Wenn die Bundeswehr Ende 2014 mit einem großen Teil ihrer Truppen aus Afghanistan zurück ist, wird sie sich verändert haben.
Was eigentlich genau in den internationalen Missionen irgendwo im fernen Land passiert, wissen hierzulande im Detail nur wenige. Während die einen anscheinend "freundliches Desinteresse" bekunden, wie es der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler formulierte, sind sich andere heute angesichts der Afghanistanerfahrung sicher, dass jede Intervention von Streitkräften in Krisenregionen zur Eskalation kriegerischer Gewalt führt. Für Soldatinnen und Soldaten, die mit Auftrag des Parlaments für Frieden und Stabilität in weit entfernten Regionen ihr Leben riskieren, ist das eine verstörende Erfahrung. Im "Heimatdiskurs"
Ein Forscherteam des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, Anfang 2013 in Potsdam mit dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt zum Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr zusammengeführt, begleitet nunmehr seit über drei Jahren die Soldatinnen und Soldaten des 22. deutschen Kontingents ISAF, die überwiegend von März bis Oktober 2010 im Afghanistan-Einsatz waren. Im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Langzeituntersuchung wurden die Kontingentangehörigen zu mehreren Zeitpunkten befragt – von der Vorausbildung über den Einsatz bis hin zur Einsatznachbereitung.
Von "Drinnis" und "Draussis": Verschiedene Erfahrungswelten im Einsatz
Als im März 2010 ein Großteil der Soldatinnen und Soldaten des 22. Kontingents seinen Einsatz in Afghanistan beginnt, befasst sich gerade der Verteidigungsausschuss als parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit dem vom damaligen deutschen Kommandeur des Provinical Reconstruction Team (PRT) Kundus Anfang September 2009 angeordneten Luftschlag auf zwei von Aufständischen entführte Tanklaster, dem auch Zivilisten zum Opfer gefallen waren.
Im Einsatz in Afghanistan hat es das 22. Kontingent mit einer hochkomplexen und mit erheblichen Risiken verbundenen Sicherheitslage zu tun, die jedoch zwischen den Provinzen, in denen die deutschen Soldatinnen und Soldaten eingesetzt sind, erheblich variiert. Bereits in den ersten Einsatzwochen fallen in einem der schwersten Feuergefechte, die die Bundeswehr bis dahin erlebt hatte, drei Soldaten des Kontingents in der Unruheprovinz Kundus. Nur wenige Wochen später sterben vier weitere deutsche Soldaten in der Region Baghlan. Am Ende seines Einsatzes blickt das 22. Kontingent auf schwerwiegende Erfahrungen mit direkter und indirekter Gewalt: Fast die Hälfte des Kontingents (46 Prozent) hat nach eigenen Angaben feindlichen Beschuss erlebt. Mehr als ein Drittel (37 Prozent) gibt an, mit dem Tod von Kameraden konfrontiert worden zu sein, und etwa ein Fünftel (21 Prozent) hat nach eigenen Angaben in Gefechten gegen Aufständische gestanden.
Die Soldatinnen und Soldaten des Kontingents machen in ihrem Einsatz dennoch nicht die gleichen Erfahrungen, und nicht jeder von ihnen ist auch in gleicher Art und Weise von Gewalt betroffen. Die Einsatzwirklichkeit vor Ort ist vielschichtig. Sie differenziert sich in verschiedene Erfahrungswelten, je nachdem, wo die Soldatinnen und Soldaten eingesetzt sind und welche Aufgaben sie dort übernehmen.
Die Erfahrungswelten unterscheiden sich aber nicht nur von Einsatzort zu Einsatzort, sie werden zusätzlich durch die übernommenen Aufgaben bestimmt. Vier von zehn Männern und Frauen (41 Prozent) des Kontingents sind mit Ausbildungs- und Schutzaufgaben betraut. Fast ebenso viele (40 Prozent) haben Unterstützungsaufgaben und weitere 19 Prozent Führungsaufgaben.
