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Geschichte als Instrument Editorial Variationen über ein schwieriges Thema Zurück zu den Quellen? Plädoyer für die Narrationsprüfung Geschichtskonstruktion zwischen Wissenschaft und Populärkultur "Aufarbeitung der SED-Diktatur" – heute so wie gestern? Vom Nutzen und Nachteil europäischer Geschichtsbilder Trauerimperativ: Jugendliche und ihr Umgang mit dem Holocaust (-Denkmal)

Vom Nutzen und Nachteil europäischer Geschichtsbilder

Marcel Siepmann

/ 18 Minuten zu lesen

Welche Geschichten erzählt man sich von Europa? Mit dieser Frage setzen sich Bürgerinnen und Bürger, Politikerinnen und Politiker, Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler sowie Historikerinnen und Historiker an den Universitäten und in Geschichtswerkstätten immer wieder auseinander. Einer der vielleicht spannendsten Versuche kann gerade in Brüssel beobachtet werden, wo bis Ende 2015 ein "Haus der europäischen Geschichte" entstehen soll. Dort, so versprechen uns seine Macher, soll eine Plattform entstehen "for exchange about European history and the history of the European Union".

Auch in diesem Artikel soll der Frage nachgegangen werden, ob und – wenn ja – wie ein Geschichtsbild gestaltet werden kann. Sollte man sich überhaupt um Geschichtsbilder bemühen, welche Schwierigkeiten verbinden sich mit ihnen? Kann für Europa vielleicht eines beschrieben werden, in dem die Geschichte eines sozialen Gesellschaftsmodells erzählt wird, so wie es Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments, beschrieben hat? Und handelt es sich dabei wirklich um ein europäisches Geschichtsbild?

Neben solchen Fragen vernimmt man aber auch Äußerungen über ein Unbehagen an der Erinnerung – wie es jüngst die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann mit einem entsprechenden Buchtitel zum Ausdruck brachte. Es ist ein Unbehagen, das sich vor allem aus der thematischen "Amalgamierung" von Geschichtswissenschaft, Erinnerung und Identität speist, wie sie seit gut dreißig Jahren verstärkt zu beobachten ist. Das bedeutet, dass zunehmend das zur "Geschichte" erklärt wird, was im Hier und Jetzt erinnert wird. Der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann hat dies vor einigen Jahren in seinem Buch über die "Entzifferung einer Gedächtnisspur" formuliert: "Für den Mnemohistoriker (Gedächtnishistoriker, Anm. d. Red.) liegt die Wahrheit einer Erinnerung weniger in ihrer Faktizität als in ihrer Aktualität." Assmann schrieb dies übrigens nicht, um das Interesse an der Geschichte, "wie sie eigentlich gewesen" ist, aufzukündigen. Doch steht seine Aussage für einen Trend, sich vornehmlich über das Erinnerte mit der Geschichte auseinanderzusetzen – meist über das soziale oder das kulturelle Gedächtnis.

Holocaust als gemeinsamer Bezugspunkt

Für die jüngere europäische Geschichte erfolgte dieser Zugang vornehmlich über die Erinnerung an den Holocaust. In dem erwähnten Geschichtshaus in Brüssel spielt dies ebenfalls eine wichtige Rolle: "The ‚break of civilisation‘ of the Shoah is the beginning and the nucleus of the European discourse of memory. For a long time, states were silent about their failings. In the meantime, the recognition of the Shoah as a singular crime against humanity has become the negative reference point of European self-consciousness."

Für diesen gemeinsamen Bezugspunkt hat sich in den vergangenen Jahren die Formulierung vom "Holocaust als negativer Gründungsmythos" etabliert. So lesen wir in Bezug auf die Anerkennung des Holocaust zum Beispiel beim britischen Historiker Tony Judt von einer "europäischen Eintrittskarte". Und auch Andreas Wirsching, der Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, schreibt von einer solchen "Eintrittskarte, die erforderlich ist, um den europäischen Zug zu besteigen". Das soll heißen: "Der Wille und die Fähigkeit, vergangenes Unrecht zu identifizieren und aufzuarbeiten, werden damit zur zentralen europäischen Kulturtechnik."

