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Trauerimperativ: Jugendliche und ihr Umgang mit dem Holocaust (-Denkmal) | Geschichte als Instrument | bpb.de

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Trauerimperativ: Jugendliche und ihr Umgang mit dem Holocaust (-Denkmal)

Marion Klein

/ 15 Minuten zu lesen

Seit seiner Eröffnung am 10. Mai 2005 haben schätzungsweise 15 Millionen Menschen das Stelenfeld des Denkmals für die ermordeten Juden Europas und etwa 3,7 Millionen Besucherinnen und Besucher den darunter gelegenen Ort der Information aufgesucht. Ein Großteil davon sind Schülerinnen und Schüler, die im Rahmen einer Exkursion oder Klassenreise zum Denkmal kommen. Was "sehen" beziehungsweise welche Erfahrungen machen die Jugendlichen an, in und mit dieser kulturellen Repräsentation; (wie) setzen sie sich am Beispiel des Denkmals mit dem Holocaust auseinander? Diese Fragen standen im Zentrum einer qualitativen Studie, deren zentrale Ergebnisse im Folgenden vorgestellt werden.

Ausgewiesen als "die zentrale Holocaust-Gedenkstätte Deutschlands" stellt das Denkmal zunächst einen Bruch mit der gesamten Tradition staatlichen Gedenkens dar: "Anders als staatliche oder staatlich geförderte, jeweils an sich selbst gerichtete Denkmäler von Opfernationen und -völkern wie Polen, Holland oder Israel sind solche in Deutschland notwendigerweise diejenigen des Verfolgers in Erinnerung an seine Opfer." Der Kulturwissenschaftler Jan Assmann hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es für eine solche "Erweiterung des Bindungsgedächtnisses (…) in der Geschichte keine Vorbilder (gibt)".

Während die Erinnerung an den Holocaust in Deutschland bisher mehrheitlich an die historischen Orte, insbesondere die KZ-Gedenkstätten, geknüpft war, hat man mit der Realisierung des überarbeiteten Entwurfs von Peter Eisenman ein Denkmal gebaut, das die Gräuel symbolisiert und abstrahiert. Mit ihrem "Mahnmal als Erfahrung" haben Eisenman und der Bildhauer Richard Serra, der das Konzept des Stelenfeldes entscheidend mitprägte, "die erste Manifestation eines poststrukturalistischen Mahnmals" geschaffen. In der Tradition der "Gegen- oder Antidenkmäler" stehend, ist es für seine "Gedenkfunktionen (…) völlig auf den Betrachter angewiesen", der allein "die Leerräume des Denkmals auffüllen" kann. Einen ganz anderen Zugang eröffnet der Ort der Information, indem er auf die "Personalisierung und Individualisierung des mit der Ermordung der europäischen Juden verbundenen Schreckens" setzt.

Jugendliche der "Vierten Generation"

Die Erinnerung an den Holocaust in Deutschland findet unter sich verändernden Gesichtspunkten in einer sich wandelnden, inzwischen "multikulturellen" Gesellschaft statt. Sie ist zum einen geprägt durch die Tatsache, dass ein "beachtlicher Teil der heute in Deutschland lebenden jungen Menschen (…) über Familien- und Kollektivgeschichten sowie über tradierte historisch-politische Erfahrungen (verfügt), die sich von den ‚deutschen‘ unterscheiden"; zum anderen befindet sich die Erinnerung an den Holocaust an einem kritischen Übergangspunkt. Im Zuge der Debatte um den Bau des Denkmals wies die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann darauf hin, dass wir es mit einer "Verschärfung des Gedächtnisproblems" zu tun haben: "Wir erleben gegenwärtig einen Generationswechsel, bei dem die lebendigen Erinnerungen an den Holocaust mit den Zeugen und Zeitgenossen aussterben. Unsere Kinder werden in einer Welt leben, die keinen lebendigen Kontakt zu den Ereignissen des nationalsozialistischen Massenmordes mehr hat."

