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Deutschlands Grenzen: Tauziehen um das Recht auf Bewegungsfreiheit

Miltiadis Oulios

/ 13 Minuten zu lesen

Arrash sitzt auf der Rückbank des Polizeiautos, die Hände sind hinter dem Rücken gefesselt. Zur Erleichterung versucht er sich hinzulegen. Das verhindert einer der Beamten, indem er sich neben ihn setzt. Vier Stunden dauert die Fahrt. Arrash hat kein Verbrechen begangen, fühlt sich aber wie ein Verbrecher behandelt. Und seine Handgelenke schmerzen höllisch.

Warum wird dieser Mann über Hunderte Kilometer im Polizeiauto quer durch Deutschland transportiert? Wo liegen Deutschlands Grenzen? Für Arrash verlief schon um das Asylheim eine Grenze; in einem Dorf am Niederrhein, in dem er untergebracht war. Der heruntergekommene Flachbau steht am Ende einer Sackgasse in einem ansonsten idyllischen Wohngebiet mit Einfamilienhäusern. Die Bewohner des Heims haben mit den Einheimischen nichts zu tun. "Wir grüßen uns", sagt Marwin aus Nigeria, der auch dort wohnt, "aber wir kennen unsere Namen nicht." Es ist eine gefühlte Grenze, um die sich eine weitere, "harte" Grenze legt, der alle Asylbewerber in Deutschland unterliegen: die sogenannte Residenzpflicht. Sie dürfen ohne Erlaubnis der Ausländerbehörde das Bundesland nicht verlassen – in Bayern und Sachsen nicht einmal den Regierungsbezirk. Grenzen mitten in Deutschland.

Der Staat und seine Behörden bemühen sich, die freie Bewegung jener Menschen zu kontrollieren, denen bestimmte Freiheitsrechte nicht zugestanden werden, und stoßen dabei ebenfalls an ihre Grenzen. Wir sollten den Begriff der Grenze daher nicht in Ausdrücken der Geometrie wie Linie oder Kreis beschreiben. Grenzen haben eher mit sozialer Physik zu tun. Ein Feld, in dem entgegengesetzte Kräfte aufeinandertreffen. Eine Beziehung zwischen Menschen, in denen um den Zugang zu gleichen Rechten gestritten wird.

Arrash hat sich nämlich nicht an die Residenzpflicht gehalten. Er verließ Nordrhein-Westfalen, ohne um Erlaubnis zu fragen. Er fuhr nach Würzburg und schloss sich anderen politischen Flüchtlingen aus dem Iran an. Diese Männer begannen im Frühjahr 2012 – nach dem Selbstmord eines Asylsuchenden in einer Massenunterkunft für Flüchtlinge – gegen die Missstände in den Heimen und für ihre Anerkennung in Deutschland zu demonstrieren. Die Polizei kontrollierte Arrash mehrmals am Protestzelt in der Würzburger Innenstadt. Weil er wiederholt der "Aufenthaltsbeschränkung" zuwidergehandelt habe, sollte er 800 Euro Strafe zahlen. Am Ende fuhren ihn die Polizeibeamten in Handschellen zurück ins Heim nach Grefrath. "Das hat mir nur geholfen", konstatiert Arrash, "besser zu verstehen, dass das Gerede vom freien Europa sehr oberflächlich ist." Aufgehalten hat es ihn nicht.

Auf den Oberarmen und dem Schulterblatt trägt Arrash Tattoos. Neuerdings hört er wieder mit Begeisterung Nirvana. Das sei ein wenig Nostalgie, schmunzelt er, "es erinnert mich an die Zeit als ich Anfang zwanzig war." Als junger Mann rebellierte er gegen das Regime im Iran, wurde Atheist, hielt sich nicht an den Ramadan und war an Protesten beteiligt. Er wurde mehrmals festgenommen und mit Lötkolben gefoltert, erklärt er dem Asylrichter in Deutschland, als er seinen Unterarm hebt und ihm die Brandmale zeigt. Arrash musste 2006 fliehen. Ein Schlepper brachte ihn über die Berge in die Türkei. Dort lebte er fünf Jahre, arbeitete als Maler und Tapezierer und engagierte sich weiterhin politisch. Deswegen bekam er auch mit der türkischen Polizei Probleme und erhielt kein Asyl. Dann zahlte er 2.000 Euro, um nach Griechenland zu gelangen. Wieder zu Fuß über die Grenze, durch Wälder und den Grenzfluss. Nach Deutschland reiste er mit dem Flugzeug.