Eine solche Kulturtechnik beschrieb der Politikwissenschaftler Claus Leggewie bereits vor einigen Jahren, als er zwar die Formulierung eines "Schlachtfelds Europa" bemühte, gleichzeitig aber einen gemeinsamen europäischen Umgang mit dieser Geschichte vorschlug. Er betonte dabei den Zugang zu einer europäischen Erinnerung über das Verständnis einer im doppelten Sinne geteilten Geschichte. "Geteilt", so Leggewie, "heißt nicht, dass wir uns in allen Bewertungen historischer Ereignisse einig sein werden. Es heißt aber, dass wir unsere Differenzen in der Wahrnehmung unserer Geschichte in einer zivilen und die andere Seite anerkennenden Weise besprechen". Die Art und Weise, wie heute mit negativer Geschichte umgegangen wird, so lautet die dahinter stehende These, könne man als eine europäische beschreiben. Als Auslöser wird die Erfahrung eines gemeinsamen, alles Heroische am Nationalstaat beseitigenden Negativerlebnisses gesehen: der Zweite Weltkrieg, vor allem aber der Holocaust.

Aber können auch Geschichtsbilder formuliert und skizziert werden, die sich ein Stück weit von diesen Narrativen lösen und trotzdem nicht zu akademischen Gedankenspielen aus dem vielzitierten akademischen Elfenbeintürmchen verkümmern? Bevor ein solcher Versuch gewagt wird, soll im Folgenden auf die geschichtswissenschaftlichen Fallstricke und Probleme eingegangen werden, die damit einhergehen.

Geschichte und Erinnerung

Der Historiker Dan Diner hat vor einigen Jahren zwei im Grunde recht simple Feststellungen getroffen, die das Verhältnis von Geschichte und Erinnerung in dem oben beschriebenen Kontext sehr klar auf den Punkt bringen: "Die Vernichtung der europäischen Juden war ein Geschehen des Zweiten Weltkrieges. Das Wort vom Holocaust ist eine durch Gedächtnis und Reflexion erfolgte Zuschreibung." Für entschiedene Verteidiger einer eindeutigen Trennung von Geschehenem und Erinnertem, wie Reinhart Koselleck einer war, liegt die Sache klar: Die im Krieg gesammelten Eindrücke seien von Einzelnen gemacht und verarbeitet worden – "daraus abzuleiten, daß es (…) ein kollektives Gedächtnis oder gar eine kollektive Erinnerung gäbe, (…) ist ein wohlmeinender Trugschluß". Aleida Assmann zitiert Koselleck gar mit dem Ausspruch, die Geschichtswissenschaft hätte "nicht die Aufgabe, Identität zu stiften, sondern sie zu vernichten". Sie selbst widerspricht einer solchen Ansicht und betont die Bedeutung, die auch heute noch Begriffen wie "Ideologie" und "Mythos" zuzusprechen sei und fragt nach deren Funktionen: "Sie (Mythos/Ideologie, Anm. MS) stehen plötzlich nicht mehr (nur, Anm. MS) für ‚Verblendung‘ und ‚Lüge‘, sondern für symbolische Konstrukte, die Menschen zusammenhalten und mit deren Hilfe diese ihr Leben organisieren. Die Einsicht, die noch dazukommt, ist die, dass Menschen ohne solche Konstrukte nicht auskommen, sondern auf symbolische Formen gemeinschaftlicher Rückversicherung und Orientierung angewiesen sind."

Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht, so ließe sich mit Jörn Rüsen antworten, steckt man nun tatsächlich in einer Zwickmühle: "Als Wissenschaft ist sie (die Geschichtswissenschaft, Anm. MS) nicht zuständig für die Beantwortung fundamentaler Sinnfragen, und doch weiß sie sich zugleich getragen von diesen Fragen, kann sie also nicht einfach abweisen." Rüsen sieht Geschichtsbewusstsein als einen elementaren Bestandteil menschlicher Selbstdeutung. Dieses müsse man als "den Inbegriff der mentalen Operationen" verstehen, "mit denen Menschen ihre Erfahrungen vom zeitlichen Wandel ihrer Welt und ihrer selbst so deuten, daß sie ihre Lebenspraxis in der Zeit absichtsvoll orientieren können".

