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"Neuausrichtung" ohne Regierungskunst | Bundeswehr | bpb.de

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"Neuausrichtung" ohne Regierungskunst

Klaus Naumann

/ 17 Minuten zu lesen

In verschiedenen Reformschüben hat die Bundeswehr in den vergangenen 20 Jahren ihr Gesicht verändert, aber keiner der vorangegangenen Eingriffe kommt der unter Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg angelaufenen und von seinem Amtsnachfolger Thomas de Maizière ausbuchstabierten "Neuausrichtung" gleich. Wie schon von der Weizsäcker-Kommission der rot-grünen Bundesregierung 2001 gefordert, ist nun endlich alles – und zwar gleichzeitig – auf den Prüfstand geraten. Seit gut zwei Jahren werden die Streitkräfte, das Ministerium und die Zivilverwaltung umgebaut. Ein – gewiss nur vorläufiges – Ende dieses Prozesses ist für die Zeit "nach 2017" anvisiert. Knapp gesagt, die Bundeswehr soll kleiner, effektiver und letztlich auch kostengünstiger werden. Die Meinungen über die Erfolgschancen dieses Unternehmens gehen weit auseinander. Skepsis überwiegt, man spricht von einer "Quadratur des Kreises", aber andere wollen auch eine "stille Revolution" wahrgenommen haben.

Angesichts einer knapp 250.000 Personen umfassenden, mit einem 33 Milliarden Euro schweren Etat ausgestatteten und in mehrere Auslandseinsätzen eingebundenen Großorganisation ist das Vorhaben eine Herausforderung an das "Change Management", die ihresgleichen sucht. Die Störanfälligkeit eines solchen Prozesses ist beträchtlich. Davon kündet die weit verbreitete Unzufriedenheit unter den Führungskräften der Bundeswehr ebenso wie die jüngste Debatte über das Rüstungsprojekt "Euro Hawk". Angemessen analysieren und bewerten lassen sich diese Vorgänge letztlich nur dann, wenn man sie in den Kontext einer grundlegend veränderten sicherheitspolitischen Landschaft stellt, denn es sind die Rahmen- und Wirkungsbedingungen, die letztlich über das Schicksal dieser Strukturreform entscheiden.

Mit dem Übergang von der Landesverteidigung zur globalen Sicherheitsvorsorge, der mit den aktuellen Verteidigungspolitischen Richtlinien von Mai 2011 noch einmal bekräftigt worden ist, haben sich unter der Hand die politischen Parameter verschoben. Bei normativ und institutionell weitestgehend unveränderter Rahmung hat sich die Materie grundlegend verändert. Das beginnt mit der Legitimationsfrage (Was ist der Sinn des Ganzen?), greift über auf die – gelegentlich ins Ungefähre weisenden – Kontexte (Wie "erweitert" ist unser Verständnis von Sicherheit?), trifft dann auf die veränderte "Wertigkeit" des Gewalteinsatzes (Welche Dosierung ist wofür angemessen?) und seine umstrittene Einbettung in ein "vernetztes" Repertoire von sicherheitspolitisch relevanten Instrumentarien (Wie kann das Zusammenhandeln unterschiedlicher Akteursgruppen gelingen?), setzt sich fort in den veränderten Maßstäben "erfolgreicher" und "wirksamer" Einsätze (Wie gut ist gut genug?), spiegelt sich in den Herausforderungen und Zwängen multilateraler Handlungsstrukturen (Wie stehen nationale Vorbehalte und kollektive Verpflichtungen beziehungsweise Abhängigkeiten zueinander?) und kommt bei den Fragen der Strukturen, Ausrüstungen und Beschaffungen (Muss man alles selbst vorhalten? Was kann/will man sich leisten?) noch längst nicht zur Ruhe. Im militärischen Raum spricht man davon, den Transfer von Politik in Taktik, also das auftragsgerechte Agieren der bewaffneten Macht zu optimieren; in betriebswirtschaftlicher Perspektive wird gefordert, Strukturen und Prozesse zu effektivieren. Tatsächlich sind beide Anschauungen nur bedingt zutreffend. Zu Recht hat Verteidigungsminister de Maizière daher von einer "gesamtstaatlichen Aufgabe" gesprochen, dabei aber versäumt, ausreichend zu betonen, dass diese Reform wie die dazu gehörigen Grundsatzdokumente auf seinen Ressortbereich beschränkt geblieben sind.

