Mitten im Ehrenhof des Berliner Bendlerblocks steht die überlebensgroße Statue eines nackten Jünglings. Der muskulöse, athletische Körper wirkt energiegeladen, der Gesichtsausdruck verrät Willenskraft und Entschlossenheit. Um die Handgelenke sind Fesseln angedeutet, der Ellenbogen des angewinkelten rechten Arms weist, wie zur Abwehr einer Bedrohung, nach vorne. Das Standbild, ein Werk des Bildhauers Richard Scheibe (1879–1964), wurde 1953 in einem feierlichen Akt enthüllt. Es ehrt, angesichts des Standorts kaum überraschend, die Verschwörer des 20. Juli 1944. Im Übrigen ist es, fast bis zur Beliebigkeit, offen für Interpretationen: Trägt die Figur die Züge des Hitler-Attentäters Claus Schenk Graf von Stauffenberg? Symbolisieren die Fesseln die Befreiung vom Joch der Diktatur? Oder doch das tragische Scheitern des deutschen Widerstands?
Die Weigerung des Bildhauers, nach außen ein klares Bekenntnis abzugeben, erscheint heute schwer verständlich, ergab aber 1953 unmittelbar Sinn. Knapp zehn Jahre nach dem Attentat war der 20. Juli noch nicht Symboldatum für den Freiheitswillen des "besseren" Deutschland, sondern ein Politikum, an dem sich die Geister schieden. "Attentat" – das deutsche Wort wird bei uns fast zwangsläufig in einem Atemzug mit den Verschwörern um Stauffenberg genannt. Zurück geht der Begriff, der im Deutschen zuerst im 16. Jahrhundert auftaucht, über den Umweg des Französischen auf ein lateinisches Wort: attemptare bedeutet "versuchen"; in der Sprache der römischen Juristen meint attemptatio oder attentatio die versuchte Ausführung eines Rechtsbruchs.
Im Auge des Betrachters
Die zeitgenössische Diskussion im Nachkriegsdeutschland um den Stauffenberg-Anschlag rührt an ein Problem, vor dem alle Attentäter früher oder später stehen und das auch die Verschwörer des 20. Juli nicht losließ, so lange sie ihre Tat planten: Wann darf man einen Menschen töten, wann ist ein Mord legitim?
Die Verschwörer selbst und das demokratische Deutschland nach 1945 fanden nach einigem Überlegen jeweils zur gleichen Lösung: Wenn ein Machthaber seine Stellung missbraucht, wenn er verantwortlich ist für millionenfaches Sterben, für den Ruin nicht nur eines Landes, sondern eines ganzen Kontinents, dann ist sein Tod von der Hand eines Attentäters nicht nur hinzunehmen, sondern ethisch geradezu geboten.
Ähnlich hatte schon Friedrich Schiller in seinem "Wilhelm Tell" (1804) die Legitimitätsfrage beantwortet: Tell entschließt sich erst zum Mord an Gessler, nachdem sich der kaiserliche Vogt in vier langen Akten immer wieder als grausamer Despot erwiesen hatte. Als Johann, Herzog von Österreich und wegen des Mordes an seinem Onkel König Albrecht I. (1308) Parricida (Verwandtenmörder) genannt, im Gespräch mit Tell die Bluttaten auf eine Stufe stellen will, antwortet ihm der Schweizer: "Darfst du der Ehrsucht blut’ge Schuld vermengen/Mit der gerechten Notwehr eines Vaters?/Hast du der Kinder liebes Haupt verteidigt?", und er folgert: "Nichts theil’ ich mit dir – Gemordet/Hast du, ich hab mein Teuerstes verteidigt."
