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Reflexive Sicherheitspolitik als antihegemoniales Rezept: Deutschlands Sicherheit und seine gewandelte Strategie | Internationale Sicherheit | bpb.de

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Reflexive Sicherheitspolitik als antihegemoniales Rezept: Deutschlands Sicherheit und seine gewandelte Strategie

Gunther Hellmann

/ 14 Minuten zu lesen

In der Diskussion über Deutschlands Rolle in Europa erlebt der schillernde Begriff der Hegemonie eine Renaissance. Für die einen hat Deutschland gar nicht die Wahl, sich einer de facto bereits gegebenen deutschen Hegemonie zu entziehen, so widerwillig oder zögerlich sich seine außenpolitischen Eliten dieser Rollenzuweisung auch fügen mögen. Für andere "muss" Deutschland erst noch "Hegemon werden", wenn auch ein dem "gütigen Hegemon" USA nachempfundener "freundlicher". Eine dritte Gruppe von Beobachtern assoziiert mit Deutschland das genaue Gegenteil von Hegemonie, "weil es nicht willens oder in der Lage ist, die Opfer zu bringen, die für die Rolle eines Hegemons unerlässlich wären". Kurzum: So schillernd der Begriff ist, so attraktiv erscheint er vielen. Denn er basiert implizit oder explizit zumeist auf einer Unterscheidung zwischen notwendiger Führung und williger Gefolgschaft, die viele angesichts ihrer Verortung "in der Mitte zwischen der obersten und der untersten Stufe der Machtskala, (…) zwischen der Stufe des bloßen Einflusses und der der Herrschaft" normativ reizvoller, wenn vielleicht auch nicht empirisch triftiger finden, als die These einer sinisteren "merkiavellistischen" Strategie, die den "Aufstieg Deutschlands zur führenden Macht im ‚deutschen Europa‘ betreibt".

Wo auch immer die theoretischen Anleihen für diesen analytischen Zugriff herkommen mögen, eine der bemerkenswerten Facetten dieser Debatte über die Rolle Deutschlands in Europa und der Welt besteht darin, wie wenig sie mit einem anderen Kernbegriff zwischenstaatlicher Beziehungen in Verbindung steht, der für die "Bonner Republik" von zentraler Bedeutung war: dem Begriff der Sicherheit. Deutschland (und vielleicht auch die EU) scheint heute ein Hegemonieproblem zu haben, nicht aber ein Sicherheitsproblem. Dies ist kurzsichtig, denn wenn man "Sicherheit" als Abwesenheit von Gefährdung oder, positiv gewendet, als "Bestand von Werthaftem in der Zeit" begreift, dann stellt sich mit der Möglichkeit eines Paradigmenwechsels von eher egalitären zwischenstaatlichen Beziehungsmustern innerhalb der EU hin zu Verhältnissen, die durch Führung und Gefolgschaft gekennzeichnet sind, auch die Frage, ob die Güter, Werte und Interessen aller Betroffenen gleichermaßen als gesichert gelten können.

Die Frage so zu stellen, scheint vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen und gängiger Wahrnehmungsmuster die Antwort nahezulegen, dass Deutschland zu den (wenigen) Sicherheitsgewinnern und viele seiner europäischen Partner zu den Sicherheitsverlierern der machtpolitischen Verschiebungen der vergangenen zwei Jahrzehnte gehören. Dies wäre aber vorschnell, weil die Mobilisierung williger Gefolgschaft schwieriger ist, als gemeinhin unterstellt. Dies gilt vor dem Hintergrund einer höchst ambivalenten Geschichte zumal für Deutschland. Insofern ist die grundsätzlichere Frage, wie sich Deutschlands Sicherheit und die dieser zugrunde liegenden außen- und sicherheitspolitische Strategie derzeit beschreiben lassen, keineswegs so einfach zu beantworten.