Die Reform ist also mit einem beträchtlichen Komplexitätsproblem und hohen institutionellen Hürden konfrontiert. Zudem werfen die Auslandseinsätze sowie der Wechsel der Wehrform, die Standortschließungen, die Schließung oder Verlegung von Dienststellen und der anhaltende Beförderungsstau gravierende Akzeptanz- und Legitimationsprobleme auf. Das alles verlangt Prozessdenken und strategische Kommunikation – und zwar auf allen Ebenen des sicherheitspolitischen Geschäfts. Ein Verständnis des Reformprozesses erschließt sich dann, wenn man das Ineinandergreifen, aber auch die Reibungen in der dreigliedrigen Struktur von Sicherheitspolitik im Zusammenhang betrachtet. Auf der institutionell-operativen Ebene geht es um die Umsetzung der "Neuausrichtung", die sich im magischen Dreieck von Einsatzfähigkeit, Demografiefestigkeit und Finanzierbarkeit bewegt; in einer erweiterten gesamtpolitischen Perspektive gesellen sich Probleme der interministeriellen Kooperation sowie der multilateralen Einbettung hinzu; und auf der gesellschaftlich-politischen Ebene ist die Reform mit inneren wie äußeren Akzeptanz- und Legitimationsproblemen konfrontiert. Erst die Zusammenschau dieser Aspekte vermittelt eine Anschauung davon, was es mit "Sicherheitspolitik" auf sich hat. Es wird zu zeigen sein, wie scheinbar hausgemachte Probleme der verschiedenen Handlungsebenen aufeinander verweisen und so das integrierte Denken und Handeln der beteiligten Akteure zu einer zentralen Erfolgs- und Wirkungsbedingung der Reform machen. Gleichwohl enthält dieses Interaktionsgefüge auch ein Warnsignal: Wer sich auf das weitläufige Terrain der "Sicherheit" begibt, riskiert die Erschütterung vieler eingespielter Regularien, Prozeduren, Institutionen und Normen der Politik. Sicherheitspolitik heute bedarf also einer entwickelten Regierungskunst.

Institutionell-operative Ebene – Akteure oder Bürokraten?

Die Ausgangs- und Ablaufpunkte der institutionell-operativen Ebene sind weniger die Lageanalyse, die Bestimmung von Auftrag und Aufgabe, die strategische Rahmung und die entsprechende Kongruenz von Zwecken, Zielen und Mitteln. Das ist zwar so auf dem Papier, und gewiss ist das auch nicht frei erfunden; aber neu sind viele der – beispielsweise in den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 2011 genannten – Rahmendaten und -überlegungen nicht. Die entscheidenden Determinanten beziehungsweise Treiber des institutionellen Prozesses liegen auf anderen Ebenen. Dabei geht es im Wesentlichen um das schon erwähnte Dreigespann aus Einsatzfähigkeit, Finanzierbarkeit und Demografiefestigkeit, die gleichsam die abrechenbaren Größen des Reformprozesses bereitstellen. Diese Parameter sind jedoch letzten Endes der Ausdruck von vor- und übergeordneten politischen Primärentscheidungen. Diese kreisen um Schlüsselkonzepte wie "Sicherheitsvorsorge" oder "Sicherheitsgestaltung", "Selbstbehauptung", "Bündnis- und Handlungsfähigkeit".

Das sind die eigentlich starken politischen Prämissen der Auftragsdefinition, der Aufgabenbeschreibung und der "nationalen Zielvorgabe". Aus ihnen ergeben sich die politischen Zielvorgaben sowie die politischen Zahlen (wie etwa die Stärkeziffer "170.000+") und andere Daten des Gesamtprozesses. Mit anderen Worten, im Mittelpunkt der "Neuausrichtung" der Bundeswehr steht ein ganz bestimmtes Bild von der wünschenswerten deutschen Rolle als Mittel-, Bündnis- und Handelsmacht im europäischen und globalen Kontext. Aber das hat seinen Preis. Denn das politische Kalkül geht notwendigerweise in den Reformprozess ein und macht ihn zu einer Rechnung mit diversen Unbekannten. Die Auswirkungen finden sich bei allen drei genannten Parametern.