Für die Schülerinnen und Schüler, die für diese Studie befragt wurden, trifft dies (im überwiegenden Fall) bereits zu. Sie sind Angehörige der "Vierten Generation" und als solche zunehmend auf Medien angewiesen, mit denen der "Übergang aus dem kommunikativen Gedächtnis ins kulturelle Gedächtnis (…) gewährleistet" werden soll. Der Bau des Holocaust-Denkmals ist damit auch ein Versuch, ein medial vermitteltes Gedächtnis zu etablieren, das heißt, die Erinnerung an den Holocaust über "kulturelle Formung" an die nächste Generation weiterzugeben.

Der Frage, inwiefern das Denkmal seine Funktion als "Erinnerungsträger" erfüllt, wurde aus der Sicht der Jugendlichen nachgegangen. "You get, what you see" sagte Peter Eisenman wenige Tage vor der Eröffnung des Denkmals. Was also "sehen" die befragten Schülerinnen und Schüler – Berliner Gymnasiasten und Hauptschüler sowie Auszubildende im Alter zwischen 14 und 24? In der Untersuchung ging es nicht im engeren Sinne um die Wirkung von Denkmälern und Kunstwerken, sondern darum, das Denkmal als Auslöser zu nehmen, um etwas über den Umgang mit dem Thema Holocaust zu erfahren. Hierbei stellte dessen Besuch einen "Grundreiz" dar, bei dem eine konkrete, vor Kurzem erlebte Situation einem allgemeinen Reden über den Holocaust vorgezogen werden sollte.

Für die Studie wurden 24 Gruppendiskussionen mit zwei beziehungsweise drei bis sieben Teilnehmerinnen und Teilnehmern geführt. Die Jugendlichen erhielten im Anschluss an eine schulische Exkursion zum Denkmal die Gelegenheit, sich über ihre nicht nur dort, sondern auch an anderen Gedenkorten gesammelten Erfahrungen auszutauschen. Der Erzählstimulus der Gruppendiskussionen wurde etwa folgendermaßen formuliert: "Ihr wart ja gerade beim Holocaust-Denkmal. Ich würde Euch bitten, mir zu erzählen, wie Ihr den Besuch dort erlebt habt. Wie ging es Euch, was habt Ihr gesehen, was habt Ihr gemacht, als ihr durchgelaufen seid?" Die Gruppendiskussionen wurden mit der dokumentarischen Methode der Interpretation ausgewertet. Ziel dieser Methode ist die Rekonstruktion impliziten Erfahrungswissens, das der Handlungspraxis zugrunde liegt.

Trauerimperativ

Die empirische Analyse der Gruppendiskussionen ergab eine gemeinsame Orientierung, die sich als durchgehendes Muster erwies: Alle Gruppen nehmen (reflektiert oder unreflektiert) den Anspruch wahr, Gefühle der Trauer, der Betroffenheit (und teilweise Schuld) mit dem Thema zu verbinden, wie etwa die folgenden Zitate zeigen:

"Und dann, als wir nach Auschwitz gekommen sind, dachte ich die ganze Zeit, du müsstest an diesem Ort irgendwie trauriger sein, als du’s bist irgendwie." (Michael)

"Ich hab’ letztens ‚Schindlers Liste‘ geseh’n, dann bin ich rausgegangen hinterher (…) und hab’ gedacht, müsstest du jetzt nicht irgendwie erschreckt sein oder traurig sein oder irgendwelche Anteilnahme empfinden? (…) Es wird einem irgendwann denn unangenehm; weil man denkt, es sollte einen eigentlich erschrecken; aber es tut’s nicht mehr." (Hannes)

Für die beiden vorgestellten männlichen Jugendlichen stimmen Sein und Sollen nicht (mehr) überein. Angesichts der Auseinandersetzung mit dem Holocaust "müsste(n)" beziehungsweise "sollte(n)" sie "trauriger" sein, "Anteilnahme empfinden", "erschreckt sein". Es ist ihnen "unangenehm", dass sich diese Empfindungen bei ihnen nicht (mehr) einstellen. Mit keinem anderen geschichtlichen Thema vergleichbar, sehen sich die Jugendlichen mit dem Erwartungshorizont, Gefühle der Trauer mit dem Thema zu verbinden, konfrontiert. "Auschwitz" – so Jan Assmann – "hat längst die Dimensionen einer ‚normativen Vergangenheit‘ angenommen, die unter keinen Umständen in Vergessenheit geraten kann und darf" – und, könnte man hinzufügen, vor deren Hintergrund sich die Jugendlichen zu Gefühlen der Trauer und der Anteilnahme aufgefordert sehen. Dieser normative Anspruch ist Teil des kollektiven Bindungsgedächtnisses (das auch als politisches oder nationales Gedächtnis bezeichnet wird). Es ist – im Gegensatz zum naturwüchsigen kommunikativen Gedächtnis – die Gedächtnisform, in die eine Gesellschaft sich mit ihren Normen und Werten einschreibt und auf die sie ihre Mitglieder verpflichtet.