Dies gilt auch deshalb, weil die Begriffe "Sicherheit" und "Strategie" ein Bewusstsein dafür voraussetzen, dass jegliche Antworten auf normativen Wahrnehmungen und Bewertungen politischer Entwicklungen beruhen. Bei allem Bemühen um eine abwägende und distanzierte Auseinandersetzung kann es eine "objektive" Darstellung schon deshalb nicht geben, weil sich "Sicherheit" auf Güter beziehungsweise Bedrohungen bezieht, über die wir kein Wissen im herkömmlichen Sinne besitzen (können). Hinzu kommt, dass außenstehende Beobachter nur begrenzten Zugang zu jenen Wissensbeständen und Planungen haben, die in den außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsinstanzen vorhanden sind. Dazu zählen unter anderem geheime Informationen und Einschätzungen zu Bedrohungslagen, aber eben auch "Strategie"-Überlegungen – jene Handlungsprogramme also, in denen außenpolitische Visionen und Ambitionen vor dem Hintergrund eines spezifischen internationalen Umfeldes und einer gegebenen innerstaatlichen Ressourcenausstattung konkretisiert werden.

Wie sicher Deutschland derzeit ist und durch welche Strategie(n) die politisch Verantwortlichen diese Sicherheit befördern wollen, lässt sich trotz dieser Begrenzungen durchaus aus der ("Vogel"-)Perspektive eines distanzierten Beobachters analysieren. Im Folgenden werden neben einer Einschätzung des außen- und sicherheitspolitischen Umfeldes (beziehungsweise "der Lage") auch Handlungsmöglichkeiten diskutiert.

Die Lage

Die Reichweite einzelstaatlicher Macht, das heißt der Fähigkeit, außenpolitische Ziele zu verwirklichen, bemisst sich an der Verfügbarkeit über hinreichende materielle und ideelle Ressourcen sowie an der Widerständigkeit und Empfänglichkeit des jeweiligen internationalen Umfeldes für diese Ziele. In diesem Verständnis hat sich Deutschlands Macht in den vergangenen Jahren beträchtlich gesteigert – und damit auch seine Sicherheit verbessert. Materielle und ideelle Ressourcen sind (relativ zu anderen Staaten) gewachsen, und die Folgebereitschaft gegenüber selbstbewusster vorgetragenen deutschen Zielen ist gemessen an der Durchsetzung deutscher Präferenzen zumindest nicht geschrumpft.

Fünf Rahmenbedingungen sind hervorzuheben, die dies mit ermöglicht haben und die auf absehbare Zeit prägend bleiben dürften. Sie werden im Folgenden nach dem Kriterium absteigender räumlicher Reichweite sortiert. Dabei ist zwischen Rahmenbedingungen zu unterscheiden, die durch politisches Handeln über kurze, mittlere oder längere Sicht stark oder wenig beeinflussbar sind. Die Ausstattung der USA oder Chinas mit materiellen Machtressourcen wie territorialer Größe, ökonomischer Leistungskraft oder militärischer Stärke etwa sind bestenfalls mittel- bis langfristig beeinflussbar und in diesem Sinne als "strukturelle" Rahmenbedingungen zu fassen. Dem gegenüber stehen Rahmenbedingungen, die stärker durch kollektive Wahrnehmungen (wie "Freund-Feind"-Wahrnehmungen) geprägt sind, welche sich auch kurz- bis mittelfristig ändern können.

Polarität, Polarisierung und Interdependenz.

Die erste prägende Bedingung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik lässt sich begreifen als ein Spannungsfeld zwischen klassischer Machtverteilung (Polarität), gewachsener Rivalitäts- und Kooperationsgrade zwischen den wichtigsten Machtzentren der internationalen Politik (Polarisierung) und zunehmenden wechselseitigen Abhängigkeiten und damit einhergehenden Verwundbarkeiten von nationalstaatlich verfassten, aber immer weniger von grenzüberschreitenden Veränderungen isolierbaren Gesellschaften. Veränderungen der Polarität und der Polarisierung reflektieren insofern "strukturelle" Veränderungen, als dass von einem "Aufstieg neuer Mächte" wie China, Indien oder Brasilien zumindest für die vergangenen beiden Jahrzehnte aufgrund klassischer Indikatoren (wie etwa ökonomisches Wachstum, globale Verteilung von Militärausgaben) gesprochen werden kann, die sich weit weniger langsam ändern als kollektive Wahrnehmungsmuster. Inwieweit sich daraus jedoch ein in die Zukunft weisender Trend extrapolieren lässt, ist unklar – zumindest was die strukturelle Qualität dieser Machtverschiebungen anbelangt.