"Ich glaube, Grenzen sind dafür gemacht, dass die Menschen sie überwinden", betont Arrash. "Einfach gesagt, es leben sieben Milliarden Menschen auf der Welt", hebt er an, "wer ist gefragt worden, ob wir überhaupt diese Grenzen haben wollen?"

In der Asylbewerberunterkunft, die ihm zugewiesen wurde, blieb er nur drei Monate. Das trostlose Zimmer kam ihm vor wie ein Gefängnis. Statt Geld gab es Gutscheine. Die Gängelung seines Lebens erinnerte ihn an den Iran. Um frei zu sein, nimmt er in Kauf, keine Asylbewerberleistung zu erhalten, weil er nicht im Heim bleibt. "Ich bin nicht des Geldes wegen nach Deutschland gekommen", stellt er klar, seine Eltern gehören der Teheraner Mittelschicht an. "Ich bin gekommen, weil ich frei sein will." Lieber schläft er mit anderen Aktivisten in Schlafsäcken auf der Straße oder in den Wohnungen von Unterstützern der Proteste.

In Würzburg nähen sie sich die Lippen zu. Das geht durch die Medien. "Wir mussten schockieren. Das war zu diesem Zeitpunkt unsere einzige Möglichkeit, gehört zu werden", erklärt Arrash, "im Heim depressiv zu werden, ist viel schlimmer, als sich einmal die Lippen zuzunähen." Daraufhin entstehen auch in anderen deutschen Städten Protestgruppen von Geflüchteten.

Der Übersetzer Reza (links) und der Asylbewerber Arrash Dosthossein aus dem Iran (Mitte) geben am 5. November 2012 in Berlin eine Pressekonferenz. Die Flüchtlinge protestieren gegen die Residenzpflicht, Sammelunterkünfte und die Asylpolitik in Deutschland. (© picture-alliance/dpa)

Im September 2012 marschieren sie nach Berlin, sprechen mit der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, fordern das Ende der Massenunterkünfte für Asylbewerber und einen Abschiebestopp. Das Treffen sei ihm wie politisches Theater vorgekommen. "Sie sprach zu uns wie zu kleinen Kindern", findet Arrash, "ja, wir wissen um eure Probleme, ihr habt ja Recht", hätte die Politikerin gesagt, "aber ihr müsst warten."

Die Politik reagiert, wenn überhaupt, nur in kleinen Schritten. Das Arbeitsverbot für Asylsuchende wurde von zwölf auf neun Monate verkürzt, die Integrationsbeauftragte macht sich für eine gesetzliche Bleiberechtsregelung stark. In Bayern, so die bayerische Sozialministerin, wohne nur noch die Hälfte der Betroffenen in Gemeinschaftsunterkünften. Für Asylsuchende, die dort ausziehen wollen, gebe es neuerdings Berater vor Ort. Minderjährige sollen auch in Bayern nicht mehr dort untergebracht werden. Bei der Forderung nach einem Abschiebestopp hören alle weg.

Und ihre Rebellion stößt auf Grenzen der Akzeptanz. Die Öffentlichkeit kann mit Geflüchteten besser umgehen, wenn sie als Empfänger von Mitgefühl erscheinen. Selbstbewusste Typen, die sich so verhalten, "als wären sie hier zu Hause", sprengen diesen Rahmen. Dabei sind es gerade diese Protestierenden, die für demokratische Rechte kämpfen. Sie nennen sich "non-citizens", Nicht-Bürger, die Bürger sein wollen.

Die meisten illegalisierten Migranten und Asylsuchenden sind nicht so politisch. Doch in einem wesentlichen Punkt handeln sie auf die gleiche Weise. Der US-Forscher Luis Cabrera hat dies in Gesprächen mit Einwanderern aus Mexiko und anderen lateinamerikanischen Staaten festgestellt, die illegal in die USA migrieren. Sowohl Gegner als auch Unterstützer der illegalisierten Einwanderer gehen davon aus, dass Bürgerrechte etwas sind, das auf den Nationalstaat begrenzt ist. Die unerlaubten Migranten aber, bringt es Cabrera auf den Punkt, handeln heute schon so, als ob es längst möglich wäre, ein Weltbürger zu sein. Sie praktizieren eine "global citizenship".