Dilemma der Jugendlichen

Die Rekonstruktion des empirischen Materials ergab, dass sich die Schülerinnen und Schüler in Bezug auf den Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust in einem Dilemma befinden. Einerseits sehen sie sich mit den normativen Ansprüchen des kollektiven Bindungsgedächtnisses konfrontiert, andererseits verfügen sie nicht über eine gemeinsame milieu- beziehungsweise generationsspezifische Erfahrungsbasis mit den Opfern des Holocaust, die Voraussetzung wäre, um Gefühle der Trauer empfinden zu können. In einem ähnlichen Sinne hat der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik Trauer als eine "Nahemotion" bezeichnet, die "bekannten oder als bekannt geltenden Menschen erwiesen wird".

"Die hatten so Fotos aufgehängt von ehemaligen Insassen, die halt alle im KZ gestorben sind, und dann stand ich wirklich ganz zufällig plötzlich vor jemandem, der am selben Tag Geburtstag hat wie ich. Da dachte ich dann so das erste Mal, okay, jetzt biste mal wirklich traurig sozusagen. Des war so mein Erlebnis." (Michael)

An dieser Passage, die dem ersten Zitat unmittelbar folgt, wird deutlich, dass die Erwartung, traurig zu sein, vor der Trauer da ist. Sie ist kommunikativ vermittelt und Teil des Wissens, das mit dem Wissen über das Thema transportiert wird. Michael weiß, dass er traurig sein "müsste" und versucht, dieses Gefühl bei sich zu erzeugen. Es gelingt ihm, als er auf das Bild eines im KZ Gestorbenen trifft, der am selben Tag wie er Geburtstag hat. In seiner Erzählung dokumentiert sich die Befriedigung oder Erleichterung über dieses Gelingen, Trauer zu empfinden: "Jetzt biste mal wirklich traurig sozusagen." Über die Herstellung einer imaginierten Gemeinsamkeit durch die Verknüpfung des eigenen Erfahrungsraumes mit einem imaginativen Anderen wird die Trauer authentisch erlebt. Andernfalls wird sie als äußerer Zwang empfunden. Das Beispiel zeigt, dass Michael den "ehemaligen Insassen" zu einem ihm bekannten Menschen macht, um den Trauerimperativ erfüllen zu können. Die Mehrzahl der befragten Schülerinnen und Schüler versucht auf diese Weise, das beschriebene Dilemma zu "lösen" und damit dem normativen Anspruch gerecht zu werden.

Die Existenz solcher normativen Wissensbestände, die ich in Anlehnung an Pierre Bourdieu als "Regel" bezeichnet habe, wurde in meiner Untersuchung nicht vorausgesetzt, sondern über die Handlungspraxis der Jugendlichen – retrospektiv – empirisch rekonstruiert.

Erfüllung der "Regel"

Die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler bemüht sich, den an sie herangetragenen Erwartungen des Empfindens von Trauer, Betroffenheit und (teilweise) Schuld dadurch zu entsprechen, indem sie versuchen, die gemeinsamen nahweltlichen Erfahrungen, die ihnen authentische Empfindungen vermitteln könnten, imaginativ zu vergegenwärtigen. Im Zuge dieser Konstruktion gemeinsamer "konjunktiver Erfahrungsräume" werden beispielsweise Wissensbestände der Geschichtsschreibung in die Familiengeschichte transferiert, um sie auf diese Weise zum Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der Familie werden zu lassen.