Die Realisierung einer so begründeten Einsatzfähigkeit verlangt eine politisch gewünschte Truppen- und Einsatzstärke, ein spezifisches Einsatzprofil der Streitkräfte insgesamt ("Breite vor Tiefe"), eine entsprechende Ausrüstung und die Steigerung der Durchhaltefähigkeit. Besonders die beiden zuletzt genannten Ziele müssen freilich mit erheblichen Unwägbarkeiten rechnen. Was die Ausrüstung der Streitkräfte betrifft, so verweist das "Euro Hawk"-Debakel (nach den vorausgegangenen Mängeln im Afghanistan-Einsatz) einmal mehr darauf, wie problematisch das Beschaffungssystem der Bundeswehr ist. Die Investitionsquote für Neuanschaffungen ist gering; aber das Problem liegt hier im System, nicht primär in der Höhe der Finanzzuflüsse. Leichtfertige Vertragsgestaltungen gegenüber der Industrie sowie ein "Geflecht aus Kontrolle und Misstrauen" zwischen Politik, Zivilverwaltung und Militär sorgen seit Jahren dafür, dass Termine nicht eingehalten, Kosten überschritten und Regressansprüche nicht abgesichert werden – eine Struktur, die der Bundesrechnungshof zuletzt als mangelnde "Verantwortungskultur" gebrandmarkt hat. Die bloße Zusammenlegung der bisher beteiligten Behörden zu einem Rüstungsamt, die nun vollzogen wird (der Sprung zu einer unabhängigen Agentur wurde nicht gewagt), wird nicht ausreichen, die bürokratischen Hürden des Beschaffungswesens abzutragen. Die Zwischenbilanz ist besorgniserregend. Der zähe Abbau von Altlasten und der stockende Zufluss der Neuanschaffungen drängen die Bundeswehr gelegentlich an die Grenzen der Interoperabilität. Hinter dieser Problematik lauert noch eine weitere, die den gesamtpolitischen Aspekt der Reform betrifft. Die europäische Kooperation bei Rüstung und Nutzung ist dramatisch unterentwickelt, so dass nicht einmal sicher gestellt ist, dass die Fähigkeiten, auf die Deutschland verzichtet (oder verzichten will), von anderen Partnern verlässlich vorgehalten werden (und umgekehrt).

Ebenso große Zweifel bestehen, zumal unter den Führungskräften der Bundeswehr, ob das Ziel verbesserter Durchhaltefähigkeit der Streitkräfte im Einsatz tatsächlich eingelöst werden kann. Diese Sicht wird im Verteidigungsministerium im Prinzip geteilt. Hier propagiert man die Befähigung zur Übernahme von Führungsverantwortung als "Rahmennation" bei multilateralen Einsätzen als einen Hebel, um die – ansonsten fragliche – Durchhaltefähigkeit extern bei den übrigen Truppenstellern künftiger Einsätze einzuwerben. Damit glaubt man, die gewünschte Orientierung "Breite vor Tiefe" durchhalten zu können. Gleichwohl hat sich das Ministerium bisher nicht entschließen können, Deutschland als ständige Rahmennation zu profilieren und entsprechende Kooperationen anzubieten. Die Kernformeln der Umstrukturierung ("nationale Zielvorgabe"; "Breite vor Tiefe") sind also alles andere als eine technische oder militärfachliche Größe; sie bringen vielmehr durch und durch politische Setzungen zum Ausdruck, die einer Vielzahl interner wie externer Wirkungsbedingungen unterliegen.

Einen vergleichbaren Problemfaktor enthält der Parameter Finanzierbarkeit. Bekannt ist der allgegenwärtige Zusatz des sogenannten Haushalts- oder besser gesagt: Finanzkrisenvorbehalts. Hier bewegt sich die "Neuausrichtung" im Teufelskreis zwischen den schon vorhandenen und noch möglichen Einsparvorgaben, der gewünschten Personalstärke, den beabsichtigten Investitionen und dem sicherheitspolitischen Rollenbild. Haushaltspolitisch kann keiner mit gutem Gewissen über das Jahr 2015 hinausblicken, während die Konsolidierung der runderneuerten Streitkräfte erheblich mehr Zeit beanspruchen wird. Den deus ex machina in diesem Unterkapitel liefert zum einen die Stabilitäts- oder Konjunkturhoffnung, zum anderen – wiederum – der Ausbau der Arbeits- und Lastenteilung im Bündnis, der durch das amerikanische Disengagement in Europa noch dringlicher wird. Trifft jedoch auch nur eine dieser beiden Erwartungen nicht ein, schlagen die Auswirkungen unmittelbar auf die Personalstärke, die Einsatzstärke und das Credo "Breite vor Tiefe" durch. Unter diesen Bedingungen würde Deutschland seinen Bündnisbeitrag umgehend neu definieren müssen; zumal dann, wenn angesichts ähnlicher finanz- und bündnispolitischer Ausfälle gerade auch unter den kleineren Partnerstaaten eine neue Runde im Abbau der nationalen Streitkräfte eingeleitet wird. Die sicherheitspolitischen Definitionsaufgaben, die daraus entstehen, sind beträchtlich; Ziele, Zwecke, Mitteleinsatz – alles würde neu durchdacht und justiert werden müssen.