Wer nur auf das Leid blickt, das beim unerlaubten Übertreten der Grenze und in der Bekämpfung dieser Migration entsteht, übersieht, dass dabei etwas praktiziert wird, das man ein Weltbürgerrecht nennen kann, das Recht, selbst zu entscheiden, wo auf dieser Welt man leben möchte. Viele Menschen haben zudem Verwandte oder Freunde in anderen Staaten, die es ihnen erleichtern, in diese Staaten zu gelangen. Das ist ein wichtiger Aspekt der Weltgesellschaft. Wir sind alle schon überall, Menschen aller Nationalitäten finden sich in fast allen Staaten dieser Welt. All dies relativiert die bestehenden Grenzen.

Illegalisierte Freiheit

Dies veranschaulicht auch die Geschichte von Ferhad (Name geändert). Er ist Vater mit Leib und Seele. Wenn er seinen zwei Jahre alten Sohn auf die Rutsche setzt, ziert ein breites Lächeln sein Gesicht. Das mit der großen Nase, dem dunklen Teint und den schwarzen Haaren. Er ist einer der Menschen, die mit ihrer Anwesenheit dafür sorgen, dass Politiker davon sprechen, Deutschland sei ein weltoffenes Land. Ist es auch. Selbst wenn Ferhad ein Teil dieser Welt ist, der gar nicht in Deutschland sein dürfte. Aber auf dem Spielplatz wie an vielen Orten unseres Alltags trifft sich die ganze Welt. Im Sandkasten tummeln sich die Kinder der deutsch-deutschen Eltern – vom Arbeiter bis zum Akademiker –, aber auch afro-deutsche Kids, indische, marokkanische, griechische und eben Ferhads Sohn.

Der Kurde ist illegal nach Deutschland gekommen. Mit dem LKW aus Griechenland. Zu sechst versteckten sie sich auf der Ladefläche, 3.000 Euro habe er für den Transport bezahlt. In München ließen ihn die Schlepper raus. Er rief seinen Cousin in Hannover an, der in abholte. Ferhad stellte einen Asylantrag, lebte im Asylheim, fasste aber schnell Fuß. House keeping habe er gemacht, in einem Hotel die Zimmerböden gesaugt. Und vor allem in Restaurants in der Küche gearbeitet.

Ferhads Asylantrag wird nicht anerkannt – das wusste er schon vorher –, er bleibt mit einer Duldung im Land. Die deutschen Behörden schieben ihn nicht ab. Er zeigt auf seine Fingerkuppen, "isch habe nix gegeben", er konnte es in Griechenland immer vermeiden, seine Fingerabdrücke registrieren zu lassen. Wäre er dort registriert, hätte man ihn bei einem Asylantrag in Deutschland auf Grundlage europäischer Regelungen zurück nach Griechenland geschickt. Vor drei Jahren folgte seine Frau aus dem Irak. Mittlerweile hat sie das zweite Kind geboren. Zu viert leben sie auf 45 Quadratmetern in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Seit drei Jahren. Ständig meldet er sich auf Wohnungsanzeigen, neulich besichtigte er eine 80-Quadratmeter-Wohnung. "Ich zahle sogar mehr Provision", habe er der Maklerin gesagt. Aber gegen ein junges Paar mit Job hatte er keine Chance. Im Moment hat Ferhad keine Arbeit. Sein Ziel lautet jetzt "B1". Er besucht einen Deutschkurs und will die Voraussetzungen dafür schaffen, dass er eine richtige Aufenthaltserlaubnis ergattern kann.

2002 war der Kurde zum ersten Mal aus dem Irak geflohen. Über die Türkei und das Grenzgebiet am Evros-Fluss rüber nach Griechenland. "Wir sind viel zu Fuß gelaufen", verzieht er das Gesicht, "das war schwierig." In Saloniki wurde er als Illegaler festgenommen. Vier Mal sei er in die Türkei zurückgeschoben worden. Einmal habe ihn die Türkei in den Irak abgeschoben. Er gab zunächst auf und wartete. 2004 versuchte er es dann noch einmal. "Ich habe viel Geld verloren", resümiert er, aber aus seiner Sicht hat es sich gelohnt.