Der gerecht handelnde Tyrannenmörder ist nicht nur ein Typus der Literatur, sondern der Weltgeschichte. Seine Urbilder sind die Freunde Hermodios und Aristogeiton, die im Juli 514 v. Chr. einen Mordanschlag auf die Athener Tyrannen Hippias und Hipparchos verübten. Tyrannos war für die Griechen keine negativ behaftete Vokabel für einen Gewaltherrscher, sondern bezeichnete ganz nüchtern einen Mann aus vornehmer Familie, der es geschafft hatte, den inneraristokratischen Machtkampf, der im 6. Jahrhundert v. Chr. in vielen griechischen Poleis tobte, für sich zu entscheiden. So hatte sich Peisistratos, Hippias’ und Hipparchos’ Vater, nach mehreren Anläufen um 545 v. Chr. gegen seine Konkurrenten durchgesetzt; 527 v. Chr. waren ihm seine Söhne in der Herrschaft nachgefolgt. Während des Panathenäenfestes 514 v. Chr. fiel der jüngere von ihnen, Hipparchos, dem Attentat des Freundespaars zum Opfer. Hippias überlebte, doch wenige Jahre später, 510 v. Chr., stürzte die Tyrannis, und Kleisthenes gab Athen eine neue Verfassung.
Die künstlerischen Fernwirkungen des Werks im sogenannten Strengen Stil reichen bis ins 20. Jahrhundert – genauer: Bis zur Plastik, die Richard Scheibe für den Innenhof des Bendlerblocks schuf. Beiden Standbildern gemein sind die idealisierende Nacktheit, das energische Voranschreiten der Körper und die Betonung der Tat vor ihrem Ergebnis. Wie die athenischen Bildhauer auch, setzte Scheibe der inneren Einstellung seiner Figur ein Denkmal – und er schreckt nicht davor zurück, das große Vorbild zu zitieren. Bei aller scheinbaren Beliebigkeit strahlt der nackte Jüngling im Bendlerblock eine überaus subtile Botschaft aus: Was zählt, ist die Entschlossenheit zum ethisch richtigen Tun, auch wenn es den Ausführenden zum Mörder macht, und auch wenn er scheitert.
Paradoxerweise eigneten sich Hermodios und Aristogeiton wohl weder als Helden der Attischen Demokratie noch als Vorbilder der Verschwörer um Stauffenberg.
Zwei Lehren lassen sich aus der Episode für die historische Bewertung politischer Morde ziehen: Sie sind nicht immer das, was sie zu sein vorgeben, und die Mörder bewirken nicht immer das, was sie bezwecken. Das blutige Beiseiteschaffen von Machthabern gehört zu den bevorzugten Themen politischer Instrumentalisierung, je nach Standpunkt als Dämonisierung oder Glorifizierung: Zwei Attentate auf Wilhelm I. 1878 lieferten Reichskanzler Otto von Bismarck den Vorwand für die Sozialistengesetze, der Mordanschlag auf August von Kotzebue 1819 zog unmittelbar die Karlsbader Beschlüsse nach sich; umgekehrt hängen interessierte Kreise politischen Mördern immer wieder die Gloriole des Tyrannentöter- oder gar Märtyrertums um, vor allem wenn religiöse oder ideologische Motive die Täter leiten, wie bei den RAF-Anschlägen oder jüngst dem islamistischen Terrorismus. Stets also polarisiert die Tat und wird so zum Spielball politischer Interessenlagen. Als was sie in die Geschichte eingeht, hängt maßgeblich davon ab, wer die Deutungshoheit über die Vergangenheit hat. Man stelle sich vor, nicht die Volksherrschaft hätte in Athen obsiegt, sondern Hippias und seine Familie wären an den Schalthebeln der Macht geblieben. Welche Spuren hätten dann wohl Harmodios und Aristogeiton im kollektiven Gedächtnis der Polis hinterlassen?
Leid der Unberechenbarkeit
Noch schwerer wiegt die zweite Folgerung aus der zu Unrecht von der Demokratie vereinnahmten Bluttat: Was Attentäter wollen und was sie mit ihrer Tat bewirken, sind grundsätzlich zwei Paar Schuhe. In der Regel wollen sie "mit einer Kugel die Welt verändern".