Soldatinnen und Soldaten mit Ausbildungs- und Schutzaufgaben haben deshalb nicht nur weit häufiger Kontakt zur Zivilbevölkerung
Hingegen verlassen Führungs- und Unterstützungskräfte, die etwa für Planung und Auswertung, aber auch für Instandsetzung oder den reibungslosen Ablauf des Einsatzes verantwortlich sind, weitaus seltener die geschützte Welt des Feldlagers. Etwa ein Drittel der Unterstützer (35 Prozent) und ein Fünftel (20 Prozent) der Soldatinnen und Soldaten mit Führungsaufgaben verbringen ihren mehrmonatigen Einsatz ausschließlich in der abgeschirmten militärischen Alltagswelt der Feldlager und kommen nie oder allenfalls selten mit Land und Leuten in Kontakt. Vergleichsweise selten geraten sie während ihres Einsatzes in Kampfsituationen (6 Prozent der Führungs- und 8 Prozent der Unterstützungskräfte des Kontingents). Nicht nur die Risiken, sondern auch die Anforderungen und Belastungen unterscheiden sich von daher erheblich. Während die einen mit ständiger Bedrohung, mit Gefechten und Anschlägen, aber auch mit Not und Leid der Bevölkerung konfrontiert sind, müssen andere mit den geringen persönlichen Freiräumen und der ständigen sozialen Kontrolle der Feldlagergemeinschaften zurechtkommen. Beides kann extrem belastend sein, verlangt jedoch jeweils andere Fähigkeiten.
Auch die Soldatinnen und Soldaten selber unterscheiden in den Gesprächen und Interviews zwischen "Drinnis" und "Draussis", zwischen denjenigen, die sich während ihres Einsatzes meist außerhalb der Feldlager bewegen, und denjenigen, die ihren mehrmonatigen Einsatz überwiegend innerhalb der Lager verbringen. Sie beziehen sich damit jedoch nicht nur auf unterschiedliche Anforderungen, Belastungen und Gefahren, sondern geben der Unterscheidung auch eine kulturelle Dimension, die einen wichtigen Bezugspunkt für die Selbstdefinition bildet und gleichzeitig enge Bindungen und Solidarität untereinander schafft.
Gewalterfahrungen aber prägen nicht allein den Horizont der direkt davon Betroffenen, sondern wirken auf das gesamte Kontingent. In asymmetrischen Einsatzszenarien wie in Afghanistan in denen Freund und Feind oftmals nicht klar zu unterscheiden sind, ist die Gefahr nicht allein auf die Kampfsituation begrenzt. Ein Anschlag kann zu jeder Zeit und an jedem Ort passieren. Der Einsatzalltag des Kontingents ist daher durch eine diffuse Bedrohung bestimmt, die auch jene empfinden, die während ihres gesamten Einsatzes das Lager nicht ein Mal verlassen haben.
Von "alter" und "neuer" Bundeswehr: Differenzen zwischen den Generationen
Einschneidende Erfahrungen prägen, und sie können auch verändern. Dies gilt zumal für Erlebnisse mit Gewalt im Einsatz. Sie lassen sich nach der Rückkehr nach Deutschland nicht so einfach abhaken, sondern müssen verarbeitet und in das eigene Selbstbild integriert werden. Die Verarbeitung vollzieht sich meist "nicht nur als innere Selbstbefragung, sondern auch als soziale Vergewisserung".
Für die Bundeswehr ist Pluralität zwar nichts Neues. Im Gegenteil, schon die einzelnen Truppengattungen und Dienstgradgruppen in der Bundeswehr grenzen sich seit jeher voneinander ab, entwickeln eigene Bräuche, Gepflogenheiten und Symbolisierungen als Ausdruck ihrer Identität. Soldatinnen und Soldaten, die in Gefechten kämpften, die Tod und Verwundung erlebten, haben im Einsatz aber Erfahrungen gemacht, die es zuvor in der Bundeswehr in diesem Ausmaß und dieser Qualität nicht gegeben hat. Diese Erfahrungen werden zudem nur selten von höheren militärischen Vorgesetzten geteilt. Über Kampferfahrungen verfügen eher niedrige Dienstgrade bis zur Ebene Kompaniechef und folglich mehr jüngere Soldatinnen und Soldaten: Während 37 Prozent der Mannschaften und 21 Prozent der Feldwebel des Kontingents nach eigenen Angaben in Gefechten gekämpft haben, gilt dies für 13 Prozent der Offiziere, für 9 Prozent der Unteroffiziere o.P. und für 5 Prozent der Stabsoffiziere. Das statistisch berechnete Risiko für Mannschaften im Einsatz in Kämpfe verwickelt zu werden, liegt daher auch um fast das Zehnfache über dem der Stabsoffiziere des Kontingents.
