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28. Juni 1914: Beginn des Ersten Weltkrieges? | Attentate | bpb.de

Attentate Editorial Attentate in der Weltgeschichte: Was haben sie bewirkt? Entweder/Oder: Ein Nachspiel zur Opferung von Jitzchak Rabin 22. November 1963: Ein Tag, der die Welt veränderte? 28. Juni 1914: Beginn des Ersten Weltkrieges? Macht der Bilder – Attentate als Medienereignis "Zwitterhafte Wesen … aus der Hölle gespien" oder: Wer sind Attentäter(innen)?

28. Juni 1914: Beginn des Ersten Weltkrieges?

Susanne Brandt

/ 15 Minuten zu lesen

Sarajevo und Franz Ferdinand: Untrennbar sind diese beiden Namen mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges verbunden; Dokumentarfilme, Handbücher und Ausstellungen über den Krieg beginnen an diesem Ort und mit dem tödlichen Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger. Wir sehen grobkörnige Fotos, uniformierte Männer in einem offenen Automobil, eine Dame mit einem breitkrempigen Hut und Sonnenschirm, ein Handgemenge und dann: Porträts sehr junger Männer, die ernst in die Kamera blicken, zu weite Jacken über schmächtigen Schultern tragen.

Das Attentat von Sarajevo, Darstellung in "Le Petit Journal", 12. Juli 1914 (© picture-alliance/maxppp)

Der Moment des Attentats ist unter anderem in einer farbigen Zeichnung festgehalten: Ein schwarz gekleideter Mann, den Hut tief im Gesicht, aus dem Revolver dringt weißer Qualm, der Erzherzog sinkt sterbend in die Arme seiner Frau, die in Sekunden selbst getroffen sein wird. Schon diese zeitgenössische Tatortzeichnung stellt die Ereignisse verändert dar: Denn Sophie, die Gattin des Erzherzogs, starb als erste, sie fiel verwundet auf den Schoß ihres Mannes, beide saßen im Automobil. Das Bild der den Gatten umfangenden Ehefrau, eines bis in den Tod verbundenen Paares, ist Teil einer unmittelbar einsetzenden Legendenbildung und politischen Instrumentalisierung des Mordes. Begann an diesem Tag also der Erste Weltkrieg?

Am 28. Juni 1914 besuchte der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand mit seiner Frau Sophie, der Herzogin von Hohenburg, Sarajevo, die Hauptstadt der Provinzen Bosnien und Herzegowina. Der Erzherzog hatte zuvor auf Einladung von General Oskar Potiorek, dem Landeschef der beiden Provinzen, zwei Tage an einem Manöver teilgenommen. Die Planungen liefen seit September des Vorjahres, und in der Presse waren bereits Details des Besuchs veröffentlicht worden, denn möglichst viele Zuschauer sollten am Straßenrand dem Konvoi zujubeln. Ziel der Reise war es, das Ansehen des Herrscherhauses aufzupolieren. Seit der Annexion der beiden Provinzen durch Österreich-Ungarn im Jahr 1908 hatte sich das Image der Habsburger verschlechtert; viele in Bosnien lebende Serben träumten von einem unabhängigen, mit Serbien geeinten Staat. Im Rückblick der Forschung scheint die österreichische Verwaltung durchaus kompetent gewesen zu sein – wenn auch eigene strategische Ziele eine wesentliche Rolle spielten. So wurde zum Beispiel nicht nur in Straßen und Wasserleitungen investiert, sondern auch in den Bau großer Kasernen. Aber in der Wahrnehmung der nach einem geeinten und selbstständigen Reich für die Südslawen strebenden Männer und Frauen traten diese Aspekte in den Hintergrund.