Die Ermordung selbst von Persönlichkeiten, denen rund um die Uhr Personenschützer auf den Fersen sind, lässt sich im Prinzip minutiös planen. In dem Moment aber, in dem die Leiche des Opfers erkaltend am Boden liegt, wird eine Ereigniskette in Bewegung gesetzt, die selbst strategisch Hochbegabte unmöglich überblicken können. Das Handeln aller relevanten Akteure ins Kalkül einbeziehen zu wollen, gliche dem Versuch, das Spiel gleich einer ganzen Kompanie von Schachspielern über mindestens ein Dutzend Züge vorauszuberechnen. Die vielen politischen Mordanschlägen innewohnende Dialektik, nach der die Attentäter das genaue Gegenteil von dem erreichten, was sie geplant hatten, enthüllt der Blick auf einen Mordfall, der schon über 2000 Jahre zurückliegt, aber noch heute beispielhaft steht für eine Bluttat, die zwar ihr Opfer fand, politisch aber nicht nur wirkungslos blieb, sondern das Gegenteil von dem erreichte, was die Mörder bezweckt hatten.
Die Rede ist vom Attentat auf Gaius Julius Caesar, dessen Datum, die Iden des März 44 v. Chr., kaum weniger Sinnbildcharakter trägt als der 20. Juli 1944. Caesar war 55 Jahre alt und stand, als dictator perpetuo, im Zenit seiner Macht. Durch das geschickte Schmieden taktischer Bündnisse auf Zeit hatte sich der Spross einer hochadligen, aber verarmten Familie in den innersten Zirkel der römischen Republik emporgearbeitet. Diese Republik ächzte unter dem Machtwillen ehrgeiziger Individuen, die sich nicht mit einer Rolle im kollektiven Herrschaftsapparat der Senatorenschaft abfinden mochten, wie er jahrhundertelang Politik in Rom gestaltet hatte. Caesar war der ehrgeizigste, skrupelloseste und politisch begabteste dieser Männer: 48 v. Chr. war ihm sein größter Widersacher, Pompeius, in einem blutigen Bürgerkrieg unterlegen; in Ägypten hatte der Rivale einen gewaltsamen Tod gefunden.
Zwar musste Caesar noch einzelne Widerstandsnester in den Provinzen niederkämpfen, doch war er praktisch unangefochten im Besitz der alleinigen Macht. Kompatibel mit Verfassungsgrundsätzen und eingespielten politischen Praktiken der Republik war diese Stellung nicht. Caesar ersann den Notbehelf der Diktatur, die er aus der Mottenkiste politischer Institutionen klaubte. Doch die Diktatur, erst recht die "ewige", zeitlich unbefristete (perpetuo), konnte kaum verschleiern, dass Caesar mit seiner ganzen Person quer stand zu den geheiligten Traditionen der Republik – und den Aufstieg anderer Aristokraten, die ebenfalls nach Einfluss strebten, gewissermaßen deckelte. Die lauwarme Geste, mit der er das königliche Diadem, das sein Handlanger Marcus Antonius ihm dargeboten hatte, zurückwies, unterstrich nur, dass der Diktator de facto ein Monarch war.
Genau das setzte seine Gegner, von denen es etliche gab, unter Zugzwang. Ein siegreich aus dem Orient heimkehrender Caesar wäre womöglich noch übermächtiger als es der Diktator im Frühjahr 44 v. Chr. schon war. Deshalb war Gefahr im Verzug, es musste gehandelt werden. Diejenigen, die ihm jetzt nach dem Leben trachteten, kamen – Ironie des Schicksals – alle aus dem Dunstkreis des Machthabers: Die Karriere des Offiziers Gaius Trebonius hatte Caesar systematisch gefördert und ihn schließlich gar zum Konsul wählen lassen; Decimus Brutus durfte in Caesars Kutsche mitreisen und war zum Statthalter der Provinz Gallien ernannt worden; Cassius Longinus war, obwohl er zeitweise mit Pompeius paktiert hatte, unter Caesar zum Legionsbefehlshaber und zum Prätor aufgestiegen; fest versprochen war ihm die Statthalterschaft der wichtigen Provinz Syrien; auch der Vierte im Bunde, Cassius’ Schwager Marcus Brutus, war von Caesar, obwohl eingefleischter Republikaner, mit einer Statthalterschaft ausgezeichnet, zum Prätor ernannt und zum Konsul designiert worden. Zu diesen Männern gesellten sich noch weitere Senatoren aus der zweiten Reihe.