In Griechenland findet er Arbeit bei einem Dachdecker. Er schleppt Ziegel. Für 40 Euro am Tag. "Ich habe schneller geschleppt als andere und auch bei anderen Arbeiten geholfen", grinst der kräftige Mann. Sein Meister sollte sehen, dass er gut arbeitet. Dann hat sein Chef den anderen Helfer entlassen und ihn behalten. Er bekam fortan 70 Euro. Gutes Geld für ihn. Aber dort hatte er trotzdem keine Perspektive auf eine reguläre Aufenthaltserlaubnis, winkt er ab. Sein "Ausweis", erklärt Ferhad, war "schwarz". Ein gefälschter Aufenthaltstitel, der von einem Iraker an den anderen weitergereicht wird. Die Gültigkeit musste er immer wieder erneuern. Dass das Papier gefälscht wurde, fiel nicht auf. Bevor er Griechenland verließ, habe er es für 300 Euro verkauft. Als die Wirtschaftskrise in Griechenland ausbrach, wurde es immer schlechter mit den Jobs, erzählt der Kurde, dazu die Konkurrenz zu den "neuen Leuten", die ins Land kamen. Er wollte weg und ging nach Deutschland, weil hier zwei seiner Cousins und drei seiner Schwestern leben.

Zurückzukehren in den Irak kommt für ihn nicht infrage. Den Leuten im kurdischen Norden des Iraks gehe es zwar relativ gut, aber das gelte hauptsächlich für Muslime. Christen und Yeziden würden diskriminiert. Die Polizei drangsaliere sie, helfe ihnen bei Übergriffen nicht. Auch bei der Arbeitssuche würden sie benachteiligt. "Deswegen gehen viele Christen und Yeziden nach Europa", erklärt Ferhad. Er ist Yezide. "Du glaubst an die Sonne?", frage ich ihn. "Ja", antwortet er.

Ferhad und Arrash wissen – so wie viele Menschen, die auf ähnlichen Wegen in die EU gelangen –, dass es möglich ist, die EU-Grenzen zu überwinden. Dabei sind das mörderische Grenzen. Etwa 1.500 Menschen sind im Jahr 2011 laut Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) beim Versuch, europäisches Festland zu erreichen, im Mittelmeer ertrunken. Ins Boot steigen nur jene Flüchtlinge, die keine andere Möglichkeit sehen. Aber auch über diesen Weg haben es im selben Jahr 58.000 Menschen geschafft. Das ist das Entscheidende. Die Migranten wissen, dass sie ihr Leben riskieren, aber auch, dass sie es schaffen können.

Minderjährige Flüchtlinge protestieren am 21. August 2009 mit dem Slogan "We want freedom we don’t want food" gegen ihre Internierung in einem Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos. (© picture-alliance/dpa, epa ANA)

Die Randstaaten der EU erhalten Geld, um die unerlaubte Einwanderung zu bekämpfen und Migranten abzuschrecken. Deutsche Grenzen außerhalb Deutschlands. Mit dem Geld werden auch Gefängnisse finanziert, bei denen die Verletzung der Menschenrechte einkalkuliert ist. 2012 eröffnete das griechische Innenministerium in der Nähe Athens ein mit Stacheldraht umzäuntes Containerlager, in dem über 1.000 Menschen festgehalten werden, denen Aufenthaltspapiere fehlen, die auf ihre Abschiebung warten oder die einen Asylantrag gestellt haben. Auf engstem Raum leben sogar Minderjährige in diesem Lager. Obwohl laut EU-Recht die Inhaftierung nur als letztes Mittel vorgesehen ist, mutiert sie hier zur Regel. Dabei ist das Lager auch deshalb entstanden, weil die Asylbedingungen in Griechenland eigentlich verbessert werden sollten. Die desolate Lage in dem Land hatte dazu geführt, dass Deutschland die Abschiebung von Geflüchteten nach Griechenland, die dort schon registriert worden waren und nicht hätten weiterreisen dürfen, vorerst einstellen musste. Ein Asylsystem nach EU-Standards – zum Beispiel durch die Errichtung regulärer Unterkünfte – sollte die Wiederaufnahme der Zurückschiebungen ermöglichen. Wie die Realität für die dort eingesperrten Menschen aussieht, führte die Niederschlagung eines Aufstands im August 2013 vor Augen.