Was also kann eine europäische Geschichtsschreibung sein, die eben nicht versucht, etwas herzustellen, wofür sich historisch keine Evidenz herstellen lässt, und die sich trotzdem auf das "gefährliche Spiel" einlässt, sich mit gegenwärtigen Sinnfragen auseinanderzusetzen? Was könnten heute solche Sinnfragen sein, denen sich auch die Geschichtswissenschaft stellen muss? Geschichtswissenschaft könnte – nicht unbedingt im Koselleck’schen Sinne – eine andere, eine ergänzende Position zur Gedächtnisforschung einnehmen. Im Vordergrund stünde – eben anders als bei der Gedächtnisforschung – nicht mehr die Frage danach, ob ein bestimmtes Phänomen gegenwärtig von einer europäischen Mehrheit als europäisch erinnert, empfunden oder gedeutet wird, sondern vielmehr der Versuch, bestimmte Phänomene, die durch nationale Öffentlichkeiten als nationale Eigenarten wahrgenommen werden, in einer gesamteuropäischen Dimension historisch aufzuschlüsseln.

Der Philosoph Jürgen Habermas hat in seiner jüngsten Intervention darauf hingewiesen, dass durch die wirtschaftliche Globalisierung die europäischen Staaten "erneut unter explosiven Druck ökonomisch erzeugter Interdependenzen geraten" sind und somit in eine Situation, in der Grundsätze des sozialen Zusammenlebens infrage gestellt werden. "Wiederum", so Habermas weiter, "sind es systemische Zwänge, die die eingewohnten Solidarverhältnisse sprengen". Habermas benennt damit ein gesamteuropäisches Problem, das auch von anderen immer wieder angeführt wird: eine "soziale Krise" (Tony Judt), deren Hauptopfer die "Ausgeschlossenen" sind ("Alleinerziehende, Teilzeit- oder Kurzarbeiter, Migranten, Jugendliche ohne Lehrstelle, vorzeitig in Rente geschickte Arbeiter" – Menschen also, die von den sozialen Standards der Mehrheitsgesellschaft zunehmend abgekoppelt sind). Nun mag eingewandt werden, dass diese Probleme keine genuin europäischen sind. Auch in anderen Weltregionen öffnet sich die Schere zwischen denen, die sehr viel Reichtum auf sich versammeln und denjenigen, die immer weniger am gesellschaftlichen Leben teilhaben, immer weiter. Doch möglicherweise ist der historische Umgang mit sozialen Problemen genuin europäisch.

Im folgenden Abschnitt soll aufgezeigt werden, dass die Europäer auf eine Geschichte zurückblicken, in der sie die von Habermas erwähnten systemischen Zwänge schon einmal beantwortet haben: und zwar infolge der Industriellen Revolution. Dabei geht es durchaus nicht um eine glorreiche Erfolgsstory, aus der andere lernen sollen. Vielmehr geht es um ein Beispiel dafür, dass es Fort- und Rückschritte immer wieder gegeben hat und viele verschiedene Wege eingeschlagen wurden. An dieser Zeit der massiven Veränderungen lässt sich die "Offenheit" der Geschichte aufzeigen und nach Gründen forschen, warum der eine und nicht der andere Weg gegangen wurde. Kaum eine andere Zeit stellte die Menschen vor größere Sinnfragen und hat derartig nachhaltig für Veränderungen gesorgt.

Europa: Ein soziales Modell?

Wer heute mit US-Amerikanerinnen und -Amerikanern über Europa spricht, wird nicht selten mit der Einschätzung konfrontiert, dass in Europa so etwas wie Sozialismus herrsche. Und verfolgt man die Diskussionen in der US-amerikanischen Öffentlichkeit, die in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder über das öffentliche Gesundheitssystem geführt wurden, so wird rasch offenbar, dass es in Bezug auf den Wohlfahrtsstaat und die Vorstellungen von sozialem Ausgleich erhebliche Unterschiede zu Europa gibt. Der amerikanische Soziologe Jeremy Rifkin hat vor einigen Jahren ein Buch über den "europäischen Traum" geschrieben, in dem er diesem den viel zitierten American dream gegenüberstellt. Rifkin meint, für "Europäer gründet Freiheit nicht auf Autonomie, sondern auf Eingebundensein", während US-Amerikaner Freiheit als die Unabhängigkeit von anderen definierten: "Frei ist man, wenn man sich nur auf sich selbst verlassen muss, zu einer Insel für sich selbst wird."