Für Franz Ferdinand, seit dem Selbstmord seines Cousins Rudolf 1889 Thronfolger, war die Reise bislang erfreulich verlaufen. Am Vortag hatten er und seine Frau den Bazar in Sarajevo besucht, und die Bürger begegneten ihnen freundlich. Der 28. Juni war ein besonderes Datum: Für den Erzherzog jährte sich der Tag, an dem er, um Sophie Chotek von Chotkowa und Wognin heiraten zu können, im Jahr 1900 für ihre gemeinsamen Kinder auf die Thronfolge verzichtet hatte. Geheiratet hatten Franz Ferdinand und Sophie wenige Tage später, am 1. Juli 1900. Die morganatische Ehe, die nach Ansicht der Biografen in Liebe geschlossen worden war, hatte zu einem tiefen Zerwürfnis mit Kaiser Franz Joseph I. geführt. Das mehr als kühle Verhältnis sollte später die Trauerfeier nach dem Attentat deutlich widerspiegeln.

Zudem ist der 28. Juni der Sankt-Veits-Tag (Vidovdan) – und damit auch für viele Serben ein spezielles Datum, nämlich ein Tag der nationalen Trauer, des Opfers und der Erinnerung an den Kampf gegen die osmanische Fremdherrschaft. In die zahlreichen Freudenfeuer, die – ursprünglich für den Sankt-Veits-Tag vorbereitet – am Abend entzündet wurden, mischte sich der Jubel über den vermeintlichen Tyrannenmord. Die Wahl des Tages für den Besuch war jedoch Zufall – und damit zugleich Ausdruck einer gewissen Unwissenheit und Ignoranz des Herrscherhauses in Bezug auf die Lage vor Ort.

Die tödlichen Schüsse

Das Attentat beschäftigt die Menschen bis heute auch deshalb, weil es zu einer fast unglaublichen Aneinanderreihung von Missgeschicken und Zufällen kam. Sieben unmittelbare Attentatshelfer waren in Sarajevo: Sechs hatten sich entlang der vorgesehenen Route postiert, der siebte, Danilo Ilić, hielt den Kontakt zwischen den sechs jungen Männern aufrecht. Alle waren mit Pistolen oder Bomben bewaffnet – und mit Gift, um sich nach dem erfolgreichen Attentat das Leben zu nehmen.

Was dann geschah, kann sehr knapp erzählt werden: Die ersten beiden Mitglieder des Kommandos hatten entweder nicht den Mut, Skrupel oder nicht die Gelegenheit, den Mord zu begehen. Der dritte, Nedeljko Čabrinović, zündete eine kleine Bombe und warf sie in Richtung des Automobils, in dem Franz Ferdinand, Sophie, General Potiorek und Franz Graf von Harrach saßen. Harrach war der Besitzer des schmucken Doppelphaetons, der heute in Wien im Heeresgeschichtlichen Museum ausgestellt wird. Die Bombe prallte ab und explodierte unter dem nachfolgenden Fahrzeug. Neben einigen Passanten wurde auch Oberst Erik von Merizzi, Potioreks Adjutant, leicht verletzt. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass es keine Schwerverletzten gab, entschied Franz Ferdinand, die Fahrt zum Rathaus fortzusetzen.

Nach dem Empfang durch den Bürgermeister änderten der Erzherzog und seine Ehefrau jedoch ihren Plan: Zunächst sollte der verletzte Merizzi im Krankenhaus besucht werden. Da die Chauffeure nichts von der Änderung der Route erfahren hatten, nahmen die Wagen zunächst die ursprüngliche Route wieder auf – und wurden von Potiorek zurückgerufen. Während die Fahrer rangierten, kam der Wagen, in dem Franz Ferdinand, seine Frau und General Potiorek saßen, direkt vor Gavrilo Princip, einem weiteren Attentäter, zum Stehen. Harrach, der einen weiteren Anschlag befürchtet hatte, stand auf dem Trittbrett, um den Thronfolger zu schützen. Doch er stand auf der dem Attentäter entfernten Seite des Automobils. Princip trat einen Schritt vor und tötete mit zwei Schüssen Sophie und Franz Ferdinand.