Mit der Vorhersehbarkeit in Sachen Demografiefestigkeit sieht es, trotz aller anders lautenden Bekundungen, nicht sehr viel besser aus. Vielleicht gelingt es, das Kontingent der Freiwillig Wehrdienstleistenden einigermaßen aufzufüllen – aber gilt das auch für die dringend notwendige Anwerbung und Verpflichtung von qualifizierten Zeit- und Berufssoldaten? Ein ausgefeiltes Attraktivitätsprogramm der Bundeswehr lässt ebenso sehr auf sich warten wie ein zufriedenstellendes Reformbegleitgesetz oder ein funktionierendes Personalmanagement. Ist das alles nicht gewährleistet, bleibt es bei Personalengpässen, Überlastungen und einem Beförderungsstau, der wiederum für die Attraktivität der Bundeswehr negativ zu Buche schlägt.

Das eigentlich Interessante an dieser Gemengelage vermeidbarer wie unvermeidbarer Probleme liegt in Folgendem: Die "Neuausrichtung" unterliegt nicht allein internen Widerständen; sie bedarf zu ihrem Erfolg auch grundlegender Weichenstellungen in der Gestaltung der externen Handlungsbedingungen deutscher (und europäischer) Sicherheitspolitik. Schon auf der institutionell-operativen Ebene sind Ministerium und Streitkräfte daher als Akteure gefordert und nicht allein als Exekutoren einer vorgegebenen Roadmap, die nur noch abgearbeitet werden müsste. Akteursqualitäten würden sich beispielsweise darin beweisen, die Unwägbarkeiten des eingeschlagenen Kurses als das zu nehmen und zu benennen, was sie sind – nämlich Gestaltungsaufgaben eines gemeinsamen Vorhabens, das nur dann gelingen kann, wenn seine Nachvollziehbarkeit nach innen wie nach außen gewährleistet ist.

Gesamtpolitische Ebene – Ende der sicherheitspolitischen Monokulturen?

Sicherheit zu gewährleisten ist etwas anderes als Landesverteidigung; an diesem Paradigmenwechsel laborieren die Wehrreformen aller westlichen Staaten. Diese Aufgabenstellung ist nicht monokulturell zu bewältigen, denn sie bedarf vielfältiger Zutaten. Das Militär ist dabei nur eine Komponente unter anderen und noch nicht einmal die entscheidende (wenn auch die gewichtigste!). Doch einen festen Maßstab der Gewichte und Relationen, der sich nach Art des früheren Kräftevergleichs der Militärpotenziale ableiten ließe, gibt es nicht mehr. Zudem ist Sicherheit nur schwer zu qualifizieren; sicher ist letztlich das, was als sicher gilt. Daher sind alle Aufwendungen der Sicherheitsvorsorge sehr viel mehr auf Akzeptanz und Legitimation angewiesen als die Landesverteidigung, die sich auf die Plausibilität "kollektiver Notwehr" berufen konnte. Das heißt nichts anderes, als dass sich die gesamtpolitische Einbettung von Sicherheits- und Militärfragen gravierend verändert hat. Bei der laufenden Strukturreform zeigt sich das vor allem in einer doppelten Umweltabhängigkeit.

Aufwendungen für Rüstungen, Streitkräfte und Militäreinsätze müssen sich zum einen rechtfertigen und abstimmen mit den konkurrierenden Parallelprojekten und -aktionen nicht-militärischer Koakteure (andere Ministerien, Entwicklungsagenturen, Nichtregierungsorganisationen und weitere). Zum anderen hängt die Realisierung der Aufgabenstellung und der Auftragsformulierung davon ab, ob und mit welchen Beiträgen internationale Koakteure mit von der Partie sind. Sicherheitspolitik und Sicherheitsreformen, die nicht kooperativ angelegt sind, haben von vornherein verloren. Doch in beiden Punkten bleibt die deutsche Politik unter ihren Möglichkeiten.