Weitere Ausprägungen finden sich in der Parallelisierung der eigenen heutigen Situation als Migranten und "Ausländer" mit den Juden als Opfern des Holocaust oder indem sich die Jugendlichen in eine Familientradition einreihen, deren Vor-Generationen ebenso wie die Juden als Opfer des Nationalsozialismus verstanden werden. Häufig versuchen insbesondere die Schülerinnen anhand der Objekte im Ort der Information die Perspektive der Opfer zu übernehmen, sich mit diesen zu identifizieren beziehungsweise sich als deren Freundin oder Bekannte zu imaginieren:

"Man baut eine Beziehung auf zu den Personen, und man weiß schon vorher, dass es eigentlich nicht gut ausgehen kann, weil in der Zeit … und wie des auch schon aufgemacht wurde" (in der Ausstellung im Ort der Information, Anm. MK) (Marie)

"Ja, und bei Judith mein’ ich. Da musste ich mich richtig zusammenreißen, dass mir nicht die Tränen kommen." (Nicola)

In einigen Gruppen führt der Versuch, gemeinsame nahweltliche Erfahrungsräume zu konstruieren, um Gefühle der Trauer empfinden zu können, zu einer "Nostrifizierung". Dieser Begriff, der aus den lateinischen Wörtern nostrum und facere abgeleitet ist und wörtlich "zu Unserem machen" bedeutet, beschreibt ein Phänomen der Hineinnahme fremder Wissensbestände in den eigenen Erfahrungsraum, wobei ",andere‘ Wirklichkeit konzeptuell an vertraute ‚an-geglichen‘" wird. Im Gegensatz zur Perspektivenübernahme geht es weniger darum, sich an die Stelle des Anderen zu setzen, um dessen Gefühle und Erfahrungen nachvollziehen zu können; vielmehr wird der Andere vereinnahmt, wobei ihm die gemachten Erfahrungen quasi entrissen und dem eigenen Erfahrungsraum angepasst werden. Nostrifizierung wird umso wahrscheinlicher, je weniger die Jugendlichen auf historisches Wissen zurückgreifen können. Um die geschichtlichen Ereignisse immanent zu verstehen, verbinden die Jugendlichen diese mit ihren Alltagserfahrungen. Um ihre Alltagserfahrungen plausibel zu machen, vergleichen sie sie mit der Situation der Juden als Opfer des Holocaust:

Janine: "Ick hab’ mein’ Salon wo ick arbeite; und wenn ick da lang lofe, nur in schwarz-weißen Klamotten und mit blonden Haaren, ick werd’ da immer anjekiekt … Also da lofen se allgemein alle bunt rum. Is’ ja och schön. Dit jehört zu dem Viertel."

Lina: "Ja. Dit is’ aber wieder ditte, dass du in eine Schublade rinjesteckt wirst, obwohl du nich’ rinjehörst. Und jenauso is’ es; wenn wenn du halt diese Sachen trägst."

Janine: "Ja. Wenn ick jetzt da mit so ’ner Tasche noch rumlofen würde, ick wees nich’, ob ick da nach Hause komm’ würde."

Lina: "Ob nu ‚Lonsdale‘ oder ob du nun Ketten trägst, wo ‚BO‘ druffsteht für Böhse Onkelz, oder wat …" (…)

Lina: "So is’ es ja auch damals mit den Juden, dass die halt in eine Schublade jesteckt wurden."

Pauline: "Ja. Dis is’ das, was man heute noch merkt."

In dieser Diskussionspassage, in der die jungen Frauen Beispiele dafür anführen, aufgrund von Äußerlichkeiten in eine "Schublade gesteckt" zu werden, erläutert Janine, dass sie wegen ihrer Kleidung und Haarfarbe in dem Viertel, in dem sie arbeitet, "anjekiekt" wird. Sie vermutet darüber hinaus, dass sie durch das Tragen einer bestimmten Tasche massiver körperlicher Gewalt ausgesetzt sein könnte. Die von Janine geschilderte Alltagserfahrung wird mit einem Zwischenfazit beendet, in der die Schülerinnen eine Gleichsetzung zwischen ihrer eigenen Situation und jener der Juden während der Zeit des Nationalsozialismus vornehmen. In diesem Zusammenhang werden Bruchstücke eines anderen Erfahrungsraumes, nämlich dem der Opfer des Holocaust, in den eigenen Erfahrungsraum integriert. Eine Auseinandersetzung mit den jüdischen Opfern findet in diesem Moment nicht statt. Die Jugendlichen machen sich vielmehr selbst zu (potenziellen) Opfern, wodurch sie die fremde konjunktive Erfahrung neutralisieren und den Unterschied zwischen der einem Völkermord vorausgehenden, antisemitischen Diskriminierung und Vorurteilen, denen sie sich selbst (aufgrund des Tragens von Symbolen, die als neonazistisch gelten können) ausgesetzt sehen, nivellieren.