Die Ermittlungen

Der Attentäter wurde rasch überwältigt und von empörten Umstehenden zusammengeschlagen – das Zyankali konnte er zwar noch schlucken, doch wie bei Čabrinović trat die tödliche Wirkung nicht ein. Beide wurden verhaftet, genauso wie innerhalb weniger Tage die übrigen Mitverschwörer. Bereits am Attentatstag selbst begannen unter dem österreichischen Untersuchungsrichter Leo Pfeffer die Verhöre.

Autoren älterer wie neuerer Publikationen zum Thema stimmen darin überein, dass es den Attentätern gelang, die Rekonstruktion der Hintergründe zu verschleiern. Eher durch Zufall erreichten die Ermittler einen Durchbruch: Nachdem Danilo Ilić am 1. Juli – im Rahmen der Befragung aller Zeugen – gefasst worden war, schlug er einen Handel vor und gab wertvolle Hinweise preis. Während Princip und Čabrinović bis zum Prozessende versuchten, als Einzeltäter zu erscheinen, tauchten immer mehr Indizien auf, die auf eine Beteiligung des serbischen Geheimdienstes und der ihm eng verbundenen Geheimorganisation "Schwarze Hand" hinwiesen.

Die "Schwarze Hand" war im Mai 1911 gegründet worden und bildete Guerillakämpfer und Saboteure aus – mit dem Ziel, auf gewaltsamem Wege ein Groß-Serbien zu erschaffen. Zwar war die enge Verbindung zur Regierung (unter Premierminister Nikola Pašić) zerbrochen, aber dennoch blieb Letztere sehr gut darüber informiert, was in der Geheimorganisation vor sich ging. Die Beteiligung von Geheimorganisationen, unter ihnen auch Mlada Bosna ("Junges Bosnien"), als deren Mitglied Gavrilo Princip gilt, erschwert die Forschung bis heute. Denn zum Wesen einer geheim operierenden Gruppe gehört es, möglichst keine schriftlichen Dokumente zu hinterlassen. Und wo klare Beweise fehlen, können Vermutungen und Legenden blühen.

Für die österreichische Regierung schien es eine ausgemachte Sache, dass hinter dem Attentat die Regierung in Belgrad stand. Daraus leitete sich das Ultimatum ab, das am 23. Juli, also knapp vier Wochen später, an Serbien übergeben wurde und das den Mechanismus von Mobilmachungen und Kriegserklärungen in Gang setzte. Die serbische Regierung entsprach in zwei Punkten den Forderungen Österreich-Ungarns nicht, weil sie die Souveränität Serbiens dadurch eingeschränkt sah: Eine Beteiligung österreichisch-ungarischer Regierungsstellen an der gerichtlichen Untersuchung wurde ebenso abgelehnt wie eine Beteiligung an der Verfolgung der "subversiven Bewegungen", die gegen die Habsburgermonarchie kämpften.

Der tatsächliche Einfluss der serbischen Regierung bei der Planung des Mordes ist bis heute nicht eindeutig geklärt. In dem Standardwerk, der Enzyklopädie Erster Weltkrieg, heißt es, dass ein Engagement des serbischen Geheimdienstes unter Leitung von Oberst Dragutin Dimitrijević als sicher gelten kann, eine direkte Beteiligung der Regierung jedoch nicht nachzuweisen ist. Einige Autoren sind der festen Überzeugung, dass die Attentäter ohne Einfluss aus Belgrad agierten, dass es quasi eine "lokale Angelegenheit" gewesen sei. Andere argumentieren dagegen, dass es genau die Absicht des Geheimdienstchefs und der Regierung gewesen sei, ihre Beteiligung zu verschleiern.