Sicherheitspolitik ist eine umfassende Aufgabe, die "Neuausrichtung" hingegen ist eine reine Ressortreform. Es gibt keine gemeinsame Risikoanalyse, kein ressortübergreifendes sicherheitspolitisches Instrumentarium, kein gemeinsames Lagezentrum und keine integrierten ständigen Planungsstäbe. Daran hat die laufende Strukturreform nichts geändert, auch wenn die fallweisen Kooperationen zwischen den Ministerien, die Entsendung von Repräsentanten, die Einrichtung von Schnittstellen sowie die gemeinsamen aufgabenbezogenen Lehrgänge in den vergangenen Jahren zugenommen haben. Weitgehend tragen diese Maßnahmen Ad-hoc-Charakter. An der Schwerfälligkeit der ministerialen Arbeitsgänge und der ressortspezifischen Arbeitsstile ändern sie wenig; die Ausbildung eines "institutionellen Gedächtnisses", das Erfahrungen speichert und weitergibt, ist schwach entwickelt. Dementsprechend sind die Vorstellungen in den Ministerien, was etwa ein "vernetzter Ansatz" sein soll, welche Bedeutung "Strategie" haben könnte und ob man beides im eigenen Hause überhaupt braucht, völlig unterschiedlich ausgeprägt. Demgegenüber tun sich Bottom-up-Initiativen wie die integrierten Seminare an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik oder die "Common Effort"-Übungen des Deutsch-Niederländischen Korps in Münster schwer, allgemeine Resonanz und Verbindlichkeit zu erzeugen. Kurzum, "die Regierung", die Sicherheit als eine "ressortgemeinsame Aufgabe" und "gemeinschaftliches Projekt" bezeichnet, ist in der Ausgestaltung der Sicherheitspolitik nicht präsent. Einen Sicherheitspolitischen Gipfel beispielsweise, der Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit an einen Tisch bringen könnte, hat es bisher nicht gegeben.

Diese Unentschlossenheit spiegelt sich auch in der Gestaltung der externen Reformbedingungen. Derzeit bewegt sich jede europäische Sicherheitspolitik in einem prekären Dreieck von nationaler Entscheidungssouveränität, militärischer Effektivität und ökonomischer Effizienz. Alles drei zusammen kann keiner der europäischen Staaten mehr gewährleisten; das macht den Kern der europäischen "Verteidigungskrise" (Christian Mölling) aus. Diese Erkenntnis ist in den deutschen Dokumenten und Verlautbarungen angekommen, wenn beispielsweise von der Profilierung zur "Rahmennation" oder vom pooling und sharing der Streitkräfte, Fähigkeiten und Materialien die Rede ist. Doch die deutsche Position bleibt unentschieden; unbestritten ist, dass Deutschland auf seine europäischen Partner angewiesen bleibt, aber wenig handlungsleitend bleibt die Erkenntnis, dass Deutschland – neben Frankreich und Großbritannien – zum Rückgrat der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik geworden ist.

Die Sicherheitspolitik bewegt sich hier in einer Zwickmühle. Die Zielmargen der Strukturreform kann sie nur realisieren, wenn sie mutige Schritte der europäischen Kooperation unternimmt. Ein jeder solcher Schritt würde aber unweigerlich außenpolitische Rollenprobleme aufwerfen und könnte das Narrativ deutscher "Zurückhaltung" in Frage stellen, Entscheidungen über Prioritätssetzungen im militärischen Fähigkeitsspektrum nach sich ziehen und Nachfragen nach den Grenzen des nationalen Entscheidungsvorbehalts und seiner Ausgestaltungen (Parlamentsvorbehalt) provozieren. Solche Unwägbarkeiten sind es, die zugleich auf die gesellschaftlich-politische Ebene der Sicherheitspolitik verweisen.

Gesellschaftlich-politische Dimension – Dialog zwischen Schwerhörigen?

Dass Sicherheitspolitik ein voraussetzungsreiches, kooperations- und legitimationsbedürftiges Geschäft (geworden) ist, hat Auswirkungen nach innen wie nach außen. Die Reformakteure antworten darauf mit Broschüren, Werbemaßnahmen, Reden und Debattenaufrufen. Alles das bleibt punktuell und an der Oberfläche, denn eine systematische und strukturierte "Sicherheitskommunikation" gibt es bislang nicht. Sie müsste reformbegleitende Aussprachen in Ministerium und Streitkräften umfassen, inklusive Maßnahmen zur Ansprache der sicherheitspolitischen Öffentlichkeiten entwickeln und Responsivität im Umgang mit dem Publikum pflegen (und sich nicht hinter Sprachregelungen und restriktiven Geboten verstecken).