Zurückweisung der "Regel"

Es gibt Gruppen, die den Anspruch, Gefühle der Trauer mit dem Thema und den kulturellen Repräsentationen zu verbinden, nicht (mehr) erfüllen können oder wollen und diesen schließlich als äußeren Zwang erleben. Eine der befragten Gruppen spricht in diesem Zusammenhang von einer "Trauer auf Kommando", die sich nach dem "fünften oder sechsten Mal" nicht mehr einstellen wolle. Beim Gang durch das Stelenfeld verzichten diese Jugendlichen darauf, die erwarteten Gefühle und Gedanken an dieses heranzutragen; sie nähern sich vielmehr dem Stelenfeld als Kunstwerk, welches sie zunächst mit nichts außer sich selbst verknüpfen. Sie unterscheiden zwischen dem unter dem Stelenfeld gelegenen Ort der Information ("unten"), der für den ihnen bekannten, als vorgeschrieben empfundenen Umgang mit dem Holocaust steht, und dem Stelenfeld selbst ("oben"), das ihnen einen eigenen Zugang zu dem Geschehenen ermöglicht:

"Klar, hier unten is’ halt schon geschlossen, des is’ so wie’s passiert is’. Oben is’ auch Anteilnahme, aber hier is’ nochmal dieses Bedrückte, Melancholische, Geschlossene halt, und oben ist dann dieses Offene (…). Hier unten sind ja die Gedanken sozusagen vorgegeben, und oben sind dann die freien Gedanken, die jeder damit verbindet. Also, so is’ es für mich." (Emilio)

Die Jugendlichen nähern sich dem Stelenfeld, indem sie dieses zunächst auf der Ebene von Sinneseindrücken wahrnehmen. Der Beschreibung dessen, was sie gesehen, leiblich erfahren, gehört haben, folgt die für eine ästhetische Erfahrung konstitutive Entdeckung von etwas Neuem, der Eintritt von etwas Widerständigem und Unerwarteten:

"Was mir noch aufgefallen ist: die Kälte in der Mitte des Gebildes. Also, durch den Schatten und jetzt durch die heißen Temperaturen außerhalb hat es auch wieder so ’ne Gegensätzlichkeit gebildet. Am traurigsten oder am betrübtesten war ich auch hier unten am Ort der Information. Aber des war halt für mich auch so das entscheidende Erlebnis jetzt irgendwie, da bin ich da halt durch dieses Stelenfeld gelaufen und bin quasi immer tiefer in die Mitte oder in das Herz dieses Feldes vorgedrungen, und dann hab’ ich irgendwann hochgeguckt und dann war’n diese Stelen an der Seite, und dann bin ich irgendwie gestolpert. Und des hat für mich irgendwie, weiß nicht …" (Paul)

Das Denkmal als Objekt ästhetischer Betrachtung führt nicht zu der erwarteten (Erwartung der) Trauer. Das Stolpern dient als Metapher für Irritation, die in Gegensatz gestellt wird zu Emotionalität (Trauer und Betrübnis). Von Paul wird ein Kontrast zwischen dem Stelenfeld und dem Ort der Information beschrieben. Das für ihn "entscheidende Erlebnis" während des Denkmalsbesuchs war das Stolpern im "Herz dieses Feldes". Die von ihm gewählte Leibmetapher "Herz" als Synonym für die Mitte des Stelenfeldes hebt die Qualität der neuen emotionalen Erfahrung hervor. Analog zum Herzen als vitale Mitte des Körpers macht Paul im Zentrum des Stelenfeldes eine lebendige Erfahrung. Diese steht für ihn im Gegensatz zu den mit dem Ort der Information verbundenen bekannten Gefühlen von Traurigkeit und Betrübnis. Das Stolpern ist ein Verweis auf die Entautomatisierung der Verarbeitungsleistung. Das Denkmal wird von den Jugendlichen als Befreiung von einer "Trauer auf Kommando" erlebt, indem es neue Wege der Authentizität ermöglicht.