Tatsächlich räumt Europa seinen sozialen Überzeugungen eine stärkere gesetzesmäßige Relevanz ein, ablesbar etwa durch "die Aufnahme sozialer Grundrechte in die nationalen Verfassungen und/oder Rechtsprechungen". Sicherlich gibt es heute auch in den USA viele sozialpolitische Angleichungen und sind einzelne europäische Staaten in bestimmten Bereichen im direkten Vergleich mit den USA sogar unter deren Niveau gerutscht. Historisch können jedoch verschiedene Bedeutungszusammenhänge für eine spezifisch europäische Entwicklung ausgemacht werden: unter anderem in einer anderen europäischen Familienstruktur (wo Kleinfamilien dominierten, Eltern nicht so oft bei ihren erwachsenen Kindern wohnten, weshalb familiäre Strukturen nicht so griffen, wie es in den USA der Fall war, und staatliche Hilfen im Alter stärker einspringen mussten) sowie im Grad des Ausbaus der industriellen Arbeit (in Europa früher und stärker als in den USA, wo Dienstleistungen einen größeren Raum einnahmen). In den USA verdrängte eine früher ausgebildete Managerkultur klassische Familienunternehmen; gleichzeitig war das Bildungssystem entgegen allgemeiner Vorurteile in den USA zu einem recht frühen Zeitpunkt relativ durchlässig und ermöglichte sozialen Aufstieg. Europäische Städte wuchsen langsamer und dafür stetiger, soziale Veränderungen konnten so besser aufgegriffen werden. Und auch die Entwicklung von Arbeiterparteien im Zuge gewerkschaftlicher Bewegungen fasste aufgrund des stärkeren Industrialisierungsgrades in Europa schneller Fuß, der Zugang zur Politik war somit stärker ausgeprägt als in Amerika. Gleichzeitig gab es dagegen in den USA eine stärkere soziale Durchlässigkeit zwischen Arbeitern und Angestellten, was sich unter anderem auch in einer höheren Heiratsquote zwischen diesen beiden Gruppen ausdrückte. Ähnliche Befunde haben auch der Ökonom Robert T. Kudrle und der Soziologe Theodore R. Marmor festgestellt, die für die USA den fehlenden Feudalstaat, eine sich unabhängig von der Industriearbeiterschaft entwickelnde Demokratisierung und eben auch eine weniger stark ausgeprägte Unterscheidung von gesellschaftlichen Gruppen beschrieben haben.

Auch für andere Weltregionen gibt es klare Unterschiede im Vergleich zur Idee eines europäischen Sozialmodells zu beobachten. Der Historiker Jürgen Osterhammel kommt für die globale Ebene zu dem Schluss, dass trotz der bestehenden Entwicklungsunterschiede innerhalb Europas für die Phase der Industrialisierung, vor allem innerhalb der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, "in keiner anderen Gegend der Welt (…) die traditionalen Vorkehrungen gemeinschaftlicher, philanthropischer, religiös-kirchlicher oder obrigkeitlicher Art zur Linderung von Armut aus innerer Dynamik in ein neues Verständnis von den Aufgaben des Staates überführt wurden." Welche Gründe hatte dies?

In Europa löste die Industrielle Revolution verschiedene (soziale) Erschütterungen aus. Vor allem das System der Marktwirtschaft, in dem der Wert der Arbeit durch den Wettbewerb einer wachsenden Bevölkerung als Prinzip installiert wurde, hatte tief greifende Folgen. Auch das Verschwinden einer zuvor halbwegs funktionierenden Selbstversorgung (Subsistenzwirtschaft) wurde durch die Arbeitsteilung und die Urbanisierung zum Problem, da auch die elementarsten Daseinsgrundlagen – vorher auf dem eigenen kleinen Stück Land oder im Garten angepflanzt oder als Tier gehalten – zunehmend wegfielen. In Großbritannien verdoppelte sich die Bevölkerungszahl zwischen 1800 und 1850, ähnliche Entwicklungen galten für Preußen, Teile Russlands sowie in größeren Zeitabschnitten auch für Italien, Norwegen, Schweden oder die Niederlande. Entwicklungssprünge zum Beispiel bei der Errichtung von Industrieanlagen erfolgten in nur wenigen Jahren, vor allem zwischen 1830 und 1848.