Vor allem aber bedarf es eines verbindenden, nachvollziehbaren und zugleich fallbezogen konkreten Narrativs der Sicherheitspolitik, das die Reformentwicklung begleitet, die fortlaufenden Einsätze in ihren Höhen und Tiefen beschreiben kann, den polaren Erfahrungen von Einsatzsoldaten, Veteranen und Entsendegesellschaft gerecht wird und auch in den Niederungen der Konkretion in der Lage ist, die Rückbindung an die übergreifenden Ideen der deutschen Sicherheitspolitik phrasenfrei herzustellen. Eines der entscheidenden Instrumente einer solchen Praxis ist vorhanden, spielt aber in den Reformdokumenten nur eine geringe Rolle – und wird selbst bei jenen Führungskräften kaum als Desiderat benannt, die sich über mangelnde Zielklarheit und Mitwirkungsmöglichkeiten im Reformprozess beschweren: die Organisations- und Führungsphilosophie der Inneren Führung, die auf den mitdenkenden und (das wäre heute fällig) den mitredenden mündigen Soldaten setzt.

Stattdessen verzichtet die politische Führung auf eine kritische und publikumsoffene Auswertung des Afghanistan-Einsatzes. Mehr noch, sie verzichtet darauf, mittels regelmäßiger strategischer Leitdokumente und Zwischenbilanzen Politik, Parlament und Öffentlichkeit mit den Möglichkeiten wie den Unwägbarkeiten der Sicherheitspolitik vertraut zu machen. Damit verspielt sie zugleich die Chance, eine von Gesellschaft, Truppe und Politik geteilte, gemeinsame Sprache zu finden. Das "Euro Hawk"-Debakel war ein weiterer Markstein auf diesem Weg. Weder verstand es der Minister, die anfänglich aufbrechende Debatte über den ethischen, politischen und militärischen Sinn der neuen Waffe als das zu begreifen, was sie der Sache nach war – eine Aufforderung, den strategischen Kurs, die Einsatzziele und die angemessenen Mittel künftiger Auslandsmissionen zu erklären –, noch wurde die anschließende Kontroverse über das Ministerverhalten genutzt, um das seit Jahrzehnten schwelende Strukturproblem der deutschen Beschaffungspolitik zu thematisieren.

Was die Binnenkommunikation betrifft, so ist durch eine Folgebefragung des Deutschen Bundeswehr-Verbandes unter den Führungskräften nicht der Eindruck entstanden, die im vergangenen Jahr erhobene Negativstimmung sei auch nur ansatzweise verändert. Für das "Change Management" ist das eine verheerende Botschaft. Zugleich erstaunt, wie wenig sich die Militärführung über den radikalen Wandel und die neuartigen Herausforderungen an Selbstbild und Professionalität des Soldaten Gedanken zu machen scheint. Die Ausführungen des Generalinspekteurs zum Thema "Soldat sein heute" bleiben blass und konventionell. Die Aufforderung, "unser berufliches Selbstverständnis und unsere Führungskultur weiter(zu)entwickeln", findet Antwort nur in einer Bekräftigung des ohnehin Geläufigen – nur mehr, stärker, besser müsse es sein. Ob und wofür es sich lohnt, das eigene Leben zu riskieren, warum (und wie) man gegebenenfalls kämpfen (und töten) muss, wie man das einer "postheroischen" Gesellschaft vermitteln kann, welche professionellen Fähigkeiten man in den komplexen, militärisch-zivil gemischten Einsätzen braucht, worin der Rollenkern des Soldatenhandwerks heute besteht – alle diese brisanten Fragen finden kaum ein Echo.

Sicherheitskommunikation ist kein Spartenproblem, auf das allein Führungskräfte oder Presse- und Öffentlichkeitsabteilungen das Monopol besäßen; gelingende Binnen- und Außenkommunikation bilden vielmehr eine Einheit, die urteils- und sprachfähige Akteure, genauer noch, die verantwortungsbewusste "Treuhänder" braucht. Auch dafür steht das Modell in Gestalt des "Staatsbürgers in Uniform" bereit, aber auf die Weiterentwicklung und Generalisierung dieses Leitbildes wird wenig Ehrgeiz verwendet. Doch gerade hier liegt einer der entscheidenden Hebel der Verknüpfung der drei Ebenen des Reformprozesses, der mit der "Neuausrichtung" vorangetrieben werden soll. So wie der Verteidigungsminister betont, dass die Strukturreform Ausdruck der deutschen Sicherheitspolitik sei, so können auch die Anforderungen der Sicherheitskommunikation nur auf der Grundlage der neuartigen Anforderungen an die öffentliche Sicherheitsvorsorge begriffen und gemeistert werden. Davon aber scheinen Ministerium wie Streitkräfte noch weit entfernt zu sein. – Die angestoßene Strukturreform ist ehrgeizig und von großer Eingriffstiefe, getragen von hoher Regierungskunst ist sie bisher nicht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zum Rahmen vgl. Ulf von Krause, Die Bundeswehr als Instrument deutscher Außenpolitik, Wiesbaden 2013; Franz-Josef Meiers, Zu neuen Ufern? Die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik in einer Welt des Wandels 1990–2000, Paderborn 2006.