Fazit und Ausblick

Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas bietet mehrere Wege des Umgangs mit der Erinnerung an den Holocaust. Während der Ort der Information vorrangig für einen Zugang zum Thema im Rahmen normativ gebotener Trauer genutzt wird, sehen gerade die Jugendlichen, die diesen Anspruch nicht (mehr) erfüllen können (oder wollen) im Stelenfeld ihre Gefühle und Erfahrungen repräsentiert. Inwiefern man dies als Chance begreift oder als Problem realisiert, hängt stark vom eigenen (erinnerungs-) pädagogischen Standpunkt ab. Dennoch sollen auf der Basis der Studienergebnisse drei Denkanstöße formuliert werden:

  1. Die von den Adressatinnen und Adressaten der schulischen und außerschulischen Bildungsangebote eventuell erwartete Trauer stellt sich bei diesen nicht als unmittelbare Reaktion ein, sondern muss von ihnen "hergestellt" werden, indem sie eigene Alltagserfahrungen mit dem Thema verbinden. Dies ist bei Pädagoginnen und Pädagogen, sofern sie einer anderen Generation angehören, unter Umständen anders.

  2. Der in der historisch-politischen Bildung teilweise favorisierte Lebensweltbezug, mit dem eine Brücke zwischen Geschichte und Ich-Erfahrung geschaffen werden soll, ist im Hinblick auf Prozesse der Nostrifizierung zu hinterfragen.

  3. Wird das Stelenfeld als poststrukturalistisches Mahnmal ernst genommen, dann bedeutet dies, dass man Jugendliche ihren eigenen Umgang mit dem Thema finden lässt. Dieser kann jenseits der normativ gebotenen Trauer liegen – und damit jenseits dessen, was Pädagoginnen und Pädagogen in der Regel zu erwarten scheinen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Nach Auskunft der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas verzeichnete der Ort der Information bis Ende Juni 2013 insgesamt 3763500 Besucherinnen und Besucher. Da das Stelenfeld rund um die Uhr frei zugänglich ist und nicht über einen festen Ein- beziehungsweise Ausgang verfügt, können die Besucher dort nicht zahlenmäßig erfasst, sondern nur grob geschätzt werden.

  2. Vgl. den Internetauftritt der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas unter Externer Link: http://www.stiftung-denkmal.de (1.10.2013).

  3. James E. Young, Der Widerspruch der Künstler, in: Der Tagesspiegel vom 10.4.1997, dokumentiert in: Ute Heimrod et al. (Hrsg.), Der Denkmalstreit – das Denkmal? Die Debatte um das "Denkmal für die ermordeten Juden Europas", Berlin 1999, S. 519.

  4. Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2000, S. 36.

  5. Dem eigenen Unbewussten ins Gesicht schauen. Verena Lueken im Gespräch mit Peter Eisenman, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 22.9.1998, dokumentiert in: Michael Jeismann (Hrsg.), Mahnmal Mitte. Eine Kontroverse, Köln 1999, S. 275.

  6. Peter Eisenman, zit. nach: Robert von Rimscha, "Ich will einen Kunden", in: Der Tagesspiegel vom 14.6.1998, dokumentiert in: U. Heimrod et al. (Anm. 3), S. 1061.

  7. James E. Young, Die Zeitgeschichte der Gedenkstätten und Denkmäler des Holocausts, in: ders. (Hrsg.), Mahnmale des Holocaust. Motive, Rituale und Stätten des Gedenkens, München–New York 1994, S. 39.

  8. Sibylle Quack, Auf dem Weg zur Realisierung. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Ort der Information, Architektur und historisches Konzept, Stuttgart–München 2002, S. 250.

  9. Viola B. Georgi, Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, Hamburg 2003, S. 9.

  10. Aleida Assmann, Zwischen Pflicht und Alibi, in: Die Tageszeitung (taz) vom 20.3.1996, dokumentiert in: U. Heimrod et al. (Anm. 3), S. 503.