"Im Zuge dieser Entwicklung war die menschliche Gesellschaft zu einem Beiwerk des Wirtschaftssystems herabgesunken", so der Wirtschaftssoziologe Karl Polanyi 1944 in seinem viel zitierten Werk über die "Great Transformation". Polanyi beschreibt "soziale Umschichtungen ungeheuren Ausmaßes", soziale Verwerfungen, die begleitet wurden "durch die Herausbildung eines geradezu sakramentalen Glaubens an die allgemeinen Segnungen des Profits". Gleichzeitig gab es bereits erste Erfahrungen mit Versuchen sozialer Steuerung, so zuerst 1795 in England mit der sogenannten Speenhamland-Gesetzgebung, die Lohnzuschüsse und Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahmen ermöglichten. Doch war rasch Kritik daran aufgekommen; so bemerkte Polanyi: "Das Sprichwort ‚Einmal Armengeldempfänger, immer Armengeldempfänger‘ war durchaus zutreffend." Die Gesetze waren letzte Versuch, die alte soziale Ordnung gegen ein neues Denk- und Gesellschaftssystem zu verteidigen, doch gelang dies nicht wirklich, und spätestens mit dem neuen Armutsgesetz von 1834 wurden die Maßnahmen wieder aufgehoben. Dennoch: Diese erste Phase des Lernens und Umgehens mit einer neuen gewaltigen Herausforderung sollte für Europa entscheidend sein, da "in jener Zeit unser Sozialbewußtsein geformt wurde" und viele sich anschließende Bewegungen und Veränderungen auf diese Erfahrungen zurückgehen. Polanyi spricht daher von der "Entdeckung der Gesellschaft" die mit der "geistigen Welt des Menschen verflochten" wurde.

Auch wenn die Ursprünge der Industriellen Revolution in Großbritannien begannen, hat schon einer der bedeutenden Historiker dieser Entwicklung, Sidney Pollard, darauf hingewiesen, "that industrialization in Britain was by no means a single, uninterrupted, and unitary, still less a nation-wide process. Different industries fared very differently at various periods; there were distinct phases of development; and far from being spread evenly across the country, the changes were highly concentrated geographically, creating significant special differentials at any one time". Dies gilt für den Industrialisierungsprozess in Europa insgesamt: Es geht auch um ein Zentrum-Peripherie-Verhältnis, bei dem es Zentren von Neuerungen gibt und nachziehende Regionen des Wandels, die wiederum ihrerseits durch ihre jeweiligen Adaptionen auf den Ursprung zurückwirken.

Und dies trifft auch für das Entstehen eines europäischen Sozialmodells zu. Auch wenn mit dem dänischen Soziologen Gøsta Esping-Andersen von drei unterschiedlichen europäischen "Welten des Wohlfahrtskapitalismus" gesprochen wird (liberal, konservativ-korporatistisch, sozialdemokratisch), kann für Europa mit der Einführung der Sozialversicherung, zuerst im deutschen Bismarck-Reich, von einer gesamteuropäischen Sonderrolle gesprochen werden. "Die Sozialversicherung", so der Historiker Hartmut Kaelble, "entstand in Europa nicht nur früher. Sie war immer und ist bis heute in den europäischen Gesellschaften auch stärker ausgebaut als anderswo." Dabei waren zu verschiedenen Phasen jeweils unterschiedliche Variationen und Modelle prägend, etwa durch den 1873 gegründeten "Verein für Socialpolitik" um den Nationalökonomen Gustav Schmoller, dessen Mitglieder zunächst abfällig als "Kathedersozialisten" beschimpft wurden. Letzteren kommt nicht nur maßgeblich das Verdienst zu, "der staatlichen Sozialversicherung den politischen Boden in Deutschland bereitet zu haben", sondern sie stießen darüber hinaus eine europaweite Diskussion an.

Europäische "Kultur des Sozialen"

Während also die ersten wohlfahrtsstaatlichen Impulse in Europa noch vom Deutschen Reich ausgingen, waren es später die Vorstellungen des britischen Parlamentariers William Henry Beveridge, die nach 1945 neue Definitionen davon liefern sollten. Die "Prinzipien einer allgemeinen Versicherung für alle Bürger, die Garantie eines Existenzminimums, das Recht auf Leistungen und die Gleichheit vor dem Wohlfahrtsstaat" waren fortan das tragende Paradigma weiterer Überlegungen. Auch hier galt ein Zentrum-Peripherie-Verhältnis, was der europäischen Dimension jedoch nicht abträglich ist. "Wenn es (auch) insgesamt speziell deutsche und britische Modelle waren, die nach außen wirkten, fußten sie doch auf der breiten europäischen Diskussion und ihren Lösungsvorschlägen."