Dasselbe gilt für die globale Kooperation unter den Großmächten in den beiden vergangenen Jahrzehnten. Im Vergleich zur Zeit des "Ost-West-Konflikts" wies sie einen geringeren Polarisierungsgrad auf. Wie sich dies in Zukunft darstellen wird, ist ebenfalls ungewiss. Das Möglichkeitsspektrum reicht von klassischen, teilweise auch ideologisch aufgeladenen Machtkonkurrenzen zwischen den beiden großen Mächten USA und China über Konstellationen, die "autoritäre Großmächte" einer losen Koalition von Demokratien gegenüberstellen, bis hin zu gesellschaftspolitisch stark ausdifferenzierten, weitgehend "eigenen" Wegen folgenden und von innenpolitischen Dynamiken getriebenen Entwicklungsprozessen in den großen Staaten.

Die strukturelle Qualität der zunehmenden wechselseitigen Verwundbarkeiten lässt sich mit den Stichworten der globalen Finanzkrise und der "Eurokrise" oder aber der Ressourcenknappheit beziehungsweise der Verschiebung von Abhängigkeiten illustrieren. Dass auch hier kollektive Wahrnehmungsmuster eine Rolle spielen, lässt sich daran ablesen, wie schnell sich in den vergangenen Jahren die Einschätzungen möglicher Entwicklungsszenarien der EU verändert haben.

Polarität und Polarisierung einerseits sowie Abhängigkeit und Verwundbarkeit andererseits bilden insofern ein zusammenhängendes Spannungsfeld, als dass sie aufgrund ihrer wechselseitigen Beeinflussung nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können. In der Summe ergeben sich daraus – vielleicht mit Ausnahme des Szenarios einer chinesisch-amerikanischen Bipolarität – Konstellationen, welche die außen- und sicherheitspolitisch Handelnden in Deutschland und anderswo insofern mit einem deutlich fluideren Umfeld konfrontieren, als "Freund-Feind-Gewissheiten" – wie sie aus dem "Kalten Krieg" bekannt waren – fehlen. Das außenpolitische Konzept der Bundesregierung über die Beziehungen zu den "Gestaltungsmächten" kann als Ausdruck einer solchen Lageeinschätzung gelesen werden.

Verschärfte globale Ordnungsprobleme.

Wenn man von der Annahme ausgeht, dass sich die machtpolitischen Gewichte und damit auch die Einflussmöglichkeiten der traditionell dominierenden "westlichen" Staaten zugunsten neuer "aufsteigender" Mächte verschieben, stellt sich als weitere Rahmenbedingung das globale Ordnungsproblem, dass bestehende internationale Führungsstrukturen und Koordinierungsmechanismen angepasst werden müssen. Diese Einschätzung verweist auf strukturelle Veränderungen, weshalb davon auszugehen ist, dass der Druck auf EU-Staaten und damit auch Deutschland beträchtlich wachsen wird, ihre überproportionale Repräsentation in wichtigen Gremien der Vereinten Nationen (VN) zugunsten aufsteigender Mächte zu reduzieren. Erschwerend kommt hinzu, dass solche Forderungen quer zu deutschen Ambitionen (wie etwa einem ständigen Sitz im VN-Sicherheitsrat) liegen und mithin gerade von solchen Staaten kommen, mit denen Deutschland noch vor wenigen Jahren gemeinsam einen ständigen Sitz anstrebte (wie Indien und Brasilien). Da Deutschland in dieser Frage zudem bestenfalls auf lauwarme Unterstützung seiner beiden wichtigsten europäischen Partner Frankreich und Großbritannien hoffen kann und sogar mit Widerständen der USA rechnen muss, fällt es als eine gewichtige, vergleichsweise wenig eigeninteressierte Stimme zur Erarbeitung institutioneller Lösungen für grundlegende globale Probleme (wie in den Zeiten der "Bonner Republik") auf absehbare Zeit weitgehend aus.