Die Migranten rebellierten, nachdem ihnen die griechischen Polizisten, welche die Unterkünfte bewachen, mitgeteilt hatten, dass ihre Haftzeit von 12 auf 18 Monate verlängert wird. Sie weigerten sich, in die Container zurückzukehren, wurden geschlagen, begannen mit Steinen zu werfen und wurden von der Polizei dann unter dem Einsatz von Tränengas und Schlagstöcken niedergerungen, so berichten Zeugen. Die inhaftierten Migranten beklagen immer wieder Gewalt und Beleidigungen seitens der Polizei. Die Öffentlichkeit sowohl in Griechenland als auch im Rest Europas schaut größtenteils weg.

"Die Verlagerung der Grenzkontrollen an die Ränder der Europäischen Union geht einher mit der Ausbreitung von Migrationsgefängnissen", und das Frappierende dabei ist: Nach dem Fall der Berliner Mauer, "nach dem Siegeszug der ‚Freiheit‘ also, hat sich ein System der Abschiebegefängnisse etabliert, in die Menschen nur deshalb eingesperrt werden, weil sie das Versprechen der Freiheit ernst nehmen". Das Grenzregime stellt jedoch ein Paradoxon dar: Es soll die Bewegung von Menschen verhindern, in einer Welt, die mehr denn je durch Mobilität gekennzeichnet ist. Die Kontrollen stellen eine künstliche Verknappung des Gutes Bewegungsfreiheit dar, das heute einfacher denn je hergestellt werden kann. Die andere Seite der Medaille ist daher, dass Migranten trotz der beschriebenen Politik durchbrechen.

Grenzen durchziehen Deutschland

Geografische Grenzen verlieren auch für jene Menschen, die ohne die dafür notwendigen Papiere ihren Lebensort wechseln wollen, an Bedeutung. Die Möglichkeiten zu reisen, sind heute so groß wie noch nie in der Menschheitsgeschichte. Umso absurder wirkt es, wenn das Recht, diese Möglichkeiten zu nutzen, bestimmten Menschen verweigert wird.

Am Flughafen Düsseldorf gibt es jeden Tag fast 600 Starts und Landungen. Als der Flug aus Thessaloniki an einem Sonntagmittag im Juli 2013 landet, steigen etwa 200 Passagiere aus. Jüngere, Ältere, Familien mit Kindern, die Reisenden sind braun gebrannt. Sie schreiten die Gangway entlang in das Gebäude des Flughafens. Es geht eine Treppe hinauf. Nach dem Ende der Stufen hasten alle auf eine Glastür zu, manche schauen etwas irritiert nach links und laufen ohne Grenzkontrolle weiter zum Gepäckband.

Alle bis auf einen. Auf dem Gang sind fünf Männer und eine Frau postiert. Die Polizisten haben die Passagiere im Blick und halten als einzigen einen jungen Mann an. Er trägt beige Shorts, die Sonnenbrille hat er über die Stirn gezogen, den Rollkoffer zieht er hinter sich her. Seine Haut ist etwas dunkler als die der anderen Passagiere. Obwohl Griechenland und Deutschland dem Schengen-Raum angehören, in dem zwischen EU-Staaten sowie Norwegen, der Schweiz, Island und Liechtenstein Freizügigkeit herrscht, wird dieser Mann einer Grenzkontrolle unterzogen, die so nicht genannt werden will. "Das ist keine Kontrolle", sagt die Beamtin der Bundespolizei, "das ist eine Befragung." Derweil begutachtet der Polizist den türkischen Reisepass des Mannes, schaut sich die Stempel darin an und hält ihn waagerecht gegen das Licht, um seine Echtheit zu prüfen. Mehrere Minuten reden sie mit dem Reisenden.