Nach dem Zweiten Weltkrieg glückte ein die politischen Lager übergreifender Konsens, und es setzte sich die Einsicht in die Notwendigkeit eines Systems staatlicher sozialer Sicherung durch. Vor dem Hintergrund der Frontbildungen während der Vorkriegs- und Kriegszeit konnte der Wohlfahrtsstaat so als ein "versöhnendes" Element begriffen werden. Der in Princeton lehrende Ideengeschichtler Jan-Werner Müller umschrieb die damalige Auffassung als die von einem "anständigen Staat": Danach konnte auch die in Europa überall aufkommende Christdemokratie den "Wohlfahrtsstaat nicht so sehr mit Verweis auf alte sozialistische Ideale, sondern als eine Form von schlichter ‚Anständigkeit‘" begreifen. Es kann auch von einer "universalistisch(en)" Version des Sozialstaats gesprochen werden, der alle Bürger umfasste und sie mit "einklagbarem Recht auf staatliche Leistungen" ausstattete: Die rechtliche Dimension des Sozialen wurde immer wichtiger.

Mit den Wachstumsperioden der 1950er und 1960er Jahre stieg jedoch auch das Leistungsvolumen dieser Sicherungen stetig an. Und so sehr es bislang auch Unterschiede zwischen den europäischen Nationen gegeben hat, lässt sich für die Nachkriegszeit eine zunehmende Angleichung bei den zentralen Bereichen Altersarmut, Invalidität, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Wohnen und Bildungschancen ausmachen, verursacht vor allem durch die zunehmende Industrialisierung auch der südlichen Länder Europas seit den 1950er Jahren und den Ausbau des Dienstleistungssektors.

Doch können die Wurzeln einer solchen europäischen "Kultur des Sozialen" bis ins Spätmittelalter zurückverfolgt werden. Denn seitdem "gab es in Europa stärker als anderswo eine etablierte Tradition öffentlicher sozialer Sicherung" und haben "intensiver als anderswo städtische Verwaltungen, Kirchen, Stiftungen ein Netz von Armenfürsorge entwickelt". Vor allem wurden mit der Implementierung von ersten Armutsgesetzen auch erste Annäherungen an eine Unterscheidung in Versorgungsbedürftige und Versorgungsunbedürftige vorgenommen. Dies hatte zwar auf der einen Seite eine "Verschärfung der repressiven Armenpolitik" zur Folge, also die Nichtanerkennung von Bedürftigkeit aufgrund eines vermeintlichen Selbstverschuldens, auf der anderen Seite setzte es aber auch die kommunale Armenpolitik in Gang. Diese Art der Versorgung fand jedoch nicht zentral, sondern auf viele verschiedene Träger verteilt statt. "Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s lassen sich erste Ansätze einer modernen S(ozialpolitik) erkennen."

Doch diese "moderne Sozialpolitik" steht eben in einer "besonders lange(n) gemeinsame(n) europäischen Tradition öffentlicher Interventionen zur sozialen Sicherung des Bürgers (…). Diese Tradition beinhaltet freilich nicht nur die öffentliche Intervention von oben, sondern auch die Partizipation der Klienten, die zivilgesellschaftliche Seite der sozialen Sicherung, und stets auch die Diskussion alternativer nichtstaatlicher Modelle."

Fazit: Alternative Erzählungen sind möglich

In Europa kann also auf eine lange Zeit der Erfahrungen mit sozialen Modellen und Ideen zurückgeblickt werden. Das vorgeschlagene Geschichtsbild eines europäischen Sozialmodells vergegenwärtigt, dass es einerseits eine gesamteuropäische Vorstellung eines solchen Modells gibt, diese aber andererseits zu unterschiedlichen Zeiten immer wieder neu verhandelt werden muss. Dies geschieht an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten.