Die Attentäter

Wer waren die jungen Männer, die vom serbischen Geheimdienst rekrutiert worden waren? Die drei Kernmitglieder der Attentätergruppe, Gavrilo Princip, Nedeljko Čabrinović und Trifko Grabež, waren zum Zeitpunkt ihrer Anwerbung alle 19 Jahre alt, kamen aus ärmlichen Verhältnissen und hatten zahlreiche Publikationen von sozialistischen, anarchistischen und nationalistischen Autoren rezipiert, Grabež und Princip waren zudem Mitglieder der "Schwarzen Hand". Sie waren schwärmerische junge Männer und verehrten in der serbischen Propaganda zu Heroen stilisierte Attentäter wie Bogdan Žerajić (der 1910 ein erfolgloses Attentat auf den österreichischen Gouverneur in Bosnien und Herzegowina, General Marijan Varešanin, verübt und danach Selbstmord begangen hatte). Ihre Liebe und Loyalität galt Serbien, obwohl sie offiziell Bürger von Österreich-Ungarn waren. Partnerinnen scheint es in ihrem Leben nicht gegeben zu haben, stattdessen Konflikte mit Eltern, Lehrern und Vorgesetzten. Sie waren früh auf sich alleine gestellt, Princip hatte schon sehr jung sein Elternhaus verlassen, um in Sarajevo und Tusla zur Schule zu gehen. In Belgrad, wo sich Princip nach 1912 aufhielt, trafen sie sich in Kaffeehäusern, in denen nach den Balkankriegen ehemalige Kämpfer mit ihren Abenteuern prahlten und die Jugendlichen beeindruckten. Sie boten ihnen Vaterfiguren und Vorbilder. Der Agent der Geheimorganisation, Voja Tankosić, hatte mehr als leichtes Spiel, die Jungen anzuwerben für einen Kampf gegen den vermeintlichen Urheber aller ihrer Sorgen. Princip war ein kleiner, schmaler und schüchterner junger Mann. Und vermutlich waren Princip, Čabrinović und Grabež bereits vor 1914 an Tuberkulose erkrankt, nicht erst infolge dramatisch schlechter Haftbedingungen nach dem Attentat, wie es in vielen Artikeln und Internetquellen dargestellt wird.

Die Autoren, die den serbischen Geheimdienst – und vor allem Dimitrijević – für die treibende Kraft im Hintergrund halten, mutmaßen, dass Franz Ferdinand nicht nur als Repräsentant einer Besatzungsmacht ins Visier geraten war: "Die Auswahl des Erzherzogs steht somit exemplarisch für ein immer wiederkehrendes Motiv in der Logik terroristischer Bewegung, nämlich dass Reformer und Gemäßigte stärker zu fürchten sind als direkte Gegner und Hardliner." Wollten der serbische Geheimdienst und die Politiker die Pläne Franz Ferdinands, "Vereinigte Staaten von Großösterreich" zu schaffen, torpedieren? Selbst wenn es reine Spekulation bleibt, ob der Thronfolger als Herrscher dieses Vorhaben weiterverfolgt hätte, die Verschleierungstaktik sowie das Einsetzen unerfahrener Jünglinge, die von dem Netzwerk wenig wussten, können als Indiz gedeutet werden für weiterreichende Motive. Der für die Attentäter mit Gift aus Belgrad geplante Selbstmord war eine Sicherheitsmaßname, um die Enthüllung der Hintermänner zu erschweren. Für die Attentäter selbst versprach der Suizid die Erhebung zu Märtyrern.

Der Prozess, die Urteile und die Folgen

Vom 12. bis 23. Oktober 1914 fand in Sarajevo der Prozess gegen 25 Angeklagte statt. Der Historiker Joachim Remak betont, dass es ein fairer Prozess gewesen sei, der dem geltenden Recht folgte. Nicht nachvollziehbar sei lediglich, dass keine Vertreter der neutralen Presse zugelassen waren. Die Zahl der Angeklagten umfasste etliche Helfer, deren Beteiligung am Attentat geklärt werden sollte. Personen, die die Revolver und Bomben beschafft, die Princip, Čabrinović und Grabež geholfen hatten, Waffen aus Belgrad nach Sarajevo zu schmuggeln, die ihnen für eine Nacht Unterkunft gewährt oder das Paket mit den Revolvern aufbewahrt hatten. Die Anklage lautete Mord, Beteiligung am Mord (nach geltendem Recht mit gleicher Härte zu ahnden wie Mord) und Hochverrat – schließlich waren die Beschuldigten dem Gesetz nach österreichische Staatsangehörige.