Im globalen Kontext ist Deutschland zwar nicht in der ersten Reihe der Großmächte einzuordnen, aber zusammen mit seinen westlichen Partnern hat es in den vergangenen Jahrzehnten eine durchaus einflussreiche und stabilisierende Rolle gespielt. So wie aber die USA neben der Auseinandersetzung mit "aufsteigenden" Mächten mit gravierenden innenpolitischen Problemen zu kämpfen haben, so wird auch Deutschland auf absehbare Zeit seine materiellen Ressourcen und politische Aufmerksamkeit auf innenpolitische und innereuropäische Probleme konzentrieren (müssen). Damit dürften sich allerdings die globalen Ordnungsprobleme tendenziell eher verschärfen.

Heterogenisierung globaler Ordnungsvorstellungen.

Neue Herausforderungen im globalen Rahmen ergeben sich auch durch die im Zuge des Aufstiegs neuer, "nicht-westlicher" Mächte beobachtbare Heterogenisierung globaler Ordnungsvorstellungen. Diesem Faktor kommt deshalb strukturelle Bedeutung zu, weil es sich um vergleichsweise stabile, weil über Jahrzehnte geronnene Ordnungsvorstellungen handelt. Weder die alte Ost-West-Konstellation (mit einer sich "blockfrei" definierenden Mittelposition zwischen "liberalem Westen" und "sozialistischem Osten") noch die weitgehende Dominanz "liberaler" beziehungsweise "westlicher" Ordnungsvorstellungen wie nach 1990 dürfte zukünftig prägend sein. Vielmehr werden neben völlig anders gelagerten, weit in distinkte politisch-kulturelle Erfahrungsräume zurückgreifenden Ordnungsvorstellungen (wie im Falle Chinas) auch von aufsteigenden Demokratien favorisierte Alternativen (wie im Falle Indien wie auch Brasilien) sichtbar, die nicht dem westlichen Kontext entstammen. Sie unterstreichen mit eigenen Akzenten die Bedeutung staatlicher Souveränität, definieren Ordnung ihrer geopolitischen Konstellation gemäß stark in regionalen Kategorien und setzen in dem Maße, in dem sie sich zu globalen Problemen äußern, bemerkenswerte Kontraste gerade gegenüber westlichen Ordnungsvorstellungen.

Diese Heterogenisierung globaler Ordnungsvorstellungen läuft darauf hinaus, dass die Beschreibungen globaler Sicherheitsrisiken zunehmend divergieren und die Erarbeitung gemeinsamer Lösungen tendenziell erschwert wird. Für einen stark in globale Verflechtungssysteme eingebundenen Staat wie Deutschland stellt dies eine bedeutsame sicherheitspolitische Herausforderung dar.

Priorität der EU.

Zu den internationalen Rahmenbedingungen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik ist ferner die herausragende Stellung des europäischen Handlungskontextes zu rechnen. Bis vor wenigen Jahren wurde dieser Handlungskontext primär als europäische Plattform wahrgenommen, auf dessen Grundlage deutsche Außenpolitik im globalen Rahmen zu gestalten wäre. Ergänzt wurde diese Prämisse durch die Annahme, dass der europäische Integrationsprozess auf einem soliden Fundament ruht und frühere sicherheitspolitische Risiken, die in innereuropäischen Rivalitäten wurzelten, verlässlich eingehegt seien. Krieg war undenkbar geworden. Die Bearbeitung innereuropäischer Konflikte näherte sich in der EU immer stärker jenen verfahrensgesteuerten Konfliktlösungsmechanismen an, die man aus den innenpolitischen Kontexten europäischer Demokratien kennt. Dadurch waren auch klassische zwischenstaatliche Rivalitäten eingedämmt.