In Zukunft muss dieses nicht auf Europa beschränkt bleiben (Ausläufer und Rückkoppelungen in die ganze Welt sind längst Bestandteil der jüngeren Geschichte). Der Blick zurück auf diese Geschichte ermöglicht jedoch, die Gegenwart mit ihren Krisen und Herausforderungen als ein Stück Normalität zu begreifen und als einen Hinweis darauf, dass Europa durch seine Antworten solchen Krisen gewachsen ist. Eine dieser Antworten auf die größte Umbruchphase, die oben beschriebene Industrielle Revolution, war die Idee eines sozialen Gesellschaftsmodells. An dieser Idee – das wurde gezeigt – wird seitdem gearbeitet.

Gemeinsame europäische Geschichtsbilder können demnach durchaus eine Hilfe sein, um sich mit gegenwärtigen Sinnfragen auseinanderzusetzen. Das gelingt am besten dann, wenn durch sie keine bestehenden Vorstellungen gefestigt und verstärkt werden, sondern im Gegenteil, mit dem Blick auf Vergangenes ein Gefühl dafür vermittelt werden kann, dass "Zukunft" immer wieder neu gestaltet worden ist. Europa hat auf seine Krisen bisher immer wieder mit dem Versuch reagiert, eine solche Zukunft sozialer zu gestalten. Das heißt nicht, dass es dabei bleibt. Welchen "Dreh" ein solches Geschichtsbild in fünfzig Jahren bekommen wird – möglicherweise auch in einem dann bereits etablierten "Haus der europäischen Geschichte" –, ist noch offen. Es bleibt abzuwarten, welche Sinnfragen dann den Blick auf die europäische Geschichte lenken werden. Der negative Gründungsmythos wird dabei weiter eine zentrale Rolle spielen, da Europa als Friedensprojekt eine zentrale Stellung einnimmt. Das hier skizzierte Geschichtsbild einer europäischen Geschichte des Sozialen könnte jedoch ein ergänzender Blick sein.

Geschichtsbilder sind immer Ausdruck gegenwärtiger Sinnfragen und eines Bemühens, diese über das Verstehen der eigenen Vergangenheit besser beantworten zu können, sich ein "Bild" von der Geschichte und damit auch ein wenig von der Gegenwart zu machen. Gleichzeitig sind sie auch das Bemühen darum, die Vielfältigkeit der europäischen Geschichte zu betonen und immer wieder neue Facetten an ihr aufzuzeigen und in eine europäische Öffentlichkeit zu tragen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. die Homepage des Projekts: Externer Link: http://www.europarl.europa.eu/visiting/de/visits/historyhouse.html (1.10.2013).

  2. European Parliament, Building a House of European History, Brussels 2013, S. 6, online: Externer Link: http://www.europarl.europa.eu/visiting/ressource/static/files/building-a-house-of-european-history_e-v.pdf (1.10.2013).

  3. Martin Schulz, Der gefesselte Riese. Europas letzte Chance, Berlin 2013, S. 211.

  4. Vgl. Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013; einen ähnlichen Titel gab es auch 2012: Margrit Frölich/Ulrike Jureit/Christian Schneider (Hrsg.), Das Unbehagen an der Erinnerung – Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust, Frankfurt/M. 2012. Beide Titel nehmen eine bekannte Formulierung Sigmund Freuds auf, der 1930 von einem Unbehagen in der Kultur sprach, in: ders., Kulturtheoretische Schriften, Frankfurt/M. 1974, S. 191–270.

  5. Jan Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, Frankfurt/M. 2000, S. 28.

  6. Im Gegenteil schrieb er nämlich auch: "Erinnerung kann nicht als verläßliche Quelle gelten, ohne an objektiven ‚Fakten‘ überprüft zu werden." Ebd., S. 27f.

  7. European Parliament (Anm. 2), S. 34. Zum ersten Konzeptentwurf des Hauses in Brüssel vgl. Marcel Siepmann, Ein Haus der Europäischen Geschichte wird eingerichtet, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, (2012) 11–12, S. 690–704.

  8. Tony Judt, Geschichte Europas von 1995 bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 2009, S. 933.

  9. Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012, S. 379.