  11. Diese Zählung entspricht einem familialen, nicht einem sozial-historischen Generationenbegriff. Sie ist zudem umstritten, da der Begriff der "Ersten Generation" ursprünglich für die Opfer des Holocaust entstand, die durch diesen vorherige Generationen verloren hatten. Vgl. Isidor J. Kaminer, "On razors edge" – Vom Weiterleben nach dem Überleben, in: Fritz Bauer Institut (Hrsg.), Auschwitz. Geschichte, Rezeption und Wirkung, Frankfurt/M. 1996, S. 156f., Fn. 31; Michael Kohlstruck, Zwischen Erinnerung und Geschichte. Der Nationalsozialismus und die jungen Deutschen, Berlin 1997, S. 76; Aleida Assmann, Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München 2007, S. 58ff.

  12. Aleida Assmann/Jan Assmann, Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis, in: Klaus Merten et al. (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994, S. 120.

  13. Jan Assmann, Kollektives und kulturelles Gedächtnis. Zur Phänomenologie und Funktion von Gegen-Erinnerung, in: Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grütter (Hrsg.), Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Frankfurt/M.–New York 1999, S. 32.

  14. Zit. nach: "Ich will geliebt werden", Interview mit Peter Eisenman in: Der Tagesspiegel vom 24.4.2005, S. S1.

  15. Friedrich Pollock, Gruppenexperiment. Ein Studienbericht, Frankfurt/M. 1955, S. 41.

  16. Vgl. Ralf Bohnsack, Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden, Opladen 20035.

  17. Zur Verbesserung der Lesbarkeit wurden sämtliche Zitate redaktionell leicht bearbeitet. Die wissenschaftliche Transkription findet sich in: Marion Klein, Schülerinnen und Schüler am Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Eine empirisch-rekonstruktive Studie, Wiesbaden 2012.

  18. J. Assmann (Anm. 4), S. 36.

  19. Vgl. zu den Begriffen exemplarisch Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1988, S. 9–19; Aleida Assmann, Vier Formen des Gedächtnisses, in: Erwägen, Wissen, Ethik, 13 (2002) 2, S. 183–190.

  20. Micha Brumlik, Trauerrituale und politische Kultur nach der Shoah in der Bundesrepublik, in: Hanno Loewy (Hrsg.), Holocaust. Die Grenzen des Verstehens, Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, Reinbek 1992, S. 197.

  21. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat sein Verständnis von "Regel" in Abgrenzung (und Verschränkung) zu seinem Begriff des "Habitus" entwickelt: Während er Habitus als die lex insita – das "durch die primäre Sozialisation jedem Individuum eingegebene immanente Gesetz" – definiert, versteht er unter Regel die Aufstellung von "Seins- und Verfahrensgebote(n)" als nachträgliche Legitimation einer vorgängigen – durch den Habitus geregelten – Praxis (die Letztere dann wiederum als Norm anzuleiten versucht). Vgl. Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1976, Zitate: S. 178, S. 203.

  22. Karl Mannheim, Strukturen des Denkens, Frankfurt/M. 1980 (1922–25), S. 211–216. Vgl. auch R. Bohnsack (Anm. 16), S. 59–64.

  23. Für eine ausführliche Darstellung vgl. M. Klein (Anm. 17).

  24. Joachim Matthes, The Operation Called "Vergleichen", in: ders., Das Eigene und das Fremde. Gesammelte Aufsätze zu Gesellschaft, Kultur und Religion, Würzburg 2005, S. 393.

  25. Exemplarisch zu ästhetischer Erfahrung vgl. Ulrich Oevermann, Krise und Muße. Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrung aus soziologischer Sicht, Vortrag gehalten am 19.6.1996 in der Städel-Schule Frankfurt/M., online: Externer Link: http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/4953 (1.10.2013).

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Dr. phil., geb. 1971; Dozentin an der Hoffbauer Berufsakademie, zuvor langjährige Tätigkeit als Referentin für die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas; Hoffbauer Berufsakademie, Hermannswerder 7, 14473 Potsdam.
E-Mail Link: klein@hoffbauer-berufsakademie.de