Die "Eurokrise", die sich sukzessive von einer Schulden-, Banken- und Wirtschaftskrise zu einer institutionellen Integrationskrise ausgeweitet hat, stellt sich heute als die vielleicht wichtigste sicherheitspolitische Herausforderung Deutschlands dar. Denn mit der Möglichkeit der schleichenden Desintegration, wenn nicht sogar des rapiden Zerfalls, scheinen wiederum Szenarien innereuropäischer Rivalitäten auf, welche die wichtigste Voraussetzung deutscher Sicherheit zu unterminieren drohen. Für Deutschland markiert diese Rahmenbedingung daher auch den bedeutendsten Faktor in der Bestimmung seiner Außen- und Sicherheitspolitik. Hier stellen sich auch jenseits innereuropäischer Machtkonstellationen, die Deutschland aufgrund eigener Interessen in die Position einer Zentralmacht rücken, schon deshalb neuartige Herausforderungen an deutsche Führungsleistungen, weil Berlin in der für nicht-europäische Mächte unübersichtlichen, aufgrund seines Gewichts aber auch unumgehbaren institutionellen Rolle der EU immer mehr zum Ansprechpartner in europäischen Belangen wird, die oftmals erhofften Lösungen aber alleine nicht bewerkstelligen kann.

Die innereuropäische Absorption mit hausgemachten Problemen bei gleichzeitig steigenden Ansprüchen an deutsche Führungsleistungen innerhalb wie außerhalb der EU erschweren daher auch eine (im nationalen Rahmen organisierte) Rolle Deutschlands als globale "Gestaltungsmacht" in dem Maße, in dem deutsche Führungsansprüche hörbarer artikuliert werden und sich die absehbaren Widerstände formieren.

Diverse Trends könnten zu einer Verschärfung solcher breit definierter sicherheitspolitischer Herausforderungen für Deutschland beitragen. Erstmals in einer gravierenden Krise der EU zeigen nur wenige der diskutierten Lösungswege in Richtung genuin supranationaler institutioneller Reformen – von politischen Mehrheiten in der EU für diese Vorschläge ganz abgesehen. Damit soll nicht Klage geführt, sondern lediglich eine folgenreiche analytische Feststellung getroffen werden: Vom Fiskalpakt über die Bankenunion bis hin zu Ideen einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik scheint sich tendenziell eine Stärkung des nationalstaatlichen Gewichts innerhalb der institutionellen Balance der EU abzuzeichnen. Dass Deutschland in den gegenwärtigen Reformdebatten zumindest hier und da als einer der wenigen Befürworter tendenziell eher vergemeinschaftender Lösungen in Erscheinung tritt, scheint prima facie der alten "Anomalie" deutscher Selbsteinbindung zu entsprechen. Die teilweise vehementen Widerstände gegen solche Lösungsvorschläge lassen es aber als wenig aussichtsreich erscheinen, dass ein traditioneller Integrationsschub am Ende der gegenwärtigen Krise stehen wird.

Das liegt weniger daran, dass Deutschland aufgrund grundlegender integrationspolitischer Umorientierungen im innerstaatlichen Diskurs bestenfalls sanften Druck ausübt. Vielmehr liegt es daran, dass eine große und heterogene Koalition von Staaten angesichts einer Skylla tief greifender Souveränitätseinschnitte in der Finanz- und Haushaltspolitik und einer Charybdis zunehmender deutscher Dominanz in einer sich tendenziell renationalisierenden EU eher dazu neigt, letzterem Übel den Vorzug zu geben. Dies ist in keinem EU-Mitgliedstaat deutlicher bemerkbar als in Frankreich – dem traditionell wichtigsten und gerade in solchen institutionellen Reformprozessen der EU unumgänglichen Kooperationspartner Deutschlands.