Ausgerechnet im von Pompeius gestifteten Theater auf dem Marsfeld streckten die Verschwörer, angeführt von Cassius, den Diktator mit 23 Messerstichen nieder. Dort verblutete er zu Füßen einer Statue seines Rivalen. Caesar hatte es seinen Mördern leicht gemacht. Seine Leibgarde hatte er, um nicht als Tyrann zu gelten, im Monat zuvor entlassen, warnende Vorzeichen hatte er geflissentlich ignoriert. Die spezifische Anatomie des Caesarmordes als Attentat kennzeichnen das gemeinsame Agieren bei der Ausführung, die krude Gemengelage der Motive und die völlige Planlosigkeit der Verschwörer mit Blick auf das, was nach dem Mord zu geschehen habe. Die Mörder stachen nicht nur deshalb in der Horde zu, um dem Opfer keine Chance zur Gegenwehr und seinen Verbündeten im Senat keine Gelegenheit zum Eingreifen zu geben, sondern auch, um die Blutschuld zu verteilen. Während dem Gesinnungsrepublikaner Brutus wohl sein unbezähmbarer Freiheitswille den Dolch führte, waren die Beweggründe manch anderer weniger hehr: Etliche der Mörder waren gewiss von Caesar enttäuscht, der sie wohl protegiert, aber ihre Karriere nicht so gefördert hatte, wie sie es insgeheim erhofft hatten. Der eine oder andere mochte Caesar gerade seine clementia, seine Milde, gegenüber ehemaligen Weggefährten des Pompeius nicht verziehen haben.
Nach der Bluttat setzten sich die Mörder die phrygische Mütze auf, die sonst Sklaven bei ihrer Freilassung trugen, und riefen den Namen Ciceros. Doch der begeisterte Empfang, mit dem die selbsternannten Befreier fest gerechnet hatten, blieb aus. Die Römer reagierten kühl bis feindselig auf die Tat, alle Türen waren fest verschlossen. In diesem Moment schlug Murphy’s Law gnadenlos zu: Für die Verschwörer ging schief, was irgend schiefgehen konnte. Sie hatten nicht begriffen, dass jedes Machtvakuum sich unverzüglich füllt; und statt selbst Caesars Platz einzunehmen, überließen sie ihren Gegnern die Initiative. Die kleinmütigen Verschwörer suchten Zuflucht auf dem Kapitol und überließen einem anderen die große Bühne.
Jetzt rächte sich, dass sich Brutus gegen Cassius durchgesetzt und vereitelt hatte, dass mit Caesar auch sein mächtigster Gefolgsmann, der Konsul Marcus Antonius, beiseite geschafft wurde. Mit der Autorität seines Amtes brachte Antonius den Staatsschatz und Caesars Testament an sich. Er handelte einen Kompromiss mit den Caesarmördern aus, der diesen Amnestie zusicherte, aber Caesars Amtshandlungen ihre Gültigkeit beließ. Caesars letzter Wille machte jeden römischen Bürger zum Miterben seines kolossalen Vermögens; als diese Tatsache durch Antonius öffentlich wurde, gab es kein Halten mehr: Die Trauer um Caesar sprengte jedes Maß. Darüber hinaus tauchte plötzlich auch noch des Diktators rechtmäßiger Erbe, der erst 18-jährige Gaius Octavius, auf und empfahl sich Caesars alter Anhängerschaft als ihr Sachwalter. Niemand konnte ahnen, dass dieser Jüngling Roms kommender Mann sein würde: Oktavian, der spätere Augustus. Anfangs Antonius’ schärfster Konkurrent, raufte er sich schon 43 v. Chr. mit Caesars ehemaligem Stellvertreter zusammen. Das Nachsehen hatten die Caesarmörder, die im Jahr darauf Antonius und Oktavian bei dem griechischen Ort Philippi unterlagen und untergingen.