Von den 25 Angeklagten wurden am 29. Oktober 16 verurteilt, davon fünf zum Tode wegen Beihilfe zum Mord und/oder Hochverrat. Neun Angeklagte wurden freigesprochen. Princip, Čabrinović und Grabež wurden in allen Anklagepunkten für schuldig befunden, konnten als Unter-20-Jährige aber nicht mit dem Tode bestraft werden, sie erhielten deshalb die maximal mögliche Haftstrafe von 20 Jahren. Princip betonte zwar, älter zu sein, doch aufgrund fehlender Urkunden ging das Gericht zu seinen Gunsten davon aus, dass er jünger sei. Alle drei starben noch vor Kriegsende im Gefängnis. Von den fünf Todesurteilen wurden zwei in einem höherinstanzlichen Verfahren in hohe Haftstrafen umgewandelt. Die Todesstrafen gegen Danilo Ilić, Veljko Čubrilović und Miško Jovanović wurden am 3. Februar 1915 vollstreckt.

Zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung hatten sich die politischen und militärischen Ereignisse jedoch schon längst verselbstständigt. Bereits am Abend des 28. Juni nahmen mehrere Entwicklungen ihren Ausgang in Sarajevo. Die Leichen von Franz Ferdinand und Sophie wurden über Wien nach Artstetten gebracht. In der dortigen Familiengruft wurde der Erzherzog gemäß seinem Wunsch beigesetzt. Die Biografen sind sich einig, dass es ein Begräbnis dritter Klasse war – in der Kapelle der Wiener Hofburg wurde noch einmal deutlich, wie sehr Kaiser Franz Joseph I. die nicht standesgemäße Ehe missbilligt hatte. Sophies Sarg stand eine Stufe niedriger und wurde nur geschmückt vom Kranz der drei Kinder. Um den Thronfolger als Menschen weinten nur sehr wenige. Als Repräsentant einer Macht, die von inneren Problemen geschüttelt war und schon lange auf eine Gelegenheit gewartet hatte, mit den Serben abzurechnen, eröffnete sein gewaltsamer Tod die Möglichkeit einer gerechten Vergeltung.

Das Urteil der Historiker

Die Mehrheit der Historiker sieht in dem Attentat ein Signal, einen Funken, der ein verheerendes Feuer entfachte. Volker Berghahn hat 1997 in der Reihe "20 Tage im 20. Jahrhundert" den Band über den 28. Juni 1914 verfasst. Von mehr als 300 Seiten entfallen auf die Darstellung des Attentats lediglich zweieinhalb. Deutlicher hätte die These nicht umgesetzt werden können, dass es sich bei dem Anschlag zwar um eine dramatische Szene gehandelt habe, die für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges symptomatisch und wichtig gewesen sei, aber um die Lawine der Gewalt zu erklären, analysiert Berghahn einen Zeitraum von der Jahrhundertwende bis in die späten 1920er Jahre.