  2. Vgl. etwa Bjoern H. Seibert, A Quiet Revolution. The Reform of the German Armed Forces, in: RUSI Journal, (2012) 1, S. 60–69; Christian Mölling, Für eine sicherheitspolitische Begründung der Bundeswehr. Zehn Punkte für die Reform der Bundeswehr, SWP-Aktuell 20/2011.

  3. Einen Eindruck vermitteln Martin Elbe/Klaus Günther Lange, Ansätze des Change Managements zur Neuausrichtung der Bundeswehr, in: Gregor Richter (Hrsg.), Neuausrichtung der Bundeswehr. Beiträge zur professionellen Führung und Steuerung, Wiesbaden 2012, S. 243–260.

  4. Bundesministerium der Verteidigung, Verteidigungspolitische Richtlinien, Berlin, 27.5.2011.

  5. Zum gesamten Komplex vgl. Klaus Naumann, Der blinde Spiegel. Deutschland im afghanischen Transformationskrieg, Hamburg 2013.

  6. Für Ersteres vgl. Bundesministerium der Verteidigung, Konzeption der Bundeswehr (Berlin, 1.7.2013), für Letzteres vgl. Bericht der Strukturkommission der Bundeswehr unter dem Titel "Vom Einsatz her denken. Konzentration, Flexibilität, Effizienz", Oktober 2010.

  7. Vgl. Tom Dyson, Deutsche Verteidigungspolitik – ein Blick von Außen, in: Ina Wiesner (Hrsg.), Deutsche Verteidigungspolitik, Baden-Baden 2013, S. 375–398.

  8. Der "Bericht zum Stand der Neuausrichtung der Bundeswehr" (Mai 2013) bietet das nur beschränkt; die 200-seitige Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD "Bundeswehr – Armee im Einsatz" (Drucksache 17/13254, 24.4.2013) ist nur für den Fachmann les- und deutbar.

  9. Zum Problemhorizont vgl. Christopher Daase, Wandel der Sicherheitskultur, in: APuZ, (2010) 50, S. 9–16.

  10. Ich greife hier zurück auf meinen Beitrag: "Where is the common sense?" Zur Inneren Führung der Neuausrichtung, in: Jahrbuch Innere Führung 2013, Berlin 2013, S. 311–326.

  11. Vgl. beispielsweise die BMVg-Broschüre "Die Neuausrichtung der Bundeswehr" (März 2012).

  12. Dazu informativ, kritisch und präzise Franz-Josef Meiers, Aufbau, Umbau, Abbau: Die Neuausrichtung der Bundeswehr, in: Österreichische Militär-Zeitschrift, (2012) 3, S. 286–295.

  13. Die dafür geprägte Faustregel lautet, nicht auf alles gleichzeitig sehr gut vorbereitet, aber auf nichts ganz unvorbereitet zu sein. Thomas de Maizière, "Tiefe statt Breite verengt politische Handlungsoptionen", Rede beim 3. Koblenzer Forum zur Verteidigungspolitik, 21.1.2013.

  14. Sehr anschaulich vgl. Johannes Leithäuser, Keine Kosten scheuen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 12.8.2013, S. 3; Eckart Lohse, Keine Verantwortungskultur, in: FAZ vom 25.7.2013, S. 5; Tom Dyson (Anm. 7, S. 383) spricht von einer "Verschwiegenheitskultur".

  15. Vgl. Rede des Bundesverteidigungsministers Thomas de Maizière vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, 14.6.2012; zur Problematik vgl. grundsätzlich Christian Mölling, Deutsche Verteidigungspolitik. Eckpunkte für eine überfällige Debatte, SWP-Aktuell 18/2012.

  16. So der Vorschlag von Christian Mölling, Wege aus der europäischen Verteidigungskrise. Bausteine für eine Verteidigungssektorreform, SWP-Studie 8/2013, S. 31.

  17. Als jüngster Vorschlag vgl. die Bertelsmann-Studie "Der Europäische Mehrwert des EU-Haushalts: Kann die EU den Mitgliedsstaaten sparen helfen?" (Brüssel–Gütersloh 2013) mit dem Unterkapitel "Der fiskalische Mehrwert gemeinsamer europäischer Landstreitkräfte."

  18. Die nächste magische Zahl für die Bundeswehr heißt dann vermutlich 140.000+.

  19. Vgl. Andreas Fölsing, Bundeswehr im zunehmenden Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte, 19.5.2013, Externer Link: http://www.heise.de/tp/artikel/39/39149/1.html (14.8.2013).