Wenn aber der globale Siegeszug einer Renaissance nationalstaatlicher Souveränität, wie er sich in unterschiedlicher Form bei den meisten "aufsteigenden" Großmächten zeigt, nun auch in Europa seinen Niederschlag findet, wird die deutsche Vormachtstellung weiter akzentuiert. Damit ist keineswegs gesagt, dass die alte "deutsche Frage" zwangsläufig (wieder) als neues europäisches Hegemonialproblem aufgeworfen ist. Das Europa der Gegenwart weist nämlich völlig andere Interdependenzen und institutionelle Verschränkungen auf als das Europa der Großmächterivalität des 19. und 20. Jahrhunderts. Allerdings ergibt sich zumindest insofern eine gewisse Parallele zu machtpolitischen Rivalitäten früherer Zeiten, als dass in den Augen wichtiger Partner eine deutsche Vormachtrolle – und sei es auch nur in Fragen der Finanz- und Haushaltspolitik – in dem Sinne als gravierendes Sicherheitsproblem erscheint, als ein wahrgenommener "Bestand von Werthaftem" bedroht ist. Ganz offensichtlich geht es hier nicht um klassische Sicherheitsprobleme, die militärisch zu "lösen" wären. Aber da es sich um eine neue Dimension der machtpolitischen Auseinandersetzung handelt und dies vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte, zumal im Zusammenhang mit Deutschland, unweigerlich sicherheitspolitische Implikationen hat, ergibt sich daraus eine zentrale Bedingung einer umfassend ansetzenden außen- und sicherheitspolitischen Strategiedebatte Deutschlands.

Gesellschaftliche Präferenzen.

Einfacher durch Elitendiskurse formbar, aber keineswegs lediglich deren Spielball, sind schließlich die innergesellschaftlichen Präferenzen als Rahmenbedingungen in Rechnung zu stellen. Auch wenn Wahlen in den seltensten Fällen durch außenpolitische Ereignisse oder sicherheitspolitische Positionierungen entschieden werden, kann eine tragfähige außenpolitische Strategie Einstellungen der Bevölkerung nicht ignorieren. Bezogen auf militärische Maßnahmen im engeren Sinne muss erstens von einer umso tiefer sitzenden Skepsis gegenüber größeren und länger dauernden militärischen Operationen der Bundeswehr ausgegangen werden, je mehr solche Einsätze in entfernten Gegenden stattfinden sollen und von Experten mit schwer kalkulierbaren Rückzugsszenarien verknüpft werden.

Von einer "Neigung zur Selbstverzwergung" deutscher Außenpolitik kann aber schon deshalb nicht die Rede sein, weil beträchtliche Teile der deutschen Öffentlichkeit nicht nur Gefallen an einer (mit-)bestimmenden Rolle Deutschlands im internationalen Mächtekonzert finden, sondern in einzelnen Politikbereichen auch ein entscheidendes Mitspracherecht reklamieren. Im Vergleich zu den 1990er Jahren zeigen aktuellere Umfragen nicht nur ein deutlich gewachsenes Selbstbewusstsein, sondern auch eine verstärkte Wahrnehmung, anderen Staaten gegenüber "Gutes" zu tun. Auch dies ist sicherheitspolitisch nicht folgenlos.

Folgerungen für die Strategie

Bilanziert man alle diese Rahmenbedingungen, so kann man von einer prekären, insgesamt aber keineswegs widrigen Lage sprechen. Die Lage ist prekär, weil sich sowohl das globale wie auch das innereuropäische Umfeld durch eine beträchtliche Fluidität auszeichnen. Im globalen Kontext betrifft dies vor allem die Stärke der auf- und absteigenden Mächte und die damit einhergehenden Implikationen für die globale Ordnung, ihre Institutionen und die sich um die Reform dieser Institutionen rankenden, potenziell konkurrierenden Ordnungsvorstellungen. Im europäischen Kontext äußert sich diese Fluidität in den Unwägbarkeiten der gegenwärtigen Krise, den Machtverschiebungen im institutionellen Gefüge der EU und den damit einhergehenden Wahrnehmungen von Machtverschiebungen im zwischenstaatlichen Bereich.

Prekär ist die Lage für Deutschland, zweitens, weil sowohl im globalen wie auch innereuropäischen Kontext die Anforderungen an deutsche "Führung" beträchtlich gewachsen sind, die konkret erwarteten Führungsleistungen aber nicht nur unter den Fordernden divergieren, sondern auch in Deutschland Unklarheit besteht, wie deutsche "Führung" als Teil einer umfassenden außenpolitischen Strategie zu gestalten ist.

Prekär ist die Lage schließlich, weil Deutschland zur Realisierung seiner Ziele sowohl im globalen wie auch im innereuropäischen Rahmen auf die Kooperation beziehungsweise Folgebereitschaft anderer angewiesen bleibt, diese aber (wie der Blick auf Frankreich zeigt) in dem Maße schwieriger als früher zu mobilisieren ist, wie sie als Statusminderung gegenüber einem hegemonialen Deutschland wahrgenommen wird.