Die Historiker haben ein ganzes Bündel langfristiger Ursachen zusammengetragen, um zu erläutern, warum Europa in den Ersten Weltkrieg zog: Imperialismus, Wettrüsten, Konkurrenz der Großmächte, aber auch innere Probleme, die nach außen abgeleitet werden sollten. Einigkeit herrscht darüber, dass das Attentat die Julikrise auslöste. Die österreichisch-ungarische Regierung machte Serbien für den Anschlag verantwortlich. Sie erblickte die Gelegenheit, in einem Krieg den serbischen Nationalismus eindämmen zu können, der in den Provinzen Bosnien und Herzegowina viele Anhänger gefunden hatte. Zugleich sah das Deutsche Reich im Juli 1914 die Chance für einen "Test" gekommen: War Russland als Bündnispartner verlässlich? Russland war nicht nur die Schutzmacht der Serben (und hatte als solche in der bosnischen Annexionskrise 1908 "versagt", als es die Besetzung der beiden Provinzen durch Österreich-Ungarn hingenommen hatte), das Zarenreich war auch Bündnispartner von Frankreich und Großbritannien. Würde Russland – so die Hoffnung der deutscher Politiker und Militärs – Serbien nicht unterstützen, könnte die Entente aus Russland, Frankreich und Großbritannien zerfallen. Auch sahen deutsche Generäle und Politiker den eigenen Rüstungsvorsprung immer geringer werden, sodass ein Krieg besser früher als später geführt werden sollte. Das Deutsche Reich setzte mit hohem Risiko auf die Lokalisierung des Konfliktes – an der besonderen Verantwortung des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns für die Beschleunigung in Richtung Krieg im Juli 1914 besteht kein Zweifel.

Das weitreichende Ultimatum, das Österreich-Ungarn Serbien überbrachte, wurde zu großen Teilen, aber nicht vollständig erfüllt. Österreich-Ungarn erklärte Serbien den Krieg, am 30. Juli machte Russland mobil, am 1. August das Deutsche Reich. Dessen Einmarsch in das neutrale Belgien am 4. August zog den Kriegseintritt Großbritanniens nach sich. Die tödlichen Schüsse in Sarajevo können somit durchaus als Beginn des Ersten Weltkrieges angesehen werden. Die Ursachen für das europäische Blutbad sind jedoch vielfältig und reichen weit zurück. Das Attentat wurde genutzt, um mit kriegerischen Mitteln innenpolitische und internationale Krisen zu lösen. Für den Erhalt des Frieden setzte sich niemand leidenschaftlich ein. Der Krieg galt vielen Zeitgenossen als unvermeidbar und als legitime Fortführung der Politik. Den blutigen Krieg, der sich entwickelte, hat keine der Großmächte gewollt, das unterstreicht der Historiker Gerd Krumeich.

In seinem neuesten Buch regt der britische Historiker Christopher Clark an, die bisherige Forschungsmeinung auf den Kopf zu stellen und die Perspektive zu wechseln. Zunächst einmal sei Serbien der blinde Fleck in der bisherigen Erforschung der Julikrise. Er beurteilt das Attentat als eine kurzfristige Erschütterung, die in den Krieg führte. Ohne diesen Stoß wäre der Krieg im Sommer 1914 vermutlich nicht begonnen worden – und später? Andere Historiker – zum Beispiel Sönke Neitzel – können sich nur ein Verschieben der Katastrophe vorstellen: "Ein glimpflicher Ausgang der Juli-Krise, gleich welches Szenario man dabei zugrunde legt, hätte kein Problem gelöst." Clark hingegen beurteilt die Machtverhältnisse in Europa als überaus fließend. So hält er eine Verschlechterung des russisch-französisch-britischen Verhältnisses für wahrscheinlich. In einer solchen – offeneren – Situation hätten viele friedenssichernde Initiativen greifen können. Also: kein Attentat, kein Krieg.

Die Verklärung

All dies belegt: Die Debatte um die Vorkriegsgeschichte ist auch 100 Jahre später frisch, intensiv und ertragreich. Doch auch die Heldenverehrung ist lebendig, wie der folgende Exkurs zeigt.

Im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien widmen sich zwei Räume der Darstellung des Ersten Weltkrieges. Sie sind momentan geschlossen und werden überarbeitet, um rechtzeitig zum 100. Jahrestag des Kriegsbeginns wiedereröffnet zu werden. Weiterhin zugänglich – und ein erkennbarer Publikumsmagnet – ist der Raum, der die unmittelbare Vorkriegsgeschichte behandelt. Im Zentrum des Raumes ist – von Glas umhüllt – die Chaiselongue ausgestellt, auf der Franz Ferdinand starb. Seine blutbefleckte Uniform liegt darüber, die weißen Handschuhe sorgfältig übereinandergelegt. Ein kleiner Papierpfeil am Kragen weist auf das Einschussloch hin. Ein weiteres bemerkenswertes Objekt in diesem Raum ist das Automobil der Marke Graef & Stift, Baujahr 1910, in dem Franz Ferdinand ermordet wurde. Das Automobil wurde von 1914 bis 1944 in der Feldherrenhalle ausgestellt und bei Kriegsende beschädigt. Seit 1957 ist das Fahrzeug an seinem jetzigen Ausstellungsort zu sehen.