  10. Leggewie umschreibt dies wie folgt: "Etymologie und Semantik des Teilens beinhalten das Trennende (Abteilen, Erbteilung) ebenso wie das Verbindende (Beteiligung, Mitteilen), als Gegenteil (oder Nachteil) und Anteilnahme (oder Vorteil)." Claus Leggewie, Schlachtfeld Europa. Transnationale Erinnerung und europäische Identität, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2008) 2, S. 81–93, Fußnote 2, online auch unter: Externer Link: http://www.eurozine.com/articles/2009-02-04-leggewie-de.html (1.10.2013).

  11. Ders. im Interview mit der Deutschen Welle: Was macht die Identität Europas aus?, 30.3.2011, Externer Link: http://www.dw.de/was-macht-die-identit%C3%A4t-europas-aus/a-6487653 (1.10.2013).

  12. Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen 2007, S. 7.

  13. Reinhart Koselleck, Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses, in: ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, Berlin 2010 (2002), S. 241–253, hier: S. 244.

  14. A. Assmann (Anm. 4), S. 20, S. 22.

  15. Jörn Rüsen, Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik, Bd. 1, Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, S. 8, S. 48f.

  16. Jürgen Habermas, Im Sog der Technokratie. Ein Plädoyer für europäische Solidarität, in: ders., Im Sog der Technokratie, Berlin 2013, S. 82–111, hier: S. 110.

  17. Tony Judt, Die Aktualität der sozialen Frage, in: ders., Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, München 2008, S. 401–421, hier: S. 404.

  18. Reinhart Koselleck hat daher für diese Zeit der Industriellen und politischen Revolutionen für die Jahre zwischen 1750 und 1850 den Begriff der "Sattelzeit" geprägt.

  19. Jeremy Rifkin, Der Europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht, Frankfurt/M.–New York 2004, S. 21.

  20. Hartmut Kaelble, Das europäische Sozialmodell – eine historische Perspektive, in: ders./Günther Schmid (Hrsg.), Das europäische Sozialmodell. Auf dem Weg zum transnationalen Sozialstaat, Berlin 2004, S. 31–50, hier: S. 40.

  21. Vgl. vor allem Jens Alber, Das "europäische Sozialmodell" und die USA, in: Leviathan, (2006) 34, S. 208–241.

  22. Vgl. Hartmut Kaelble, Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880–1980, München 1987, S. 18ff. (Familienstruktur), S. 25ff. (industrielle Arbeit), S. 30ff. (Managerkultur), S. 34ff. (Bildungssystem), S. 60ff. (Städte), S. 82ff. (Arbeiterparteien); S. 57, S. 41ff. (soziale Durchlässigkeit).

  23. Vgl. Robert T. Kudrle/Theodore R. Marmor, The Development of Welfare States in North America, in: Peter Flora/Arnold J. Heidenheimer (eds.), The Development of Welfare States in Europe and America, New Brunswick 1981, S. 81–121, hier: S. 81.

  24. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 894. Allerdings beschreibt Osterhammel durchaus ähnliche Entwicklungen auch für Australien und Neuseeland.

  25. Vgl. vor allem das Standardwerk von Eric Hobsbawm, The Age of Revolution. Europe 1789–1848, London 2012 (1962), S. 207ff.

  26. Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/M. 1978 (1944), S. 111, S. 181., S. 186, S. 116.

  27. Vgl. E. Hobsbawm (Anm. 25), S. 65.

  28. K. Polanyi (Anm. 26), S. 122.

  29. Ebd., S. 122f.

  30. Sidney Pollard, Peaceful Conquest. The Industrialization of Europe 1760–1970, Oxford 1988, S. 3.

  31. H. Kaelble (Anm. 22), S. 75.

  32. Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. 1, Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1994, S. 370f.

  33. H. Kaelble (Anm. 22), S. 78.

  34. Ebd., S. 79.

  35. Jan-Werner Müller, Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert, Berlin, S. 221f.

  36. H. Kaelble (Anm. 20), S. 34.

  37. Vgl. ebd., S. 36f.

  38. Vgl. ebd., S. 38f.

  39. H. Kaelble (Anm. 22), S. 81. Hervorhebung im Original.

  40. Thomas Sokoll, Sozialpolitik, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 12, Stuttgart–Weimar 2010, S. 267–271, hier: S. 268.

  41. Ebd., S. 269.

  42. H. Kaelble (Anm. 22), S. 33.

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M.A., geb. 1979; Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI), Goethestraße 31, 45128 Essen.
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