Bundespolizisten dürfen in Zügen und auf Bahnhöfen, im Grenzgebiet und auf Flughäfen "lagebildabhängige Befragungen" vornehmen, um die Identität von Reisenden zu kontrollieren. Grenzen durchziehen Deutschland. Das Ziel ist, die illegale Einreise zu verhindern. Die Bundespolizei beteuert, dass dabei nicht nur die Hautfarbe des Menschen eine Rolle spielt, sondern auch Informationen über Schleuserrouten. Faktisch werden Bürger aber schlicht aufgrund ihrer Hautfarbe kontrolliert, sie werden damit zu Unrecht verdächtigt. Ein afro-deutscher Student hatte 2012 dagegen geklagt. Das Oberverwaltungsgericht in Koblenz urteilte, dass diese Kontrollen verfassungswidrig sind. Sie verstoßen gegen das Diskriminierungsverbot. Die Bundespolizei sagt, ihre Beamten würden schon in ihrer Ausbildung in Grundrechtsfragen sensibilisiert. Auf die Frage, wie garantiert werde, dass keine verfassungswidrigen Kontrollen mehr stattfinden, antwortet die Polizistin am Flughafen: "Das können wir nicht garantieren."

Als diese faktischen Grenzkontrollen im Inland 1998 eingeführt wurden, stellte die Bundespolizei 40.000 Fälle von unerlaubter Einreise fest. Seitdem sind die Zahlen kontinuierlich auf etwa die Hälfte gesunken. Denn viele neue EU-Bürger erhielten die Möglichkeit, legal einzureisen, und auch die Kriege im damaligen Jugoslawien, die viele Menschen zur Flucht zwangen, wurden beendet. Die Zahl der Personenkontrollen hat sich jedoch zwischen 2005 und 2012 verdreifacht: von einer Million auf über drei Millionen jährlich. Die meisten finden im Grenzraum bis 30 Kilometer ins Inland hinein statt. Deutsche Polizeibeamte diskriminieren dadurch immer mehr Menschen mit "ausländischem" Aussehen in Deutschland, denn im Verhältnis zur Zahl dieser Kontrollen bleibt die Zahl der tatsächlich wegen unerlaubter Einreise Festgenommenen gering.

Manchmal werden infolge dieser Kontrollen auch Diebstähle aufgedeckt. Der abschreckende Effekt auf Migranten sollte allerdings nicht überschätzt werden. Wenn Kriege ausbrechen und Menschen fliehen müssen, können auch diese mobilen Grenzkontrollen nicht verhindern, dass mehr illegale Einreisen stattfinden. Seit 2011 steigt deren Zahl wieder an. 2012 wurden etwa 25.000 Fälle von der Bundespolizei aufgedeckt.

Am Düsseldorfer Flughafen hat die Bundespolizei im Jahr 2012 etwa 4.600 Menschen kontrolliert. 89 Personen wurden wegen unerlaubter Einreise festgehalten. 98 Prozent der Betroffenen wurden zu Unrecht verdächtigt. Und manch einer ist wohl einfach nicht aufgefallen. Der türkische Tourist aus Saloniki durfte nach erfolgter Kontrolle weitergehen.

Dieses Glück haben jene Menschen nicht, die in Deutschland Schutz suchen und dann festgenommen und in Abschiebegefängnisse gesteckt werden. So soll ihre Zurückschiebung in andere EU-Staaten durchgesetzt werden. "In grenznahen Abschiebehaftanstalten – wie z.B. Rendsburg oder Eisenhüttenstadt – sind bis zu 90 Prozent der Inhaftierten Asylsuchende (die über EU-Drittstaaten in Deutschland einreisten, Anm. d. Red.), die von der Bundespolizei aufgegriffen wurden", berichtet die Organisation ProAsyl und kritisiert, dass durch die gegenwärtige Praxis "die Schutzmechanismen für Asylsuchende systematisch unterlaufen" werden. Dadurch wird Abschiebehaft zur Norm, obwohl sie ursprünglich als absolute Ausnahme gedacht war. Menschen, die sich ihr Recht auf Bewegungsfreiheit nehmen, werden behandelt, als hätten sie ein Verbrechen begangen.

M.A., geb. 1973; freier Journalist, arbeitet unter anderem für den WDR und DLF; Autor des Buches "Blackbox Abschiebung. Geschichten und Bilder von Leuten, die gerne geblieben wären" (2013). E-Mail Link: m.oulios@online.de