Dieser Raum ist alles andere als die Visualisierung eines unbedeutenden Ereignisses, im Museum wächst das Attentat zur nationalen Katastrophe. Franz Ferdinand erscheint als Hoffnungsträger: "Nach einigen Jahrzehnten zeigte sich aber auch, (…) dass den Forderungen der insgesamt elf größeren Nationalitäten der Donaumonarchie nach freier Entfaltung nur dann entsprochen werden konnte, wenn es zu einem abermaligen und radikalen Umbau an der Struktur des Reiches kam. Die Hoffnung, dass dies gelingen könnte, verband sich in erster Linie mit dem Thronfolger Franz Ferdinand." Die in der Forschung intensiv diskutierte Frage nach den Hintermännern in Serbien findet in der musealen Umsetzung keinen Platz – auch nicht im Katalog. Dort heißt es knapp: "Österreich-Ungarn sah die Ermordung Erzherzog Franz Ferdinands und seiner Frau in Sarajevo als alleinige Schuld Serbiens, die mit der Unterwerfung des Balkanstaates gesühnt werden sollte. Die Donaumonarchie stellte ultimative Forderungen. Serbien machte mobil und erhielt die Unterstützung Russlands. Damit wurde aus einem begrenzten Krieg ein Bündniskrieg."

Andere militärhistorische Museen oder Kriegsmuseen haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass auch in knappe Ausstellungsbeschriftungen und Katalogtexte der aktuelle Forschungsstand einfließen kann. Eine kritische Selbstreflexion findet im Wiener Museum nicht statt: "Von 1908 an wurde Österreich-Ungarn jedoch immer stärker in die Auseinandersetzungen auf dem Balkan hineingezogen." So kann man es auch formulieren.

Die Stilisierung des Thronfolgers – und angedeutet auch Österreich-Ungarns – als Opfer zieht auch andere Heldenverehrer an. Zielstrebig suchen junge Besucher in Wien den Sarajevo-Raum auf. Die Heroisierung des Opfers strahlt ab auf die Täter. Ihre Fotos, Revolver und die Bomben erhalten einen ebensolchen Fetischcharakter wie die blutige Uniform Franz Ferdinands. Doch unreflektierte Heldenverehrung und politische Vereinnahmung des Attentats braucht 100 Jahre nach dem Kriegsbeginn niemand mehr.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. die bereits ältere, aber nach wie vor ergiebige Dissertation des Historikers Joachim Remak, Sarajevo. The Story of a Political Murder, New York 1959, S. 29, Externer Link: http://www.archive.org/details/sarajevothestory010489mbp (17.10.2013). Viele spätere Publikationen beziehen sich mehr oder weniger eindeutig auf Remak, weshalb ich in diesem Artikel Remaks Schilderung der Ereignisse folge. Auch die neueste Forschung stellt seine Ergebnisse nicht infrage: Vgl. etwa Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Krieg zog, München 2013. Diejenigen Autoren – vor allem populärwissenschaftlicher oder journalistischer Texte –, die eine gewisse Sympathie für die bosnische Seite haben (und keine Beteiligung der serbischen Regierung am Attentat erkennen), beziehen sich in der Regel auf den kommunistischen Historiker und engen Vertrauten Titos, Vladimir Dedijer, Die Zeitbombe. Sarajevo 1914, Wien–Frankfurt/M.–Zürich 1967.

