezogenen Dienstleistungssektor arbeiten zunehmend mehr Ausländer. Im Jahr 2012 waren es 28 Prozent der Beschäftigten, überwiegend Frauen. Von 2011 bis 2012 stieg die Zahl der Arbeitskräfte in diesem Sektor um 75.000, gleichzeitig gab es dort 12.000 Italiener weniger. Dabei waren auch Ausländer in Italien verstärkt von Arbeitslosigkeit betroffen: Zwischen 2011 und 2012 stieg die Zahl der Arbeitslosen mit ausländischer Staatsangehörigkeit von 264.000 auf 318.000.
Die große Diskrepanz in der Einwanderung gerade im Bereich personenbezogener Dienstleistungen zwischen Mittelmeerstaaten und skandinavischen Ländern hängt mit den unterschiedlichen Charakteristika der Wohlfahrtssysteme in Süd- und Nordeuropa zusammen.
Deutschland zwischen Regulierung und Informalisierung
Deutschland nimmt in Bezug auf die EU-Mobilität eine Mittelstellung ein. Es hat zwar schon seit 1992 Saisonarbeiter aus Polen und den anderen 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten angeworben,
Mit der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse zwischen 2003 und 2005 und der Ausweitung von Zeitarbeit, Leiharbeit, Werkverträgen und Minijobs sind allerdings die Tarifsysteme in einigen Bereichen erodiert. Zwar gelten überall gesetzliche Standards, aber faktisch können sie über komplexe Vertragskaskaden oder andere Arrangements ausgehebelt werden. In den Jahren 2012 und 2013 sind extreme Niedriglöhne, schwierige Arbeitsbedingungen und überfüllte Behausungen in vielen Wirtschaftsbereichen skandalisiert worden. Lohndumping in der Fleischverarbeitung hat sogar zu einer Klageandrohung der belgischen Regierung geführt, da belgische und andere ausländische Unternehmen ihr Fleisch in Deutschland zu Niedriglöhnen verarbeiten ließen.
22 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland arbeiten zu Niedriglöhnen – mehr als in allen anderen westeuropäischen Ländern. In einigen Nischen sind extreme Niedriglohnsektoren etabliert worden, die für einheimische Arbeitskräfte wenig attraktiv sind. 1,3 Millionen Beschäftigte in Deutschland sind "Aufstocker", das heißt, sie bekommen zusätzlich zu ihren geringen Löhnen von durchschnittlich 6,20 Euro pro Stunde staatliche Leistungen. Da diese Leistungen auch EU-Bürgern zustehen, könnte in diesem Bereich auch ein Migrationskanal entstehen. Dies wäre dann nicht die viel beschworene "Einwanderung in die Sozialsysteme", sondern Einwanderung in den staatlich subventionierten Niedriglohnbereich. In Konkurrenzsituationen werden Unternehmen Niedriglöhne und Subventionen nutzen, wenn ihre Konkurrenten dies auch tun, die Branchenpreise entsprechend niedrig sind und der Gesetzgeber diese Mechanismen vorsieht.
Als Reaktion auf die öffentlichen Debatten sind inzwischen Maßnahmen ergriffen worden, um eklatante Missstände zu beseitigen. In mehreren Branchen sind Tarifverträge abgeschlossen und anschließend für allgemeinverbindlich erklärt worden, wie etwa für Steinmetze und Bildhauer im September 2013. Es gibt eine breite Diskussion über die Einführung eines Mindestlohns. Nach dem Versuch des Schlecker-Konzerns, Beschäftigte zu entlassen und als Zeitarbeiter wieder einzustellen, sind diese Möglichkeiten durch Gesetze eingeschränkt worden. Auch der intensiver werdende Wettbewerb um Arbeitskräfte, vor allem in den wirtschaftsstarken Regionen, trägt dazu bei, die Löhne steigen zu lassen.
Deutschland hat aufgrund seiner aktuellen wirtschaftlichen Stärke die Chance, diese Probleme zu lösen. Schritte dazu können eine konsequente Re-Etablierung des Tarifsystems, die Stärkung der Betriebsräte und die Einführung von Mindestlöhnen sein. Entscheidend wird aber eine Senkung der Arbeitskosten und der Belastung durch Sozialabgaben sein, damit das Normalarbeitsverhältnis ökonomisch attraktiver wird.