Binnen zweier Jahre hatten Cassius, Brutus und ihre Mitverschwörer nicht nur das Überraschungsmoment, das ihnen das Attentat beschert hatte, völlig verspielt; schlimmer noch, der republikanische Freiheitsgedanke, den sie vor sich hergetragen hatten, war diskreditiert. Schuld daran war gewiss ihr politisches Unvermögen. Sie hatten ihre Widersacher und die Verehrung, die Caesar in der breiten Masse genoss, unterschätzt. Doch gab es unzählige Faktoren, die sie unmöglich in ihre Rechnung hatten einbeziehen können: das plötzliche Auftauchen Oktavians, die denkbar unwahrscheinliche Einigung zwischen dem Newcomer und dem alten Polit-Hasen Antonius, Caesars Testament. Am Ende bahnten die Verschwörer ausgerechnet Oktavian den Weg zur Alleinherrschaft. Auf den Trümmern der Republik errichtete er den Prinzipat, das politische System der römischen Kaiserzeit, das, mit einigen Modifikationen, bis zum Anbruch des Mittelalters Bestand haben sollte.
Macht der Ohnmächtigen
Mit der dialektischen Verkehrung ihrer Ziele ins krasse Gegenteil standen die Caesarmörder historisch keineswegs allein. So mündete das Morden der Roten Brigaden in Italien und der RAF in Deutschland in beiden Ländern nicht in einer Revolution, sondern in einen Burgfrieden der Demokraten.
Und selbst die "Fememorde" an Matthias Erzberger (1921) und Walter Rathenau (1922), die gemeinsam mit der Hyperinflation die fast schon tödliche erste Krise der Weimarer Republik markierten, schweißten erst einmal alle Kräfte zusammen, die, von der SPD bis zur nationalliberalen Deutschen Volkspartei, bereit waren, die Republik zu tragen.
Wenn also der politische Nutzen von Morden selbst bei gelungener Ausführung zweifelhaft ist, was motiviert dann Attentäter zu ihrem Handeln? Und lässt sich überhaupt so etwas wie eine "Theorie" des Attentats formulieren, die es vermag, die unzähligen Erscheinungsformen auf wenige prägnante Nenner zu bringen? Die einschlägige Literatur hat sich immer wieder an Typologien versucht. So unterscheidet der Journalist und Sachbuchautor Sven Felix Kellerhoff zwischen sechs Kategorien von Attentätern: verwirrten sowie idealistischen Einzeltätern, religiösen Eiferern, gedungenen Mördern, Vollstreckern von Verschwörungen und politischen Terroristen.
Will man indes den historischen Mechanismus von Attentaten verstehen, dann hilft das Studium der Attentäter weniger als ein analytischer Blick auf die Gesellschaften, in denen sie handeln. Gibt es Situationen und Milieus, in denen Attentate gehäuft auftreten? Gibt es umgekehrt gesellschaftliche Systeme, die relativ immun sind gegen politisch motivierte Anschläge? Eine statistische Untersuchung historischer Attentate und ihrer Verteilung steht noch aus, doch scheinen sich selbst bei oberflächlicher Betrachtung bestimmte politische Formationen herauszuschälen, die besonders anfällig waren und sind für das Wirken von Attentätern: zunächst Systeme wie Diktaturen und Monarchien, in denen Einzelpersonen eine herausragende, gerade auch symbolische Rolle spielen; dann Systeme in historischen Umbruchperioden und Krisen; schließlich Gesellschaften mit ungewöhnlich hohem Polarisierungsgrad zwischen verschiedenen – politischen, ethnischen, religiösen, sozialen – Gruppen.