  2. Vgl. J. Remak (Anm. 1), S. 31f.

  3. Vgl. ebd., S. 33.

  4. Vgl. ebd., S. 103.

  5. Vgl. ebd., S. 158ff.

  6. Vgl. ebd., S. 132.

  7. Vgl. ebd., S. 136.

  8. Vgl. ebd., S. 139.

  9. Vgl. ebd., S. 183ff.; C. Clark (Anm. 1), S. 493.

  10. Vgl. J. Remak (Anm. 1), S. 44f.

  11. Vgl. ebd., S. 49.

  12. Vgl. Sönke Neitzel, Weltkrieg und Revolution 1914–1918/19, Berlin 2008, S. 21.

  13. Vgl. Markus Pöhlmann, Eintrag "Sarajevo", in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2003, S. 813f.

  14. Vgl. J. Remak (Anm. 1), S. 95; C. Clark (Anm. 1), S. 497.

  15. Vgl. J. Remak (Anm. 1), S. 59.

  16. Vgl. ebd., S. 60 und S. 86.

  17. Vgl. ebd., S. 36.

  18. Vgl. ebd., S. 64.

  19. Vgl. ebd., S. 59ff.

  20. Vgl. ebd., S. 64.

  21. Vgl. Hans Hautmann, Princip in Theresienstadt, in: Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, 20 (2013) 3, S. 1–9, hier: S. 3f.

  22. C. Clark (Anm. 1), S. 81.

  23. Vgl. J. Remak (Anm. 1), S. 56 und S. 66.

  24. Vgl. C. Clark (Anm. 1), S. 86.

  25. Vgl. J. Remak (Anm. 1), S. 212f.

  26. Vgl. ebd., S. 211.

  27. Vgl. ebd., S. 243–246.

  28. Vgl. ebd., S. 169ff. und S. 177f.; Lavender Cassels, Der Erzherzog und sein Mörder. Sarajevo, 28. Juni 1914, Wien–Köln–Graz 1988, S. 263.

  29. Vgl. Volker R. Berghahn, Sarajevo, 28. Juni 1914. Der Untergang des alten Europa, München 1997, S. 9.

  30. Knapp und informativ zum Einstieg: Stig Förster, Vorgeschichte und Ursachen des Ersten Weltkrieges, in: Rainer Rother (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Ereignis und Erinnerung, Berlin 2004, S. 34–41; Sönke Neitzel, Kriegsausbruch. Deutschlands Weg in die Katastrophe 1900–1914, Zürich 2002. Die Forschung wird ausführlich nachgezeichnet von Annika Mombauer, The Origins of the First World War: Controversies and Consensus, London 2002.

  31. Vgl. Gerd Krumeich, Eintrag "Julikrise", in: Enzyklopädie Erster Weltkrieg (Anm. 13), S. 601f.; ders., Juli 1914. Eine Bilanz, Paderborn 2013 (i.E.).

  32. Vgl. ders., Julikrise (Anm. 31).

  33. Vgl. C. Clark (Anm. 1), S. 15.

  34. Vgl. ebd., S. 19.

  35. S. Neitzel (Anm. 12), S. 24.

  36. Vgl. C. Clark (Anm. 1), S. 712f.

  37. Vgl. ebd., S. 710.

  38. Vgl. Manfried Rauchensteiner et al., Das Heeresgeschichtliche Museum in Wien, Graz–Wien 2000, S. 63.

  39. Heeresgeschichtliches Museum Wien, Saalzettel "Franz Joseph-Saal und Sarajewo (1867–1914). Der historische Hintergrund", o.J., Externer Link: http://www.hgm.or.at/fileadmin/Saalzettel/de/Saalzettel_Franz_Joseph_deutsch.pdf (17.10.2013).

  40. M. Rauchensteiner et al. (Anm. 38), S. 64.

  41. Heeresgeschichtliches Museum Wien (Anm. 39).

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Dr. phil., geb. 1962; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Historisches Seminar II, Universitätsstraße 1, 40225 Düsseldorf. E-Mail Link: susanne.brandt@phil.hhu.de