Heute sind es aber überwiegend die Jungen, die von Kämpfen, Tod und Töten, Verwundung und Versehrtheit erzählen. Der Afghanistan-Einsatz hat daher für sie ein erhebliches Identifikationspotenzial. Die unterschiedlichen Erfahrungswelten von höheren Vorgesetzten und der nachrückenden Generation können innerhalb der Bundeswehr einen Generationenkonflikt befördern, der einen Wandel der Organisationskultur anstoßen kann.
Hinzu kommt, dass Soldatinnen und Soldaten in den Einsätzen Situationen bestehen müssen, die mit hohen Anforderungen gerade auch an Vorgesetzte verbunden sind. In komplexen Einsatzszenarien wie in Afghanistan werden von ihnen "Führungsqualitäten der Verantwortungs- und Risikobereitschaft"
Wie sich die Erfahrungen dieser "Generation Einsatz" weiter auf das innere Gefüge und das Selbstverständnis der Bundeswehr auswirken, muss die Zeit zeigen. Nicht alle in dieser Generation bleiben lange in der Bundeswehr, und erst einige von ihnen sind in höhere Führungspositionen vorgedrungen. Weitere haben sich auf den Weg gemacht. Immerhin kann die Bundeswehr, besonders in den Einsatzkompanien, auf ein erfahrenes und selbstbewusstes Unteroffizierkorps blicken. Identitäten und Kulturen von Organisationen aber wandeln sich nur langsam – und sie werden zwischen deren Angehörigen ausgehandelt.
Anerkennung versus Abgrenzung
Einsatzsoldaten kehren in eine Gesellschaft zurück, die von ihrer Situation nur wenig weiß. Die mehrfache "Zwei-Welten-Wahrnehmung" innerhalb der Bundeswehr setzt sich fort in dem Eindruck vieler Soldatinnen und Soldaten, dass ihr Dienst in der Gesellschaft keine angemessene Anerkennung und Würdigung finde. Wer in gefährlichen Einsätzen im Auftrag des Parlaments sein Leben riskiert, wünscht sich Rückhalt von der Politik und der Gesellschaft, deren Werte und Interessen ja in den Einsätzen zu vertreten sind. Wer dahinter jedoch lediglich ein bloß formales Akzeptanz- und Legitimationsproblem vermutet, verfehlt, worum es wirklich geht: um eine Antwort auf die tiefer liegende Frage nach einer (Neu-)Verortung des Verhältnisses von Gesellschaft und Bundeswehr. Die Bindung des Selbstverständnisses an gesellschaftliche Entwicklungen gehört zum Kernbestand der Inneren Führung.
Gesellschaft und Bundeswehr gleichermaßen stehen vor der Aufgabe, ihr Verhältnis neu zu bestimmen. Die Diskussion über den Umgang mit (zivilen wie militärischen) Einsatzrückkehrern und über eine Politik für Veteranen böte hierfür eine gute Gelegenheit. Durch die Beschäftigung mit ihren Erfahrungen und ihrer Situation könnte ein Gegengewicht geschaffen werden zur Distanzierung der Gesellschaft von den Streitkräften. Das wünschen sich in den Gesprächen auch viele Soldatinnen und Soldaten, und zwar meist jenseits eines Diskurses der Heroisierung oder Viktimisierung. Aus der gesellschaftlichen Perspektive gibt es dabei zwei gegenläufige Möglichkeiten des Umgangs mit der Thematik: Während eine Strategie eher auf – auch kritische – Auseinandersetzung und gerade damit auf Anerkennung setzt, wird diese von der anderen um den Preis von Abgrenzung beziehungsweise Abschottung vermieden. Demokratiepolitisch kann Letzteres nicht gewünscht sein.