Prekär ist allerdings nicht mit widrig gleichzusetzen. In einer längeren historischen Perspektive verfügt das heutige Deutschland nämlich über ein ungekanntes Maß an Sicherheit. Zudem erscheint die globale Konstellation (insbesondere hinsichtlich der Großmächte) auf absehbare Zeit nicht besonders kriegsträchtig, da alle Großmächte einem zunehmenden "Primat der Wirtschaftsinteressen" folgen. Gewiss, die Anwendung militärischer Gewalt ist nach wie vor ein Bestandteil der internationalen Politik. Aber selbst im Falle des derzeit vielleicht bedrohlichsten Konflikts (Iran) sind globale Weiterungen selbst im Falle einer militärischen Zuspitzung eher unwahrscheinlich.

Aus keinem dieser Eskalationsszenarien ergibt sich derzeit eine plausible Bedrohungskonstellation, die mit der Lage der Bundesrepublik während des Ost-West-Konflikts vergleichbar wäre. Und selbst wenn der Konflikt eskalieren würde, könnte Deutschland dem nicht nur aufgrund einer gefestigten Machtposition viel eigenständiger begegnen als früher, sondern es wüsste sich auch nach wie vor eingebettet in einen verlässlichen sicherheitspolitischen Kooperationszusammenhang mit seinen europäischen und atlantischen Partnern.

Kurzum: Jene Güter und Werte, die im traditionellen militärischen Verständnis für schützenswert und sicherungsfähig erachtet werden, sind heute in einem Maße gesichert, wie sie es selten zuvor in der deutschen Geschichte waren. In dem Maße, in dem der Bestand von Werthaftem allerdings von europäischen Entwicklungen abhängig ist, sind in den vergangenen Jahren frühere Gewissheiten über die Stabilität der EU erschüttert und ungekannte Bedrohungen schützenswerter Güter in den Horizont des Möglichen gerückt worden.

Vor diesem Hintergrund weisen die erkennbaren Elemente der im Entstehen begriffenen sicherheitspolitischen Neuausrichtung Deutschlands durchaus offensive, auf die Erfüllung bestimmter Führungserwartungen ausgerichtete Merkmale auf, die mit dem euphemistischen Vokabular einer "Gestaltungsmacht" eher verdeckt werden. Wo zu Bonner Zeiten die Bereitschaft zum Souveränitätsverzicht sowohl als Voraussetzung für die Reintegration in die Staatengemeinschaft als auch als Vehikel zur Erlangung von Mitsprache nicht nur passiv hingenommen, sondern aktiv angestrebt wurde, zeichnete sich die Berliner Neuausrichtung schon vor der Eurokrise zunehmend dadurch aus, dass von den EU-Partnern (gleichsam als Preis für den Verzicht auf die volle Ausschöpfung des deutschen Souveränitätsgewinns infolge der Vereinigung) sowohl eine "Mit-Führungsrolle" wie auch die damit einhergehende Folgebereitschaft eingefordert wurde.

Dass das "Mit-" in heutigen (Selbst-)Beschreibungen zunehmend verzichtbar erscheint, reflektiert die geschärfte "selbstbewusste" Neupositionierung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik recht treffend. Es zeigt auch, wie radikal sich die sicherheitspolitische Lage Deutschlands gewandelt hat. Umso wichtiger wird es zukünftig werden, Sicherheitspolitik nicht nur in dem Sinne reflexiv zu betreiben, dass die nicht intendierten Folgen eigenen Handelns in Rechnung gestellt werden, sondern auch dahin gehend, dass ein sichereres Deutschland, das in immer neuen Bereichen bestimmenden Einfluss erlangt oder reklamiert, für seine Partner zu einem Problem ihrer Sicherheit werden und dadurch am Ende selbst zu den Sicherheitsverlierern zählen könnte.

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Dr. phil., geb. 1960; Professor für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Grüneburgplatz 1, 60323 Frankfurt/M. E-Mail Link: g.hellmann@soz.uni-frankfurt.de