  20. Grundlegend vgl. Martin Zapfe, Sicherheitspolitik und Strategiefähigkeit. Die ressortgemeinsame Kooperation der Bundesrepublik Deutschland für Afghanistan, Diss., Konstanz 2011, Externer Link: http://kops.ub.uni-konstanz.de/bitstream/handle/urn:nbn:de:bsz:352-168316/Diss_Zapfe.pdf?sequence=3 (14.8.2013); K. Naumann (Anm. 5), Kap. II.

  21. Vgl. Andreas Wittkowsky et al., Vernetztes Handeln auf dem Prüfstand. Einschätzungen aus den deutschen Ressorts, ZIF Policy Briefing, November 2011.

  22. Vgl. Winrich Kühne, "Common Effort". Das Deutsch-Niederländische Korps übt zivilmilitärische Zusammenarbeit, ZIF Policy Briefing, Mai 2012; wegweisend jetzt Ute Finckh-Krämer et al., Politisches Engagement in Konflikten. Optimierung der Interaktion zwischen zivilen und militärischen Akteuren, ISPSW Strategy Series 253/2013.

  23. Zum Folgenden vgl. Ch. Mölling (Anm. 16).

  24. Beim sharing stellen Partner Fähigkeiten oder Ausrüstungen zur Verfügung (beispielsweise Air Policing im Baltikum); beim pooling wird eigens eine multinationale Struktur eingerichtet (zum Beispiel das Europaen Air Transport Command).

  25. Die drei Staaten zusammen bestreiten 66 Prozent der Verteidigungsausgaben im EU-Raum.

  26. Vgl. Daniel Jacobi et al., Deutschlands Verteidigung am Hindukusch. Ein Fall misslingender Sicherheitskommunikation, in: Klaus Brummer/Stefan Fröhlich (Hrsg.), Zehn Jahre Deutschland in Afghanistan. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Sonderheft 3 (2011), S. 171–196.

  27. Vgl. Christopher Dandeker, From Victory to Success. The Changing Mission of Western Armed Forces, in: Jan Angstroem/Isabelle Duyvesteyn (Hrsg.), Modern War and the Utility of Force. Challenges, Methods and Strategy, London–New York 2010, S. 16–38.

  28. Dieser Eindruck ergibt sich aus den Daten bei Gerd Strohmeier/Christoph John, Militärische Führungskräfte bewerten die Neuausrichtung der Bundeswehr. Zielgruppenbefragung der TU Chemnitz im Auftrag des Deutschen Bundeswehr-Verbandes, September 2012; zur Stimmungslage vgl. schon Jochen Bittner, Haubitzen statt Bambis. In der Bundeswehr tobt ein Kampf der Generationen, 3.3.2010, Externer Link: http://blog.zeit.de/bittner-blog/2010/03/03/haubitzen-statt-bambis_960 (14.8.2013).

  29. Für einen Überblick vgl. Elmar Wiesendahl (Hrsg.), Neue Bundeswehr – neue Innere Führung? Perspektiven und Rahmenbedingungen für die Weiterentwicklung eines Leitbildes, Baden-Baden 2005.

  30. Vgl. dagegen die Debattenbeiträge aus der Stiftung Wissenschaft und Politik: Externer Link: http://www.swp-berlin.org (14.8.2013).

  31. Vgl. aber Hans Rühle, Das Verteidigungsmysterium. Wie kam es zu Thomas de Maizières Drohnen-Debakel?, in: Die Zeit, Nr. 29 vom 11.7.2013; J. Leithäuser (Anm. 14).

  32. Gerd Strohmeier/Christoph John, Militärische Führungskräfte bewerten die Neuausrichtung der Bundeswehr. Zielgruppenbefragung der TU Chemnitz im Auftrag des Deutschen Bundeswehr-Verbandes (zweite Erhebungswelle), Juni 2013.

  33. Generalinspekteur Volker Wieker, Soldat sein heute. Leitgedanken zur Neuausrichtung der Bundeswehr, Mai 2012; vgl. dazu die engagierte Diskussion auf der Website "Bendler-Blog", die einen Eindruck davon gibt, welche Fragen die Soldaten bewegen: Externer Link: http://bendler-blog.de/2012/05/06/soldat-sein-heute-eine-kritik/ (14.8.2013).

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Dr. phil., geb. 1949; Historiker und Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, Mittelweg 36, 20148 Hamburg. E-Mail Link: klaus.naumann@his-online.de