Trifft mehr als eines dieser Merkmale auf eine Gesellschaft zu, dann ist sie potenziell anfällig für politisches Assassinentum: so etwa die europäischen Monarchien zwischen der Französischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg, besonders jene mit ungelösten nationalen Fragen, diktatorische Regime in der sogenannten Dritten Welt, in Deutschland die Weimarer Republik, die USA während des Sezessionskrieges und der Reconstruction.
Wenig anfällig hingegen waren die kaum personalisierten sozialistischen Systeme im ehemaligen Ostblock. Gleiches gilt heute meist für die Demokratien westlicher Prägung, wenngleich hier Ausnahmen die Regel bestätigen: So häuften sich politisch motivierte Anschläge in den USA und in anderen westlichen Demokratien vor dem Hintergrund politisch-sozialer Krisen.
Die Norm aber sind Attentate in Gesellschaften im Umbruch, mit hochgradig personalisierten politischen Systemen, in denen Anschläge auf politisch exponierte Individuen enormer Symbolwert zukommt und in denen Minderheiten und an den Rand Gedrängte oft scheinbar keine andere Wahl haben, als zu versuchen, ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen. Anschläge sind per definitionem asymmetrische Akte, besonders dann, wenn ein Einzeltäter aus dem Hinterhalt auf eine öffentliche Person zielt, in deren Rücken die geballte Staatsmacht steht. Sie sind aber auch fast immer Symptome gesellschaftlicher Asymmetrien: Wenn Krieg die "Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" ist (Carl von Clausewitz), dann ist das Attentat nicht selten die Fortsetzung der Revolution: der sich eruptiv entladende Zorn der Ohnmächtigen.
Asymmetrie, Personalisierung, symbolische Aufladung, politischer Umbruch und extreme Polarisierung waren auch die Zutaten des Attentats von Sarajevo, dem am 28. Juni 1914 der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand zum Opfer fiel. Mit Bedacht hatte sich die Attentätergruppe um den bosnischen Serben Gavrilo Princip den Erzherzog zum Ziel erkoren, der wie kein anderer für einen deutschnationalen Kurs in der Donaumonarchie stand. Mit Bedacht war auch das Datum des Attentats gewählt: Der Sankt-Veits-Tag war das Datum der legendären Schlacht auf dem Amselfeld, in der 1389 ein serbisches Heer unter ihrem König Lazar den Osmanen unterlegen war; am selben Tag hatte 1878 Österreich-Ungarn auf dem Berliner Kongress das Mandat für die Besetzung Bosnien-Herzegowinas erhalten. Die ungelösten nationalen Fragen auf dem Balkan, die Ohnmachtsgefühle einer aufsteigenden serbischen Bildungselite, die symbolische Bedeutung des Opfers wie des Morddatums – all das materialisierte sich in der Revolverkugel, mit der Gavrilo Princip den Ersten Weltkrieg auslöste.
Das Muster, dass Polarisierung, Asymmetrie und Symbolwert von Anschlagzielen zu Attentaten förmlich einladen, findet sich in der globalisierten Weltgesellschaft unserer Tage in den tausendfach potenzierten Morden des 11. September 2001 wieder. Im 21. Jahrhundert zielt die Kugel des Attentäters oft nicht mehr auf Individuen, sondern, vor dem Hintergrund politischer Entpersonalisierung und neuer technischer Möglichkeiten, auf Infrastruktur und große Menschenansammlungen, bis hin zur für Terror-Netzwerke vom Schlage al-Qaidas prinzipiell zu bewerkstelligenden Auslöschung ganzer Großstädte. Doch auch der moderne Attentäter kann, so wenig wie einst die Caesarmörder, in die Zukunft blicken: Wie einst die Nachwelt seine Tat beurteilen und was er mit ihr bewirken wird, entzieht sich seinem Zugriff.