Europäische Diskrepanzen in der Asylgewährung
Trotz aller Bemühungen zur Harmonisierung der Flüchtlingsregime in der EU
Angesichts der unterschiedlichen Aufnahmepraktiken haben Flüchtlinge in den meisten Fällen auch eine innereuropäische Migrationsgeschichte. Ihre Aufnahme folgt aber nicht so sehr der Logik der Arbeitsmärkte und der Beschäftigungssysteme, sondern ist vor allem von staatlichen Leistungen und Aufnahmeentscheidungen abhängig. Beim Vergleich der Flüchtlingsaufnahme wird im Folgenden nicht die Antragstellung, sondern die reale Aufnahme zugrunde gelegt. Grund ist die Tatsache, dass die Anerkennungszahlen stark schwanken, zwischen 0,8 Prozent in Griechenland und 45,6 Prozent in Dänemark. In einigen Ländern bedeutet die Asylregistrierung nur einen Erstkontakt, der keine Konsequenzen hat und unter Umständen die Weiterwanderung in ein anderes europäisches Land zur Folge hat.
Werden die Zahlen der aufgenommenen Flüchtlinge in Relation gesetzt zur Bevölkerungszahl der Aufnahmeländer, zeigen sich erstaunliche Differenzen, die über die Jahre relativ stabil blieben und die Migrationsrichtung der Flüchtlinge erklären können. Norwegen und Schweden nehmen pro 10.000 Einwohner etwa zehn Flüchtlinge auf, Österreich, Belgien und die Schweiz etwa fünf, Deutschland zwei, Frankreich, Großbritannien und Italien einen sowie Polen und Griechenland einen pro 100.000 Einwohner.
Deutschland im europäischen Vergleich
Nicht nur geografisch, sondern auch bei der Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaates
Allerdings spiegelt die Migration Charakteristika des Arbeits- und Sozialsystems des jeweiligen Aufnahmelandes wider. Dies gilt in Deutschland für die Etablierung eines Niedriglohnbereichs, für die Möglichkeit des "Aufstockens" und für die Flexibilisierung der Beschäftigungsmöglichkeiten ebenso wie für die soziale Vollversorgung in vielen Bereichen, die hohen Abgaben und das selektive Bildungssystem. Mit anderen Worten: Migranten arbeiten öfter im Niedriglohnbereich als Einheimische, sind deshalb öfter "Aufstocker" und arbeiten häufiger in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen. Ihre Kinder gehen seltener auf Gymnasien, sie werden aber relativ gut im Gesundheitssystem versorgt. Kurzum: Die inneren Strukturen eines Landes sind für Quantität und Qualität der Einwanderung entscheidender als besondere (Anwerbe-)Maßnahmen für Migranten.
Die EU ist keine homogene Gesellschaft und wird dies auch niemals werden. Selbst innerhalb Deutschlands bestehen relevante Unterschiede, die sich auf die Migration auswirken. Beispielsweise geht die Migration überwiegend in die wirtschaftsstarken Regionen und verstärkt ihre Dynamik. So ist die Landkarte der Migration ein Abbild der Wirtschaftsstärke.
Solange die wirtschaftlichen Krisenerscheinungen und die Disproportionen zwischen EU-Ländern andauern, werden sich die beschriebenen Wanderungstendenzen fortsetzen, und Migration wird weiterhin hauptsächlich innereuropäisch stattfinden. Auf längere Sicht wird angesichts der demografischen Probleme in den meisten europäischen Ländern allerdings an Einwanderung von außerhalb Europas kein Weg vorbeiführen, es sei denn, die Europäer ändern ihr Geburtenverhalten dramatisch oder finden sich mit einer extremen Alterung der Gesellschaft ab, die dann ganz Europa in die oben angesprochene demografisch-ökonomische Abwärtsspirale führen könnte. Die Vernetzung Europas wird durch Migrationen intensiviert, auch wenn es immer wieder emotionale Befürchtungen und neue Diskurse um "Fremde" gibt.